Netnographie

Networked Sociality

Netnographie bzw. Netnography, ist ein qualitativer Forschungsansatz, der die in den Sozialwissenschaften entwickelten Methoden ethnographischer (Feld-) Forschung auf die Möglichkeiten der Informationsgewinnung im Internet anwendet.
Geprägt und weiterentwickelt wurde der Forschungsansatz seit 1996 von dem kanadischen Kulturanthropologen und Marketer Robert V. Kozinets. Grundsätzlich ist Netnographie – ebenso wie Ethnographie – weniger eine singuläre Forschungsmethode, denn ein Forschungsprogramm, das eine Vielzahl einzelner Forschungstechniken einbezieht und sie pragmatisch anwendet.

Seit ihrem Entstehen sind online-Umgebungen ein sich verändernder und weiter entwickelnder kultureller Kontext. Im Internet der 90er und frühen 2000er Jahre richtete sich das Interesse auf “Virtual Communities” – Gemeinschaften, die sich online um gemeinsame Interessen und Leidenschaften bilden.  Naheliegend, dass sich die frühesten  Netnographie- Studien mit Fankulturen, wie z.B. der StarTrek Fan Community oder auch zu Genussmitteln wie Kaffee oder Schokolade  befassten. In Verbindung mit dem Open Innovation Ansatz wurde Netnographie auch zur Neuproduktentwicklung eingesetzt, so z.B. bei  Basketballschuhen.

3E – die dritte Edition zu Netnographie als qualitative Social Media Forschung (Rezension)

Netnography is about obtaining cultural understandings of human experiences from online social interaction and/or content, and representing them as a form of research” (Kozinets, 2015). Das Forschungsfeld Social Media umfasst applications, websites, and other online technologies that enable their users to engage in a variety of different content creation, circulation, annotation, and association activities (Kozinets 2019).
Von Social Media spricht man seit der Verbreitung der Plattformen. Fühlte sich das frühe Internet “irgendwie subkulturell” an,  sind  die Wege seitdem gepflastert, wie es bildlich passend in Netnography 3d Ed. heisst – ohne weitere technische Kenntnisse kann sie jeder nutzen. Und sie sind zu einem grossen Teil  in Corporate Hands – in der Hand grosser Unternehmen.
In der Nutzungsevolution wurde das Social Web Teil und Schauplatz von Alltagskultur und Marktgeschehen. Technische und soziale Infrastrukturen von  Plattformen beeinflussen soziale Erfahrungswelten ebenso, wie sich ihre Nutzung ganz selbstverständlich nach den eigenen Interessen richtet. Und sie sind weitgehend global verbreitet.
Mit der Ende 2019 erschienenen Ausgabe Netnography – 3d Edition liegt ein Handbuch vor, das dem Anspruch Essential Guide to Qualitative Social Media Research gerecht wird.

Netnography Unlimited. Das Materialienbuch – Rezension

Weiterer Baustein ist der Ende 2020 erschienene Materialienband Netnography Unlimited. Technokultur ist der evolutionäre Kontext von Netnographie. Netnographie lässt sich auch als “Social Media Studies” verstehen, ein Wissensfeld, das sich über Kommunikations-, Medien- und Computerwissenschaft, Marketing- und Consumer Forschung, Kulturanthropologie der Medien und Soziologie erstreckt.

Das Modell der Tribes ist zwar nicht unbedingt mit Netnographie verbunden, passt aber zu vielen Formen von Online- Vergemeinschaftungen. Es sind “flüssigeVergemeinschaftungen aufgrund von ästhetischen, emotionalen und manchmal auch von Konsum geprägten Bindungen. Menschen, die dieselben Lebensstrategien gewählt haben und dieselben Erfahrungen machen, suchen und leben ihre subjektive Identität in ähnlichen Mustern (M. Livi, 2018). Das können Marken oder Medien sein – müssen es aber nicht. Entscheidend ist die Verbindung, die durch das  gemeinsame Erleben entsteht. Bourdieus Begrifflichkeit des kulturellen, bzw. in einigen Fällen subkulturellen Kapitals spielt eine Rolle. Distinktion bedeutet nicht nur Abgrenzung und Ausschluß, sondern auch Inklusion über das Gemeinsame, es geht um die Teilhabe an einem jeweils spezifischen – manchmal auch vermeintlichen – Wissen,  in-the-know.

Stand in früheren Jahren das Konzept von Communities im Vordergrund, tritt mittlerweile das Konzept Consociality öfter hervor – kurz gesagt bedeutet es kontextuelle, situative Ko- Präsenz – nicht gemeinsame Identitäten  (vgl. Netnographie 2024 – Community vs Consociality). 

Netnographie ist eine flexible Methode, die eine Reihe spezifischer Schritte und analytischer Ansätze bietet. Sie sind auf ein breites Spektrum von Formaten anwendbar, von der Beobachtung bis zur aktiven Teilnahme an Online-Gesprächen und -Aktivitäten. Netnographie kann sich in  micro– wie teleskopischer Perspektive auf ein ausgewähltes Forschungsfeld richten. Auf übergreifende Themen, wie auf Details, auf ausgewählte  archivierte Daten.
Der Einsatz weiterer Software ist nicht zwingend, aber nützlich: Monitoring- bzw. Listening Software zur Auffindung der Quellen, QDA- Software (z.B. NVivo, MaxQDA) zur Text- und Datenanalyse. Netnographie kann für sich allein stehen oder mit anderen Forschungsmethoden kombiniert werden. Beispiele der Anwendung erstrecken sich auf viele Felder. Beispielhaft im Blog ist etwa das Thema Overtourismus (12/2019 – vor Corona) – von einem Überblick zum gesamten Thema, wird sichtlich wie sich der Blick auf Einzelthemen richten lässt.

In meinem  Blog erschienen  über die Jahre hinweg eine ganze Reihe von Beiträgen zu Netnographie, methodisch, wie auch praktische Beiträge:

Netnographie 2024 – Community vs Consociality
Influencers & Creators. Business, Culture and Practice (Rezension)
Overtourism – eine (kleine) Netnographie   
Digitaler Habitus
Netnography Unlimited – Understanding Technoculture (Rezension)
Netnography 3.Ed. (Rezension)
“Tribes” in der globalen Zivilisation
instagram – populäre Kultur und Marketingfarm
Consumer Tribes
Netnographie 2015 – Rezension zu Netnography: Redifined
Vegan – eine Netnographie
Das Riesling- Netz   Weinkommunikation online
Netnographie oder Social Media Research? – Forschungsperspektiven
Schokolade im Netz: eine (kleine) Netnographie
SocialMedia Netnography
Stämme im Netz – die tribale Metapher
Fairtrade in Social Media
Netnographie – alle Blogbeiträge
Netnography. Doing Ethnographic Research Online Standards zur Online- Feldforschung (Rezension) .
Qualitative Datenanalyse

Netnographie. Ethnographische Methoden im Internet und posttraditionale Vergemeinschaftungen . Beitrag zu einer Tagung der ISKO (International Society for Knowledge Organization) – erschienen in: Tagungsband zur Wissensorganisation ’09 “Wissen – Wissenschaft – Organisation“, 12. Tagung der Deutschen ISKO (International Society for Knowledge Organization), 19. – 21.10.(2009), Bonn. Würzburg, 2013, S. 290 – 297;
Netnographie – Einführung (2008)  

auf Klick öffnet sich ein pdf mit den Folien in neuem Fenster

li.: Präsentation zu einem Workshop zu Netnographie; einige ältere Präsentationen zu Netnographie stehen auf Slideshare

 

 

 

 

Kozinets, Robert V.: Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research.. Third Edition 2020,; Kozinets,Robert V.: Netnography:Redefined. SAGE Publications Ltd; Second Edition edition (July 24, 2015), 320 S.; Kozinets, Robert V.: Netnography. Doing Ethnographic Research Online. [Sage] 2010;  –   Livi, Massimiliano Neo-Tribes und Tribes: Eine Einführung (2018) .  Cova, Bernard; Kozinets, Robert V.; Shankar, Avi (Hrsg.): „Consumer Tribes“, Butterworth Heinemann, Oxford und Burlington MA 2007, 339 S. Janowitz, Klaus: Netnographie (2008), Leesa Costello, Marie-Louise McDermott & Ruth Wallace: Netnography: Range of Practices, Misperceptions, and Missed Opportunities. International Journal of Qualitative Methods. Volume 16. S.  1–12, 2017; Kozinets, Robert V. & Gambetti, Rossella: Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York   ISBN: 978-0-367-42565-4, 325 S., £ 42,99 



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