Soviel wie gerade jetzt wurde selten von der Zukunft gesprochen – die Corona- Krise hat das Thema nach oben gedrückt. Es ist weniger eine Debatte, in der Standpunkte gegenüberstehen, als eine Vielzahl von Bestandsaufnahmen, die Unsicherheit von Einschätzungen, die Suche nach einer Haltung – und steht ein Begriff erst einmal im Mittelpunkt, dann kommt auch kaum ein PR- geleiteter Text mehr ohne ihn aus.
Je länger und ernsthafter die Corona- Pandemie währt, desto mehr dringt ein Gefühl der Verwundbarkeit unserer Zivilisation ins Bewusstsein. Ihre Weiterentwicklung ist abhängig von unserem Handeln. Geht es bei einem Neuen Normal um Krisenmanagement als vorläufigem Ziel, geht das, was unter Zukunftsfragen etc. diskutiert wird, darüber hinaus. Darunter bündeln sich Transformationsdiskurse zu Digitalisierung und zu Nachhaltigkeit und zu disruptiven Innovationen; die rhetorische Frage “Wie wollen wir leben” taucht immer wieder als Motto auf (so als Themenwoche der ARD, Titel der brandeins, Einleitung zum Kongress “Zukunft für alle”). Es gibt dystopische Ausblicke auf Folgen des Klimawandels und viel ernsthaftere Pandemien (vgl. Interview Mike Davis), es gibt Ermutigungen zu einem Neuen Wirtschaftswunder, Appelle an Gemeinsinn. Und ganz sicher gibt es Consultingangebote.
Die Vorstellung von Zukunft ist oft mit einer Fortschrittserzählung verbunden – des technischen und des gesellschaftlichen und deren wirtschaftlicher Umsetzung. Innovation ist in dieser Erzählung ein Wert an sich.
Betrachtet man das Heute als die Zukunft von gestern, etwa aus der Perspektive der Jahrtausendwende, dann ist die Corona- Krise – zumindest hierzulande – die erste umfassende Unterbrechung dieser lange Zeit – trotz aller Disruptionen – kontinuierlichen Erzählung. Die beiden Dekaden waren geprägt von einem technischen Wandel, der Verbreitung digitaler Techniken, deren kultureller Umsetzung und wirtschaftlicher Nutzung bzw. Ausbeutung (je nach Sichtweise) – Digitaler Transformation. Bis jetzt trifft wahrscheinlich die Bezeichnung Spurtreue Beschleunigung (vgl. D2030) am besten zu.
Gibt dabei Technik oder Gesellschaft den Takt an? Der technische Wandel war schnell und wurde v.a. im Wandel der Medien, in der Folge der Konstruktion neuer Öffentlichkeiten markant erlebt. Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft, analog den Begriffen Psycho- und Soziogenese. Unsere Zivilisation entwickelt sich mit der Technik und ihrer gesellschaftlichen Einbindung.
Vorstellungen und Voraussagen von Zukunft unterliegen genauso gesellschaftlichen Wandlungsprozessen (bzw. Transformationen) wie andere kulturelle Merkmale. Die sehr materialreiche Geschichte der Zukunft von Georges Minois, französischer Historiker, mit Schwerpunkt Mentalitätsgeschichte, (1996, dt. 1998, mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlich; 830 S.) handelt vom langfristigen Wandel der kulturellen Muster, Einstellungen, den Methoden zur Voraussicht auf Zukunft, ihrer Soziogenese.
Oft war die Geschichte der Voraussagen eine Geschichte der Irrtümer und Enttäuschungen. Einige grundsätzliche Aussagen (19), die für heute wie für längst vergangene Zeiten gelten, lassen sich hervorheben: Voraussagen heisst auch versuchen, die Zukunft zu beherrschen, die Ereignisse festzulegen, bevor sie eintreten, ebenso Die beste Voraussage ist oft die, die es erlaubt, Massnahmen zu ergreifen, um die vorhergesehene Katastrophe zu verhindern – was dem in der Corona- Krise oft zitierten Präventionsparadox entspricht. Weiter: Was zählt ist nicht, dass das Vorhergesehene eintritt, sondern dass diese Vorhersage hilft, erleichtert, beruhigt und zum Handeln anregt.
Minois unterscheidet fünf historische Epochen: Das Zeitalter der Orakel, das der Prophezeiungen, das der Astrologie, das der Utopien und schliesslich der wissenschaftlichen Vorhersagen. Orakel, Prophezeiungen und Astrologie haben heute höchstens metaphorischen und unterhaltenden Wert. Zeitlich endet das Buch bei der (in den 90er Jahren populären) These von Francis Fukuyama zum Ende der Geschichte. Minois schliesst mit der Feststellung Das Neue besteht darin, dass man an die globalen und langfristigen Vorhersagen nicht mehr glaubt ab. Kurzfristig sind hingegen Voraussagen in datenbasierten Wissenschaften wie der Meteorologie, Ökonomie und anderen sehr effizient geworden.
Die klassischen Utopien gelten als längst entzaubert. Man sollte aber unterscheiden zwischen den grossen, literarischen und ideologischen Entwürfen (in sich geschlossene Systeme) und einem utopischen Denken, ohne das kein Aufbruch denkbar ist: Ohne die Fantasie und die Energie, die utopisches Denken freisetzt, hätte das Netz wie wir es kennen, sich wahrscheinlich nie entwickelt (vgl. T. Thiel, 2014). Und diese Perspektive gilt auch für die weitere Entwicklung.
Bereits vor Corona war die Fortschrittserzählung des wirtschaftlichen Liberalismus und seine Problemlösungsfähigkeit ermüdet – vgl. dazu A. Reckwitz – Das Ende der Illusionen.
Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Grundsätzliches Dilemma ist, dass die Gesellschaften, die ihren Mitgliedern die grösste Lebenssicherheit, Freiheitsrechte und Wohlstand – ein gutes Leben – ermöglichen, eine negative ökologische Bilanz haben. Failed States, die ärmsten Länder der Welt, belasten die Umwelt weniger. Der begrenzte Lebensraum Erde ist bis in die letzten Winkel durch menschliche Bewirtschaftung und ihre Folgen geprägt.
Was kann an die Stelle der vergangenen Fortschrittserzählung, die sich am messbaren Wachstum misst treten? Auf den Punkt bringt es Harald Welzer*in einem Beitrag der (Webvideo-) Konferenz Zukunftsfragen (24.11.): “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”. Und: “Der größte integrative Faktor einer Demokratie ist eine gemeinsame Zukunftsvorstellung.” Die übergreifende Vorstellung von Zukunft als gesellschaftliches Band.
Direkt an die aktuellen Zukunftsfragen schliessen die Diskussionen zur KI, der maschinellen Ausführung automatisierter Entscheidungen an – eine der ganz grossen Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft an.
Und in Zukunft: Der Podcast von Thomas Riedel. www.futurefuture.de
Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen. Utopien. Prognosen, Orig. 1996; dt. 1998, 830 S. ; *Harald Welzer: “Wie sieht eine nachhaltige, moderne Gesellschaft aus?” (ab 27. Min.) ZUKUNFTSFRAGEN – Konferenz zur Nachhaltigkeit| 24.11.2020. ScMI AG – Post-Corona-Szenarien: Gesellschaft , Wirtschaft und Politik nach der Corona-Krise Michael Schütz: Psychologische Zukunfts-Szenarien. 18. September 2020 / Innovation, Trendforschung. Thorsten Thiel: Die Schönheit der Chance: Utopien und das Internet. . In: Juridikum : Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft 15 (2014), 4, pp. 459-471. Konzeptwerk Neue Ökonomie: Zukunft für alle. Eine Vision für 2048. Sept. 2020. «Covid-19 ist erst der Anfang» – Interview mit Mike Davis auf republik.ch 23.12.2020.