Neue Medienöffentlichkeiten?

Öffentliche Orte der Begegnung

Was bleibt von Öffentlichkeit in einer Zeit, in der der öffentliche Raum zeitweise stillgelegt ist? Gibt es ein Exil im Netz bzw. einen Schub in der Entwicklung von Formaten? Welche  Impulse gehen davon aus? Öffentlichkeit soll als der Ort verstanden werden, an dem gesellschaftlicher Austausch, Konsens, eine öffentliche Meinung heranwächst bzw. ausgehandelt wird. Medien- öffentlichkeit kann ein Raum der Begegnung sein, der zwischen Lebenswelten und Erfahrungszusammenhängen synchronisiert*. Einige Überlegungen und Beobachtungen  zusammengetragen ….

Öffentliche Orte halten  Gesellschaften  zusammen. Zunächst die physischen Orte der Öffentlichkeit: Plätze, Märkte, Boulevards, Messen, Bibliotheken, Theater und andere Spielstätten, Clubs, Bars, Cafés u.s.f.  Es sind Orte der Begegnung und der Vermischung. Auf Märkten und Messen werden Waren und Geschäfte ausgehandelt; auch dort, wo nicht gehandelt wird, wird ausgehandelt – zwar nicht materiell, aber das, was sagbar, vertretbar und vorzeigbar ist, Ansichten und Haltungen, Stil und Geschmack.
Medien erweitern Öffentlichkeit über das physisch erreichbare hinaus. Spätestens mit den Zeitschriften der Aufklärung im 18. Jh. konstituierte sich eine nicht ortsgebundene Öffentlichkeit und es begann sich eine öffentliche Meinung herauszubilden.

Massenmedien sichern eine synchronisierte Vorstellung der Realität. Bild: Mike Philippe. unsplash.com

Medienöffentlichkeit bedeutete lange Zeit die Öffentlichkeit der Massenmedien: Presse, TV, Radio; Online- Medien werden nur bedingt dazugezählt. Hervorzuheben ist die Zentralität von Massenmedien, professionalisierte Macher von Medien (Sender) stehen einem medienkonsumierenden Publikum (Empfänger) gegenüber. Das Berufsbild des Journalismus hat sich daran herausgebildet. Wesentlicher Effekt ist eine synchronisierte  Realitätsannahme – Massenmedien sorgen dafür, dass die Vorstellungen von der Realität nicht allzu stark voneinander abweichen, ein grundsätzliches Vertrauen in sie vorausgesetzt. Es sind die Quellen, die herangezogen werden, um eine unsichere Nachricht zu prüfen. Was in den Medien gemeldet wurde, entsprach auch weitgehend der öffentlichen Meinung.
Zugang und mehr noch Kontrolle der Sender wurde zu einer zentralen Machtbasis. In demokratisch kontrollierten Gesellschaften nannten sich Massenmedien gern die Vierte Gewalt, auch wenn sie oft primär wirtschaftlichen Interessen folgten.
Digitale Medienöffentlichkeiten haben das System Massenmedien aufgebrochen. Zwar hat es immer alternative Medienöffentlichkeiten (der Begriff wurde erst in den letzten Jahren einschlägig gekapert und umgedeutet) gegeben, sie verstanden sich meist sub- bzw. gegenkulturell – Einfluss auf die Gesamtgesellschaft nahmen sie erst in einem langfristigen Wandel.

Die frühe Netzöffentlichkeit  der Jahrtausendwende und einiger Jahre danach, später Web 2.0 genannt, verstand sich oft als Bewegung, als eine Netzkultur.  Noch Mitte der 10er Jahre sprach man von einer Netzgemeinschaft (s. New Media Culture, 2015). Damit verbunden waren Erwartungen einer partizipatorischen Kultur und ein gewisses Mass an gesellschaftlicher Utopie, das Energien freisetzt. Heute kann man kaum mehr von einer speziellen Netzkultur bzw. -öffentlichkeit sprechen, höchstens von einer Szene neben anderen.
Seit Jahren wird das Netz von Informationsintermediären dominiert, v.a. den GAFAM**-Konzernen, Zuträgern personalisierter  Informationen und Meinungen, Inhalte und Angebote. Eine Entwicklung, die schon genauso lange kritisiert wird, bis hin zum Überwachungskapitalismus. In diesen algorithmisch figurierten, personalisierten Medienöffentlichkeiten konkurrieren private Kommunikation, redaktionelle Medien, Angebote der Unterhaltungswirtschaft und Werbung um Aufmerksamkeit.

Zoom: Grundversorgung im Lockdown; Bild: Chris Montgomery, unsplash.com

Kann man die Corona- Krise, zumal in der nun länger dauernden Phase, als ein grosses Experiment verstehen, in dem Öffentlichkeit neu erlebt wird? Ohne die Substitution von Funktionen wäre ein Lockdown, der die weitgehende Schliessung der physischen Öffentlichkeit bedeutet, gar nicht möglich gewesen, geschweige denn zu ertragen.
Wo gelingt die Substitution physischer Öffentlichkeit – und wo fühlt sie sich an als Ersatz? Was bleibt davon?  Zwar gibt es manchmal Überdruss (Zoom fatigue),  doch sind Videocall, Online-Konferenzen und -Diskussionen Neues Normal. Tatsächlich erreichen viele Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mehr Publikum als offline. Die Formate werden bleiben, die letztlich weniger  Aufwand benötigen, als im substituierten Original für Mehrnutzen eingesetzt werden muss. Meist ist es der Wegeaufwand, der eingespart werden kann. Mit vielen Formaten wird experimentiert, die Umsetzungen reichen von sinnvoller Ergänzung zu Notlösung. Messen z.B. scheinen kaum sinnvoll ersetzt werden zu können.
Home Office klingt immer noch nach Notlösung, dabei ermöglicht bereits die gängige technische Ausstattung in vieler Hinsicht ortsunabhängige Arbeit – remote work mit all  seinen  Möglichkeiten.

Einen Hype wie den Start von Clubhouse gab es im Social Web schon lange nicht mehr. Clubhouse kommt gefühlt einer physischen Öffentlichkeit näher als alle bisherigen Social Media Formate. Es wird verglichen mit Barcamps, der re:publica, mit Thementischen und Cafés, wo man sich an den Tisch dazu setzen kann, mit Late- Night Talks und Partygesprächen. Gesprochene Sprache ist die selbstverständlichste Form menschlicher Kommunikation, sie ist definitiv O-Ton und verbürgt Authentizität. Nichts weiter lenkt davon ab, dazu Klarnamen und ein minimalistisches Interface. Themen/Sessions in den Rooms werden angekündigt und nach linearem Programmschema meist zu voller Stunde belegt. Gelegentlich wird aufgezeichnet (etwa für einen Podcast), ansonsten Netzkommunikation ohne Konservierungsmittel.
Der Zeitpunkt hätte nicht passender sein können:  Mitten im Lockdown, im grauesten Januar ohne abendliche Ablenkungen, öffnet sich direkt aus dem Wohnzimmer ein Fenster in eine Öffentlichkeit, die vermisst wird. Mit der Corona- Krise und v.a. ihrer persönlichen Bewältigung gibt es ein übergreifendes Thema, das jeden trifft. Potentiell und oft auch tatsächlich ein Ort des Austauschs und der Meinungsfindung.
Sicher sind im Clubhouse verstärkt diejenigen vertreten, die sowieso “was mit Medien” machen bzw. in öffentlicher Kommunikation aktiv sind: Journalisten, Politiker, Comedians, Social Media Aktivisten und all jene, die mit Unternehmenskommunikation ihr Geld verdienen. Ganz sicher verfolgen etliche Teilnehmer eine Agenda, jede Plattform wird auf ihre Potentiale für Marketing und Unternehmenskommunikation abgeklopft. Die längerfristige Entwicklung hängt wohl von Monetarisierungsmodellen ab.

Wenn es um die Frage gesellschaftlichen Zusammenhalts geht, wird häufig die Fragmentierungsthese herangezogen. Kurz zusammengefasst besagt sie, dass mit der zunehmenden Zersplitterung der Medienangebote und des Nutzerverhaltens  Synchronisierung von Information und einer öffentlichen Meinung verloren geht. Schlimmstenfalls existieren kaum verbundene Medienöffentlichkeiten nebeneinander her. Politische Lager bzw. kulturelle Milieus, “Parallelgesellschaften”  können sich dadurch entfremden.
Common Meeting Ground“ meint den Raum, den ein (demokratisch funktionierendes) Gemeinwesen braucht, um zu erkennen, welche Themen, welche Lösungsansätze, welche Ansprüche etc. wichtig sind, in einen übergreifenden Diskurs gehören und verhandelt werden müssen.  Bleibt man beim Begriff der Synchronisation verschiebt sich deren Ort von einer zentralen Instanz, wie den institutionalisierten Massenmedien in den noch näher zu definierenden Meeting Ground.
Verwendet man den Begriff der Öffentlichen Meinung mit seiner langen Geschichte, gab es immer wieder Medienöffentlichkeiten, in denen sich eine solche herausbildete – begonnen mit dem Beispiel des gebildeten Bürgertums der Aufklärung, das eine Öffentliche Meinung gegenüber einem monarchischen Staat und v.a. einer übermächtigen Religion ins Spiel brachte. Auch später, bis hin zu Gremien wie Ethikräten etc. war es immer wieder eine Bildungselite, die eine Öffentliche Meinung definierte.

Derzeit – mit den Erfahrungen von Lockdown, Corona- Krise und deren sehr unterschiedlich zu tragenden Auswirkungen – gibt es einen kaum zu unterschätzenden Bedarf an Common Meeting Ground, an gesellschaftlicher Abstimmung über das, was als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf (Imhof, 2008), verbunden mit weiteren Debatten zur Zukunftsgestaltung: “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”. Und: “Der größte integrative Faktor einer Demokratie ist eine gemeinsame Zukunftsvorstellung.”  (Harald Welzer, s.u.)

Ganz nebenher fällt auf, dass die plurizentrische Öffentlichkeit besser mit dem Modell der Figurationen  zu verstehen ist – die Öffentlichkeit der zentrierten Massenmedien besser mit den Begriffen der Systemtheorie.

 

* vgl.: Christian Schwarzenegger: Medienöffentlichkeit als Raum der Begegnung, Heinrich Böll Stiftung, Juni 2019, 25 S.;   Felix Stalder Kultur der Digitalität. 2016 ,  Stefan Geiß / Melanie Magin / Birgit Stark / Pascal Jürgens:Common Meeting Ground” in Gefahr? Selektionslogiken politischer Informationsquellen und ihr Einfluss auf die Fragmentierung individueller Themenhorizonte (2018); Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89).: Videocalls mit Gunnar Sohn (ichsagmal.com),  Thomas Riedel (Future Future ) und Johannes Meier (journalistic pioneers); Harald Welzer: “Wie sieht eine nachhaltige, moderne Gesellschaft aus?” (ab 27. Min.) ZUKUNFTSFRAGEN – Konferenz zur Nachhaltigkeit| 24.11.2020.**GAFAM= Google-Apple-Facebook-Amazon-Microsoft



Buzzword Zukunft?

Verkörpern diese Sneakers die Zukunft? Jedenfalls spricht man überall davon – Bild: @marcosrivas/ unsplash.com

Soviel wie gerade jetzt wurde selten von der Zukunft gesprochen – die Corona- Krise hat das Thema nach oben gedrückt. Es ist weniger eine Debatte, in der Standpunkte gegenüberstehen, als eine Vielzahl von Bestandsaufnahmen, die Unsicherheit von Einschätzungen, die Suche nach einer Haltung –  und steht ein Begriff erst einmal im Mittelpunkt, dann kommt auch kaum ein PR- geleiteter Text mehr ohne ihn aus.
Je länger und ernsthafter die Corona- Pandemie währt, desto mehr dringt ein Gefühl der Verwundbarkeit unserer Zivilisation ins Bewusstsein. Ihre Weiterentwicklung ist abhängig von unserem Handeln. Geht es bei einem Neuen Normal um Krisenmanagement als vorläufigem Ziel, geht das, was unter Zukunftsfragen etc. diskutiert wird, darüber hinaus. Darunter bündeln sich Transformationsdiskurse zu Digitalisierung und  zu Nachhaltigkeit und zu disruptiven Innovationen; die rhetorische Frage “Wie wollen wir leben” taucht immer wieder als Motto auf (so als Themenwoche der ARD, Titel der brandeins, Einleitung zum Kongress “Zukunft für alle”). Es gibt dystopische Ausblicke auf Folgen des Klimawandels und viel ernsthaftere Pandemien (vgl. Interview Mike Davis), es gibt Ermutigungen zu einem Neuen Wirtschaftswunder, Appelle an Gemeinsinn. Und ganz sicher gibt es Consultingangebote.

Die Vorstellung von Zukunft ist oft mit einer Fortschrittserzählung verbunden – des technischen und des gesellschaftlichen und deren wirtschaftlicher Umsetzung. Innovation ist in dieser Erzählung ein Wert an sich.
Betrachtet man das Heute als die Zukunft von gestern, etwa aus der Perspektive der Jahrtausendwende, dann ist die Corona- Krise – zumindest hierzulande – die erste umfassende Unterbrechung dieser lange Zeit – trotz aller Disruptionen – kontinuierlichen Erzählung. Die beiden Dekaden waren geprägt von einem technischen Wandel, der Verbreitung digitaler Techniken, deren kultureller Umsetzung und wirtschaftlicher Nutzung bzw. Ausbeutung (je nach Sichtweise) – Digitaler Transformation. Bis jetzt trifft wahrscheinlich die Bezeichnung Spurtreue Beschleunigung (vgl. D2030) am besten zu.
Gibt dabei Technik oder Gesellschaft den Takt an? Der technische Wandel war schnell und wurde v.a. im Wandel der Medien, in der Folge der Konstruktion neuer Öffentlichkeiten markant erlebt. Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft, analog den Begriffen Psycho- und Soziogenese. Unsere Zivilisation entwickelt sich mit der Technik und ihrer gesellschaftlichen Einbindung.

Zukunft hat eine lange Geschichte (dank an Thomas Riedel für den Hinweis)

Vorstellungen und Voraussagen von Zukunft unterliegen genauso gesellschaftlichen Wandlungsprozessen (bzw. Transformationen) wie andere kulturelle  Merkmale. Die sehr materialreiche Geschichte der Zukunft von Georges Minois, französischer Historiker, mit Schwerpunkt Mentalitätsgeschichte, (1996, dt. 1998, mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlich; 830 S.) handelt vom langfristigen Wandel der kulturellen Muster, Einstellungen, den Methoden zur Voraussicht auf Zukunft, ihrer Soziogenese.
Oft war die Geschichte der Voraussagen eine Geschichte der Irrtümer und Enttäuschungen. Einige grundsätzliche Aussagen (19), die für heute wie für längst vergangene Zeiten gelten, lassen sich hervorheben: Voraussagen heisst auch versuchen, die Zukunft zu beherrschen, die Ereignisse festzulegen, bevor sie eintreten, ebenso Die beste Voraussage ist oft die, die es erlaubt, Massnahmen zu ergreifen, um die vorhergesehene Katastrophe zu verhindern  – was dem in der Corona- Krise oft zitierten Präventionsparadox entspricht. Weiter: Was zählt ist nicht, dass das Vorhergesehene eintritt, sondern dass diese Vorhersage hilft, erleichtert, beruhigt und zum Handeln anregt.
Minois unterscheidet fünf historische Epochen:  Das Zeitalter der Orakel, das der Prophezeiungen, das der Astrologie, das der Utopien und schliesslich der wissenschaftlichen Vorhersagen. Orakel, Prophezeiungen und Astrologie haben heute höchstens metaphorischen und unterhaltenden Wert. Zeitlich endet das Buch bei der (in den 90er Jahren populären) These von Francis Fukuyama zum Ende der Geschichte.  Minois schliesst mit der Feststellung  Das Neue besteht darin,  dass man an die globalen und langfristigen Vorhersagen nicht mehr glaubt ab. Kurzfristig sind hingegen Voraussagen in datenbasierten Wissenschaften wie der Meteorologie, Ökonomie und anderen  sehr effizient geworden.
Die klassischen Utopien gelten als längst entzaubert. Man sollte aber unterscheiden zwischen den grossen, literarischen und ideologischen Entwürfen (in sich geschlossene Systeme) und einem utopischen Denken, ohne das kein Aufbruch denkbar ist: Ohne die Fantasie und die Energie, die utopisches Denken freisetzt, hätte das Netz wie wir es kennen, sich wahrscheinlich nie entwickelt (vgl. T. Thiel, 2014). Und diese  Perspektive gilt auch für die weitere Entwicklung.

Bereits vor Corona war die Fortschrittserzählung des wirtschaftlichen Liberalismus und seine Problemlösungsfähigkeit ermüdet – vgl. dazu A. Reckwitz – Das Ende der Illusionen.
Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Grundsätzliches Dilemma ist, dass die Gesellschaften, die ihren Mitgliedern die grösste Lebenssicherheit, Freiheitsrechte und Wohlstand – ein gutes Leben – ermöglichen,  eine negative ökologische Bilanz haben. Failed States, die ärmsten Länder der Welt, belasten die Umwelt weniger. Der begrenzte Lebensraum Erde ist bis in die letzten Winkel durch menschliche Bewirtschaftung und ihre Folgen geprägt.

Was kann an die Stelle der vergangenen Fortschrittserzählung, die sich am messbaren Wachstum misst treten? Auf den Punkt bringt es Harald Welzer*in einem Beitrag der (Webvideo-) Konferenz Zukunftsfragen (24.11.): “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”. Und: “Der größte integrative Faktor einer Demokratie ist eine gemeinsame Zukunftsvorstellung.” Die übergreifende Vorstellung von Zukunft als gesellschaftliches Band.
Direkt an die aktuellen Zukunftsfragen schliessen die Diskussionen zur  KI, der maschinellen Ausführung automatisierter Entscheidungen an – eine der ganz grossen Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft an.

Und in Zukunft: Der Podcast von Thomas Riedel. www.futurefuture.de

Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen. Utopien. Prognosen,  Orig. 1996; dt. 1998, 830 S. ; *Harald Welzer: “Wie sieht eine nachhaltige, moderne Gesellschaft aus?” (ab 27. Min.) ZUKUNFTSFRAGEN – Konferenz zur Nachhaltigkeit| 24.11.2020.  ScMI AG – Post-Corona-Szenarien: Gesellschaft , Wirtschaft und Politik nach der Corona-Krise Michael Schütz: Psychologische Zukunfts-Szenarien. 18. September 2020 / Innovation, Trendforschung. Thorsten Thiel: Die Schönheit der Chance: Utopien und das Internet. . In: Juridikum : Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft 15 (2014), 4, pp. 459-471.  Konzeptwerk Neue Ökonomie: Zukunft für alle. Eine Vision für 2048. Sept. 2020. «Covid-19 ist erst der Anfang» – Interview mit Mike Davis auf republik.ch 23.12.2020. 



Soziologie zur Digitalisierung und das was folgt …

Der Zettelkasten – Legende Luhmann

Welche Rolle spielen soziologische Ansätze und Theorien, wie einflussreich sind sie ausserhalb eines wissenschaftlichen Kontextes, welche Deutungsmacht kommt ihnen zu? Spätestens mit Corona haben sich Diskussionen verschoben. Gesellschaftliche Interaktions- und wirtschaftliche Wertschöpfungsketten wurden unterbrochen. Die Zukunft erscheint nicht mehr allein als Fortsetzung der Gegenwart – und steht damit offener zur Debatte als vordem.  Digitalisierung hat neue Infrastrukturen geschaffen, schreitet weiter voran, ist aber nicht mehr allein vorrangiges Thema. Ein kleiner Überblick, der sich aus (meinen) Themen der letzen Jahre ergibt:

Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist wohl eines der einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Theoriegebäude überhaupt.  Sehr verkürzt: Funktionale Differenzierung der Gesellschaft in einzelne soziale Subsysteme (autopoietische Systeme). Moderne Gesellschaften sind  in operativ geschlossene Funktionssysteme differenziert,  die jeweils nach ganz eigenen Logiken funktionieren (Kühl, 2015).
Luhmann verstand Systemtheorie als Möglichkeit die Struktur sämtlicher Bereiche der Gesellschaft offen zu legen, ohne normativ zu sein: Recht, Liebe, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Bildung, Religion etc. Es geht darum, wie sich in den komplexen Gesellschaften der Moderne Ordnungen erklären lassen.  Zur Legende wurde Luhmanns Werkzeug, der Zettelkasten, eine Art Zweitgedächtnis, in dem er Notizen so ablegte, dass die aufgezeichneten Gedanken neue Sinnzusammenhänge hervorbrachten.
Systemisches Management, systemische Beratung, systemisches Coaching –  im ausserwissenschaftlichen Umfeld sind Bezüge zur Systemtheorie immer wieder präsent. Soziologische Systemtheorie wird als Leittheorie von Prozessberatern bezeichnet, Begriffe wie Störung, Katastrophe (eines Systems) kamen in diesem Sinne in Umlauf. In einem sehr lesenswerten Text zeigt der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl (2015) die unkontrollierte Ausdehnung, Popularisierung bis Trivialisierung der Systemtheorie – die oft zu einem Instrument der Kompetenzdarstellung gerät. Was  als systemisches Management, Beratung, Coaching angeboten wird, ist nur lose an die Systemtheorie  gekoppelt (Kühl, 2015).

In den Digitalisierungsdebatten der vergangenen Jahre stehen Dirk Baecker und Armin Nassehi mit den Veröffentlichungen 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt und Muster – \\\Theorie/// der digitalen Gesellschaft im Rahmen der Systemtheorie.
Baecker teilt die Geschichte in Epochen, von der tribalen Gesellschaft über die Antike und die Moderne zur nächsten Gesellschaft. Auslöser von Epochenwechseln ist jeweils eine Innovation von Verbreitungsmedien –  so begann die Antike mit der Schrift, die Moderne mit dem Buchdruck, die nächste Gesellschaft mit den digitalen Medien.  Innerhalb der Epochen werden die Spielräume der einzelnen Teilsysteme beschrieben. Merken sollte man sich den Sinnüberschuss, der jeweils mit neuen Medien/Techniken einhergeht. Die Lücke, die der Rechner lässt (im Titel) ist schliesslich das Mass an Gestaltbarkeit, das bleibt.
Armin Nassehi verfolgt einen funktionalistischen Ansatz, setzt weder Problem noch Lösung als gegeben voraus, stellt einige rhetorische Fragen an den Anfang: Für welches Problem ist Digitalisierung die Lösung? Dazu die,  warum Techniken sich nur dann durchsetzen können, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen. Digitalisierung sei die Lösung für ein Problem, das sich in modernen Gesellschaften seit jeher stellt: Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch wir selbst mit unsichtbaren Mustern um? Es finden sich viele erhellende Einzelheiten, ob man das Buch als allgemeingültige Theorie der digitalen Gesellschaft annimmt, muss man selber entscheiden.
Beide Bücher vermitteln, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, das Gefühl, eine unsichtbare Hand, eine Macht der strukturellen Muster ordne. Es geht oft mehr um eine gedachte, als die reale Gesellschaft, in der wir leben.

Kultur der Digitalität (Felix Stalder) meint die von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägte Lebens- und Arbeitswelt. Digitalität ist das Muster, die Ordnung, die diese Prozesse angenommen haben. Sie ist keine einseitige Folge technischer Innovationen, die neuen Technologien trafen auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. 

Mit Digitalisierung hat das Werk von Norbert Elias (1897-1990) überhaupt nichts zu tun – es geht um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese. Neuerdings stösst man anderswo auch auf Technogenese, gemeint ist eine Co-Evolution von Technik und Gesellschaft. Es ist diese Ausrichtung auf die Evolution des Habitus verbunden mit der Struktur von Gesellschaft, die Elias’ Perspektive dauerhaft interessant macht. Stützte sich Elias u.a. auf Tischsitten und andere aufgezeichnete Verhaltensregeln, um solche Wandlungsprozesse zu beschreiben, sind es heute wohl die Popularkulturen, nicht nur Musik und Mode, genauso das Essen, Reisen, Konsumpräferenzen, Haltungen etc. an denen diese Wandlungsprozesse deutlich gemacht werden können.

Die aktuell wohl umfassendsten Gesellschaftsanalysen zu den letzten Dekaden stammen von Andreas Reckwitz, mit der ausdrücklichen Absicht für politische Überlegungen anschlussfähig zu sein (Die Zeit, 12. 08. 2020). Es geht nicht allein um Digitalisierung, sondern um ein Gesamtpanorama der Transformation von einer industriellen zu einer postindustriellen Ökonomie mit all seinen Ursachen und Folgen. Wie so viele soziologische Texte sind die von Reckwitz oft etwas sperrig zu lesen, aber anschlussfähig an andere Autoren. Eine Kernthese ist das Ende des einige Jahrzehnte währenden “Dynamisierungsliberalismus“. Nicht nur Digitalisierung (und jetzt Corona) hat die letzten Jahrzehnte geprägt, ebenso Globalisierung, eine Bildungsexpansion hat stattgefunden, Macht und Bedeutung stabilisierender Organisationen ist geschwunden und in diesen Prozessen gibt es Gewinner und Verlierer.

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung – mit diesem Satz  leitet Hartmut Rosa Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung ein. Durch das ganze Buch zieht sich eine grundsätzliche Kulturkritik, die sich an ein gestörtes Weltverhältnis richtet, dabei steht der digitale Raum oft in besonderer Kritik. Auch der lange Zeit kaum gebrauchte Begriff Entfremdung ist als Verstummung von Weltbeziehungen bei Rosa ein Merkmal unserer Moderne. Wege zu einer besseren Welt werden mit Resonanzachsen  beschrieben werden
Begriff und Konzept der Resonanz selber sind plausibel und verständlich. Die Bedeutung eines Ja oder Nein von Resonanz, ihr Gewicht von simpler Aufmerksamkeit bis zum Auslöser von Neuem ist den meisten Menschen mehr und mehr bewusst, ganz besonders in den Digitalen Medien. Aber ganz so hat es der Autor wohl nicht gemeint.

Stefan Kühl: Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis. Von der Gefahr des systemischen Ansatzes sich in Beliebigkeit zu verlieren (2015). David B. Clear: Zettelkasten — Wie ein Deutscher Gelehrter so unglaublich produktiv war (2020).  Vgl. Rezensionen auf diesem Blog:  Armin Nassehi: Muster – \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft; Dirk Baecker: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt; Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten & Das Ende der Illusionen . Interview in der Zeit, 12.08.20  Felix Stalder: Kultur der Digitalität; Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung.  Interview in der Badischen Zeitung 22.09.20



Singulärer- vs Massenkonsum/ Experience Economy

Aldi in der Markthalle Neun

In der Markthalle Neun in Berlin – Kreuzberg gibt es das passende Bild: Mittendrin im foodporn der Markthalle steht eine ALDI Filiale, eingekapselt im Container.  Markthalle Neun ist ein geradezu iconisches Projekt der neuen Esskultur – mit allem was dazugehört: CraftBeer, Vin Naturel, die Metzgerei Kumpel & Keule, Patisserie fine, Pizza & Focaccia, Ethno-Food aus Peru, Marokko, eine Maultaschenmanufaktur – kaum irgendwo passt der Spruch vom Essen als dem Neuen Pop besser als hier. Sicherlich deutlich teurer als beim Discounter, ein 1 1/2  Pfund Brotlaib zu 5 € ist kaum noch Grundnahrungsmittel. Verglichen mit echten Luxusmeilen bleiben die Preise aber moderat.
Wahrscheinlich überschneiden sich beide Kundenkreise viel mehr, als es zunächst erscheint – auch Hipster kaufen beim Discounter ein.
Sichtbar wird die Trennlinie zwischen zwei Konsummustern: Beim Discounter  preisoptimiert bis ins letzte Detail, von den Lieferketten bis zur Ablage im Regal. In die Markthalle geht man – insbesondere an den Streetfood– Abenden – wie in einen Club. Ein Konzept, das Handel und Gastronomie verbindet. Bei allen Lebensmitteln die grösstmögliche Auswahl – in der Saison zehn Sorten Kartoffeln oder Tomaten. Handwerklich produzierter Käse, Wein und Bier, Öl und Essig, Brot und Pasta in allen Varianten.

Singulärer Konsum?

Der Unterschied zwischen singulärem–  und Massenkonsum zeigt sich bei Lebensmitteln besonders deutlich. In der Fläche verschwinden die handwerklichen Bäckereien und Metzgereien, die noch vor ein, zwei Jahrzehnten zur Grundversorgung gehörten. Stattdessen breiten sich Backstationen und Grillfleisch aus Massentierhaltung in der Kühltheke  aus – industriell vorgefertigt bzw. im industriellen Maßstab erzeugt.  Handwerklich erzeugte Lebens- und Genussmittel bedeuten (meist) höhere Qualität. Wissen darüber ist oft Angelpunkt von Kommunikation, nicht zuletzt bildeten sich um Kaffee, Schokolade, Craftbeer frühe online- Communities.

Begrifflichkeiten zu Singularitäten stammen von Andreas Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten –  die Ausführungen im Buch sind anschlussfähig an Themen und Diskussionen, die zu Konsum und Marketing einer  Experience Economy  geführt werden.
Die spätmoderne Ökonomie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. (Reckwitz, 2017, S. 7)

Was für den Lebensmittelmarkt gilt, findet man ebenso in anderen Märkten. Massengüter werden über Baumärkte, Textilketten, Möbelhäuser etc. – online und offline  verkauft – alle diese Märkte sind hochkonzentriert mit nur wenigen Akteuren.  Traditionelle Fachgeschäfte in den Innenstädten und Kaufhäuser verschwinden hingegen immer mehr.
Singularisierter Konsum bedeutet kulturell valorisierten Konsum. Dahinter findet sich der Wunsch nach Authentizität, sicherlich ein Bedarf an Distinktion, im weiteren spielen Kriterien der Nachhaltigkeit eine wachsende Rolle. Das bedeutet u.a. die Nachvollziehbarkeit von Produktions- und Lieferketten, z.B. in der Textilproduktion vom Anbau der Baumwolle über alle Verarbeitungsschritte von Garnen und Stoffen zu Labeling und Verkauf.
Kulturell valorisierter Konsum kann Formen von Vergemeinschaftung bedeuten, flüssige Vergemeinschaftungen = Tribes, die auf gemeinsamer Ästhetik bzw. Überschneidungen im Lebensstil beruhen. Als Fans begehrter bis bewunderter Güter (das gelang Apple lange Zeit),  oder in einer Form, in der Erzeuger, Handel und Konsumenten so sehr miteinander vernetzt sind, dass sie sich als Gemeinschaft bzw. Community verstehen.

Infrastrukturen des Besonderen

Massenproduktion standardisierter Produkte entspricht der Technologie der industriellen Moderne.  Je grösser die Produktion, desto niedriger die Stückkosten. Wachstum und Wohlstand beruhten lange Zeit darauf, die  gesamte Gesellschaft mit diesen Gütern auszustatten.
Die digitalen Technologien der Spätmoderne bringen ganz neue Möglichkeiten der Produktion und der  Bereitstellung von Dienstleistungen mit sich. Reckwitz schreibt von „Infrastrukturen des Besonderen“, gemeint sind die Möglichkeiten Einzigartigkeit sichtbar zu machen und sie automatisiert zu fabrizieren (2017; S. 73).
Datengetriebene Geschäftsmodelle beruhen auf diesen Möglichkeiten automatisierter Personalisierung. Und ganz sicher ist die Möglichkeit, Güter und Dienstleistungen personalisiert in Serien bereitzustellen, eine der entscheidenden Grundlagen digitaler Ökonomie. KI braucht dafür die Daten, möglichst viele.
Zumindest weitgehend, überschneidet sich dies mit dem Ansatz der Experience Economy bzw. Erlebnisökonomie, in der es im Wettbewerb um Aufmerksamkeit vorrangig darum geht, Erfahrungen zu inszenieren, reibungslose Erlebnisse zu vermitteln.  Kunden sollen in den entscheidenden Mikro-Momenten datengesteuert mit relevanten, personalisierten Inhalten angesprochen werden (vgl. WuV 13.05.20).
Experience Economy hat einen Beigeschmack – den eines tendenziell übergriffigen Marketing. So heisst es gleich zu Beginn des Standardwerks  if you get customers to spend more time with your business then they will spend more money on your offerings. Ein Satz wie Work is theatre and every business a stage – mag wohl oft genug zutreffen,  eine solche Haltung widerspricht sich aber mit Erwartungen an Authentizität.
Salopp gesagt eine Trigger- Ökonomie, in der Unternehmen sich als Vermittler von Erlebnissen einrichten. Das kann oft gelingen, etwa bei Sportartikelherstellern, im Tourismus. Allerdings wollen wohl die meisten Menschen ihre Erlebnisse und Erfahrungen selber machen – sie wollen zuverlässige, gute und authentische Produkte, aber nicht in einem Erlebnispark mit begehbaren Marketingkonzepten leben. Wer selber kocht, will gute Lebensmittel und Küchenwerkzeuge – aber wohl keine Vermittlung von Convenience Produkten.

Online und Offline ist keine Trennlinie zwischen den Konsummustern – es werden alle auf beiden Wegen vermarktet. Dass Erlebnisse entscheidend sind, keine Frage. Auch Wochenmärkte mit vielfältigen Angeboten sind urbane Attraktionen. Ursprungsmuster stammen von der sog. Creative Economy:   „Für die Güter der creative economy gilt, dass sich das klassische ökonomische Dreieck von Produzent, Produkt und Konsument nun in jene Trias von Autor, Werk und Rezipient/Publikum verwandelt hat, wie man sie aus dem Feld der Künste kennt” (Reckwitz., 117).

P.S.: Das Bild in der Markthalle entstand im Herbst 2019 – damals stand ein Pächterwechsel zu dm- Markt in der Diskussion  

vgl.: Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S. ISBN: 978-3-518-58706-5. Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017  + Rezension —- Experience Economy: Ohne Daten geht es nicht.  WuV 13,.05.20  — Pine, J. & Gilmore, J. The Experience Economy, Competing for Customer Time, Attention, and Money  Neuauflage 12/ 2019



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