Neues Wirtschaftswunder 2.0?

Remember the Wirtschaftswunder, Bild: HerrSpecht / photocase.de

Das Wirtschaftswunder der 50er Jahre ist wohl immer noch der Gründungsmythos der Bundesrepublik. So scheint es ganz selbstverständlich, dass in der Coronakrise an diese Erzählung angeknüpft wird – gleich mehrfach.
Ausgangspunkt zahlreicher Initiativen war der Hackathon #WirVsVirus im März (20.-22.). Insgesamt sind (nach Angaben des Bundespresseamtes) 147 Projekte daraus hervorgegangen, die in den letzten sechs Monaten Lösungen für Probleme im Zuge der Pandemie entwickelt und getestet haben. Darunter das Antirassismus-Projekt Ichbinkeinvirus.org und die Ursprünge der Contact-Tracing App.

Neues Wirtschaftswunder für eine sozial- ökologische Transformation

Ebenso die Initiative Neues Wirtschaftswunder– für eine sozial-ökologische Transformation. Ausgangslage ist der tiefgreifende Einschnitt, den Covid-19 für fast alle Lebensbereiche bedeutet – und die folgenden Entscheidungen zu umfangreichen Konjunkturpaketen. Hier geht es um die konsequente Ausrichtung dieser Konjunkturpakete an sozial-ökologischen Leitlinien.  Investitionsvorschläge für ein sozial- ökologisches Wirtschaftswunder werden im Maßnahmenkatalog Für ein nachhaltiges Konjunkturpaket, JETZT! vorgelegt. Der Einschnitt durch Corona bietet die historische Gelegenheit, Wirtschaft und Gesellschaft sozial und ökologisch zu transformieren – vor allem, wenn gesamtgesellschaftlich aus einem Konsens gehandelt wird : Ein neues Wirtschaftswunder ist möglich, wenn wir bewusst und entschlossen neue Wege gehen. Schritt für Schritt. Nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit unseres Landes steht auf dem Spiel!. 
Erstunterzeichner sind v.a. Unternehmen und Organisationen aus dem sozialökologischen Umfeld, darunter die GLS Bank, u.a. auch die Zukunftsinitiative D2030. Inwieweit von D2030 entwickelte Szenarios, wie Neue Horizonte, Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl  dabei als Leitbild dienen (vgl. Post- Corona – Szenarien für die Zeit danach) wird nicht explizit genannt.   

In einem Gastkommentar im Handelsblatt (25.05.) schrieb Thomas Sattelberger (vgl. Neuausrichtung der Gesellschaft nach Corona?) von einer Zukunft für Unternehmer, Macher und Gründer, für eine Deep-Tech-Republik, die einen Narrativ à la Wirtschaftswunder 2.0. braucht. Man mag dabei an Tat- und Machtmenschen, an eine MINT- Elite denken – der Beitrag enthält aber auch die Forderung von Bildung im Sinne von Emanzipation und lebenslanger Berufsbefähigung, sowie den Satz „Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.“

Wirtschaftswundertour Sommer 2020

Birgit Eschbach, Event- Managerin, derzeit ohne Events,  liess sich dadurch inspirieren. Zunächst zu einer  Wirtschaftswundertour durch die Provinz, zu wirtschaftlich blühenden und zu darniederliegenden Landstrichen. Weiter zu regionalen Projekten, verbreitet über den (hashtag) #Wirtschaftswunder20.  Aber es sind nicht nur wirtschaftliche Fragen, genauso die, wie wir in Zukunft leben wollen, und wo? – Co- Working, Co- Living.  Unternehmen brauchen neues Know-how, um sich für die neuen Herausforderungen zukunftsfähig aufzustellen. Es geht um die Werkzeuge und Bedingungen des mobilen Arbeitens, angefangen mit der nötigen und möglichen Hard- und Software, zu den kulturellen Voraussetzungen, wie Diversität  – und schliesslich um Inspiration und Mut zur Umsetzung. Die Entwicklung von Potentialen der Kreativwirtschaft hängt davon ab. Kommunale  Wirtschaftsförderungen sieht sie als Partner bzw. Plattformen in einer Schlüsselrolle. Infrastrukturen, die mobile bzw. remote Arbeit ermöglichen, sollen geschaffen bzw. gefördert werden. Die Vernetzung regionaler Akteure, wie Wirtschaftsförderer, Bürgermeister, Unternehmen und anderer Engagierter ist dabei ein wesentlicher Schritt.

Nicht überall war Wirtschaftswunder: Obermoschel (Nordpfalz)

Als wegweisendes Projekt fand bereits 2019 in Wittenberge (Elbe) der “Summer of Pioneers” statt. Digitalarbeiterinnen und Kreative konnten für ein halbes Jahr Leben und Arbeiten abseits der Metropolen ausprobieren. Im Gegenzug brachten sie einen Ideentransfer von digitaler Expertise, ortsunabhängigem Arbeiten und urbaner Kultur mit. Ein Modell, das mittlerweile von anderen Kommunen aufgegriffen wurde, so Altena im Sauerland und Homberg, Nordhessen.
Regionale Entwicklung verläuft oft sehr unterschiedlich. Manche Regionen, wie Teile Württembergs oder Ostwestfalen, prosperieren mit Hidden Champions, andere sind vom Wegfall des produzierenden Gewerbes gekennzeichnet. Junge Menschen wandern ab, Leerstände und Industriebrachen folgen.  Mancherorts beschränkt sich die Infrastruktur auf Supermärkte an Kreuzungen von Überlandstrassen. Die Pendlergesellschaft sammelt sich in den Ballungsräumen und zersiedelten Speckgürteln.    

Zentral bleibt das Thema Remote Work, derzeit wird der Gesetzentwurf zu  einem Rechtsanspruch darauf verhandelt.  Gunnar Sohn hat in einem sehr engagierten Beitrag bereits so detailliert dazu Stellung genommen, dass ich dem kaum etwas hinzufügen kann: Bessere Vereinbarkeit, weniger Wege, mehr Selbstbestimmung – Arbeit, die zum Leben passt. Und Arbeit mehr zum Menschen bringen.  Wahrscheinlich ist die fast flächendeckende Verbreitung des home office eine der folgenreichsten Erfahrungen des Jahres.

Neues Wirtschaftswunder 2.0? Die abrupte, erzwungene Unterbrechung von Routinen birgt Chancen neuer Orientierung. Daran schliesst eine Frage  an, die bereits in den Szenarien zur Gesellschaft nach Corona gestellt wird: Wie schaffen wir die Überwindung des lediglich auf die alte Normalität zielenden Krisenmodus und erreichen eine Entwicklung in Richtung breiterer Innovation und signifikantem Strukturwandel?
Zukunft ist nicht mehr ohne weiteres die Fortsetzung der Gegenwart. Ein breit getragener Konsens ist  Voraussetzung für langfristige Entwicklungen. Zwar sind die Formulierungen neuer Wirtschaftswunder unterschiedlicher Herkunft – aber sie sind vereinbar. Es geht um die Verbindung von Digitalisierung und nachhaltiger Orientierung. Im Detail um Raum für lokale und regionale Projekte und Entwicklungen. Viele Menschen haben die Geschichte der Bundesrepublik als eine stabile liberale Erfolgsgeschichte erlebt, andere als eine mit einigen Brüchen.
Als Bezugspunkt taucht New Work zwar immer wieder auf, ist  als Begriff aber wohl zwischen ganz unterschiedlichen Bedeutungsebenen zerschlissen. Von der Lebensreform nach Frithjof Bergmann bis zu Verbesserungen für ohnehin Privilegierte.  Allerdings hat die Diskussion darüber  Perspektiven geöffnet. Lebens- und Arbeitsmodelle, die nicht in vorhandene Muster passten, fielen noch lange in die Kategorie untypischer Berufsbiographien bzw. atypischer Arbeitsverhältnisse. Letztlich geht es darum, menschliches Potential sinnvoller einzusetzen, übrigens auch eine Form von Effizienz, wie Winfried Felser anmerkte.

vgl:  Birgit Eschbach: wie gelingt uns mit analogen und digitalen Konzepten das nächste Wirtschaftswunder nach der Corona Krise? Gespräch am 9.09.20; Gunnar Sohn Plädoyer für das Mobile-Arbeit-Gesetz. 8.10.20  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: #WirVsVirus Umsetzungsprogramm beendet – Pressemitteilung 348/20 vom 30. 09. 2020 Neues-Wirtschaftswunder.de Für ein nachhaltiges Konjunkturpaket, JETZT! Investitions-vorschläge für ein sozial-ökologisches Wirtschaftswunder. Juni 2020. Verantwortung im globalen Lieferkettenmanagement. 17.09.20. Summer of Pioneers. Wittenberge. Altena. Homberg

 



Kommentar verfassen

SideMenu