Metaverse 2 – Building the Spatial Internet

Metaverse war der Hype vor dem KI- Hype – das räumliche Internet in 3D als neue technologische Entwicklungsstufe des WorldWideWeb. Mittlerweile wird überwiegend von Spatial Computing oder dem räumlichen Internet gesprochen – eine Evolution der ursprünglichen Metaverse-Vision.

Zum Hype wurde Metaverse als sich Facebook im Oktober 2021 zu Meta umbenannte und in der Folge 36 Mrd $¹ in seine Entwicklungsabteilung Reality Labs investierte. Der Name ist dem dystopischen Science Fiction- Roman  Snowcrash  von Neal Stephenson (1992) entlehnt.

So verbreitete sich eine bestimmte Vorstellung des Metaverse (Meta/ Über -versum) als einer parallelen Welt mit nach Wunsch und Vermögen eingekleideten Avataren und virtuellen Grundstücken – zugänglich über VR- Headsets.  Manchmal phantastisch, zumindest eskapistisch.
Eine mögliche, aber nicht zwingende Vorstellung. Spatial Computing betont dagegen eine nüchterne,  anwendungsorientierte Vision des räumlichen Internet:  digitale Informationen werden in physische Räume integriert. Es gilt der Nutzen von Simulationen, technischen (XR-)  Anwendungen aller Art, z.B. Entwürfe für die Bauwirtschaft, 3D-Visualisierungen, Remote-Zusammenarbeit.

Hintergründe bzw. Voraussetzungen zum Hype waren zum einen technische Fortschritte, so in der Graphikleistung, schnellere Internetverbindungen, kulturell  auch die Gewöhnung der Nutzer an digitale Räume in der nur kurze Zeit  zurückliegenden Pandemie. Blockchain und NFTs spielten anfangs als potenzielle wirtschaftliche Grundlage eine Rolle, verloren aber an Überzeugungskraft und Akzeptanz.

BigTech-Konzerne waren im Social Web reich geworden und drängen in Successor States des heutigen Internet – in die Next version of the Internet. Es geht um das Aufspüren und die Entwicklung neuer Geschäftsbereiche und die  Aufrechterhaltung von Marktmacht. Manche der bestehenden Geschäftsmodelle zeigen Sättigungserscheinungen. Zukunftserzählungen werden oft als unausweichlich und bombastisch inszeniert: futures appropriation. Technologie-Berichterstattung ist daran oft mehr interessiert als an aktueller Realität. Jede Entscheidung, jede Handlung, kann Folgen für den Aktienkurs haben.

Zwei wesentliche Merkmale sind festzuhalten: Das aktuelle Internet basiert technisch auf der Übertragung von Datenpaketen, die in kleinen Partikeln bei Bedarf gesendet werden (wie beim Zugriff auf Webseiten und z.B. auch bei Video-Konferenzen). Das räumliche Internet erfordert eine kontinuierliche Datenübertragung und Synchronisation für die gemeinsame virtuelle Umgebung.
Das Nutzungserlebnis des Metaverse ist das eines durchgängig verbundenen virtuellen Raums – technisch eine persistente, kontinuierliche 3D-Umgebung. Das  (Uni-)Verse im Metaverse impliziert dazu eine universelle, offene soziale Sphäre.

Als First- Mover inszenierte Meta/ Facebook den Hype, andere Konzerne zogen mit unterschiedlichen Schwerpunkten nach: Microsoft, Google investierten in VR-Headsets, in Plattformen  und technologische Infrastruktur.
Gaming-Plattformen wie Roblox, Fortnite und Minecraft boten bereits virtuelle Welten an, die als eine Art Proto-Metaverse erlebt wurden. Diese Plattformen hatten bereits Millionen von Nutzern und zeigten, dass immersive, gemeinschaftliche Erlebnisse in virtuellen Welten einen breiten Anklang finden können.
Apple vermied den Begriff Metaverse, investierte aber in AR/VR-Technologien, lancierte dann im Juni 2023 mit der  Apple Vision Pro den Begriff Spatial Computing – der dann als Spatial Internet den Begriff Metaverse verdrängte. Diese Entwicklung markierte einen Wendepunkt weg von der Vorstellung einer parallelen virtuellen Welt, hin zu einer möglichst nahtlosen Integration digitaler Elemente in die physische Umgebung.
Das Nutzungserlebnis von Spatial Computing ist das einer digital erweiterten physischen Realität – eine möglichst nahtlose Überlagerung und Integration digitaler Elemente in die physische Umgebung. Anwendungen werden für ihren jeweiligen Gebrauch erstellt bzw. programmiert.

Autor Matthew Ball, einer der einflussreichsten Analysten und Vordenker des Metaverse, hatte 2022 auf dem Höhepunkt des Hype mit ‘The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything‘ ein umfassendes Compendium veröffentlicht. Seine Definition des Metaverse wurde weithin als Standardreferenz akzeptiert* (s.u.).
Im August 24 erschien eine Revised and Updated Edition mit dem bezeichnenden Untertitel Building the Spatial Internet. Mehr als 70% des Inhalts wurden neu geschrieben. Im Grunde ein neues Buch, zumindest eine neue Kontextualisierung von Metaverse.
Gegenüber der Auflage von 2022 sind rund 130 Seiten und einige Kapitel hinzugekommen: insbesondere die Rolle der KI, die Weiterentwicklung der XR- Zugangsgeräte und die Integration von Spatial Computing in bestehende Technologie-Ökosysteme.

Was hat sich in den zwei Jahren an der Zukunftsvision verändert? Eine Relativierung ist sofort sichtbar:  Der Satz And How It Will Revolutionize Everything wurde gestrichen – nicht nur als Subtitle.
Nach dem Hype verschwand das Metaverse nicht. Zahlreiche Technologien und Konzepte finden  im Gaming Anwendung; Weiterentwicklung und aktuelle Diskussion finden auf den zugehörigen Plattformen statt. Monatliche Teilnehmerzahlen erreichen dort überraschende Grössenordnungen: Epic Games Store (Fortnite) nennt z.B. 75 Millionen monatlich aktive  Nutzer.
In der Gaming- Szene trifft eine an virtuelle Welten gewöhnte, sehr technikaffine Nutzerbasis auf eine ausgebaute Infrastruktur – und ist auch bereit dafür Geld auszugeben.

Spatial Computing. Foto: Erik Mclean/ Unsplash

Die Plattformen zeigen Merkmale des Metaverse: Es gibt soziale  Aktionen in virtuellen Räumen, eine Creator Economy, die auch so heisst (Fortnite), sie bieten einen gewissen Rahmen für soziale und kommerzielle Interaktionen, die über das reine Gaming hinausgehen.
Sog. Islands bieten interaktive Orte auf den Gaming- Plattformen.  Es sind bedingt soziale, experimentelle und kreative Räume die den Regeln und der wirtschaftlichen Kontrolle der Plattformbetreiber unterliegen und einen bestimmten Nutzertypus ansprechen.  Nutzungen wie virtuelle Geschäfte, soziale Treffpunkte, Markenrepräsentationen oder Aktionen wie Kunstevents und Modenschauen bleiben aber eher experimentell.
Plattformen wie Sandbox und Decentraland bestehen zwar weiterhin, haben aber deutlich an Aufmerksamkeit verloren und erreichen nur einen Bruchteil der Besucherzahlen der Gaming- Plattformen.
Einen kompakten Einblick in die Vorstellungen zum Spatial Computing gibt es übrigens in einem Rundgespräch mit Matthew Ball, Epic- Games CEO Tim Sweeney und Metaverse- Autor Neal Stephenson vom 16.07. diesen Jahres.
So sehr Gaming- Plattformen eine bedeutsame Reichweite erreicht können und so technisch gelungen sie sind –  sie bleiben subkulturelle Phänomene. Sie sind stark an spezifische Gaming-Communities gebunden, mit eigenen Codes, Ästhetiken und Kommunikationsformen, die sich auf die jeweiligen Plattformen konzentrieren.
Subkulturell bedeutet in diesem Kontext, dass es keine breitere gesellschaftliche Durchdringung gibt und kaum eine Überschneidung kultureller Grenzen. Eine universelle, offene soziale Sphäre oder immersive globale Öffentlichkeit – wie sie als collective virtual open space konzipiert wurde – ist derzeit nicht in Sicht.

Zum Hype geht Ball in Distanz. Ein immersives, räumliches Internet hält er aber für zwangsläufig: I’m certain that the future will be increasingly centered around real-time- renderes 3D virtual worlds and networks (379). ²
Die Schwankungen von Hypes, Flops, Investitionen und Rückzügen sind da nur Teilstücke langfristiger Entwicklungen.
Metaverse ist dabei als Begriff eher belastet: durch den Ursprung als Dystopie, spekulative Verwertungen im Blockchain- Umfeld, durch den shocking rise of usage und die Inanspruchnahme durch den Grosskonzern, den Ball weiterhin durchgehend Facebook nennt. Selber bevorzugt er 3D- Internet. Andere verwenden Spatial Computing (Apple) human co-experience (Roblox), hyper-digital reality (Tencent). Dennoch verwendet er Metaverse durchgehend –  immerhin ein Begriff, den er selber mitgeprägt hat.

Es gibt viel Technologiegeschichte im Buch: zur Idee des räumlichen Internet, zur Entwicklung des Personal Computers, des Internets, der Mobiltelefone, Netzwerke, Kabelinfrastruktur, von Streaming und Videospiele, zur Entwicklung von KI in den letzten Jahren – und vor allem zu den Zugängen in 3D- Welten.
Immaterielle Erfahrungen – experiences – brauchen physische  Zugangsgeräte. Der Erfolg eines Spatial Internet  hängt stark davon ab, wie weit es gelingt, kompakte, komfortable Geräte zu entwickeln, die länger und angenehmer genutzt werden können. Aktuell setzen die von Meta/ Facebook und Apple entwickelten Headsets den Standard. So leistungsstark und ergonomisch angepasst sie mittlerweile sind, bleibt ihr Einsatz auf spezifische Aufgaben beschränkt.

Smart Glasses bringen das Spatial Internet in den Alltag – können aber auch als übergriffig erlebt werden (Bild: Dall-e)

Smart Glasses sind dagegen alltagstauglich und eine Art Zugangsschneise in die allgemeine Lebenswelt. Bis jetzt eine Art SmartPhone als Facewear, haben sie noch viel Potential Funktionen des Spatial Internet mit dem Alltag zu verbinden. Problematisch ist zunächst die soziale Akzeptanz: Das Gefühl observiert zu werden, kann Unmut hervorrufen.

Spatial Computing 2024 sind vor allem die sich weiter verbreitenden Anwendungen der Virtual-/ Augmented-/ Mixed- Reality.  Zusammengefasst als XR- Reality, hat sich  XR- Technologie zu einer eigenständigen Branche mit sowohl wirtschaftlich als  technologisch wachsender Bedeutung etabliert. Entwickelt wird für jeweils spezifische Zwecke:  immersive Spiele, Bildungsplattformen, Simulationsanwendungen,   virtuelle Konferenzen, 3D-Modelle für Architektur und Bauprojekte – für das Entertainment oder auch im medizinischen Umfeld. Technisch werden die Anwendungen immer ausgereifter.
XR- Technologie ist dabei Innovationstreiber in verschiedenen Branchen. Produktentwicklung in virtuellen Räumen, Remote-Training für komplexe Maschinen, Design-Reviews in globalen Teams.
Weiterentwicklung findet eher im professionellen Bereich statt. Für Konsumenten attraktive Anwendungen werden zwar mehr – dagegen stehen hohe Kosten für die Hardware.  Ansätze zu einem Social- Metaverse sind wenig zu sehen.
Zeitnah sieht Ball ein Corporate Spatial Internet. Aufstieg und Verbreitung des (atuellen) Internet waren von einer nicht-kommerziellen Entwicklung bestimmt. Talente, Ressourcen und Ambitionen  sammelten sich zunächst im akademischen Umfeld und staatlich finanzierter Forschung. Heute ist die Online- Wirtschaft von BIgTech, Datensammlung, Werbung und der Vermarktung digitaler Produkte bestimmt.

Einige Parallelen  zur KI fallen auf: Bis KI vor zwei Jahren den Durchbruch erlebte, sprach man von KI- Wintern und KI- Frühlingen als Phasen nachlassenden und erneuten Interesses. Ähnlich wechselt das Interesse an einem Metaverse bzw. einem räumlich erlebten Internet, bis zurück zu den Zeiten von Second Life.
Künstlich geschaffene Intelligenz ebenso wie eine parallele Welt sind Themen, die menschliche Phantasie beschäftigen. Beide greifen zurück bis auf uralte Mythen und werden  immer wieder kulturell aufgegriffen.
KI ist zwar längst nicht vollendet, hat aber eine Stufe erreicht, auf der sie in der Breite der Gesellschaft als nützlich erlebt wird. Spatial Computing bietet zwar immer mehr attraktive Anwendungen – sie bleiben aber auch mittelfristig insulär.
Das Spatial Internet kann die digitale Gesellschaft zwar nach und nach durchdringen, stösst aber an Konfliktlagen und Grenzen, die Ball nicht ganz auslässt.
In einem tatsächlich global funktionierenden Metaverse – entsprechend der Definition als eines immersiven, persistenten und nahtlos verbundenen digitalen Raumes – würden sich zudem Strömungen und Konflikte der Weltgesellschaft in einem nicht vorhersehbaren Ausmass spiegeln,  mit kaum einschätzbaren Konflikten um Einflusszonen, wirtschaftliche und politische  Macht.
Interaktivität, Grafikqualität, die Aufrechterhaltung von Persistenz würden zudem exponentiell mehr Rechenleistung erfordern und Energie verbrauchen als das heutige Internet. Kann ein solches System nachhaltig und gesellschaftlich akzeptiert sein?

Matthew Ball: The Metaverse. Building the Spatial Internet  8/ 2024,  446 S.  Metaverse expert Matthew Ball still believes in the 3D internet – Interviewing Meta CTO Andrew Bosworth on the Metaverse, VR/AR, AI, Billion-Dollar Expenditures, and Investment Timelines .  On Spatial Computing, Metaverse, the Terms Left Behind and Ideas Renewed. ² – noch stärker: The very idea of a Metaverse means an ever-growing share of people’s lives, labor, leisure, time, wealth, happiness, and relationships wil be spent inside virtual worlds , rather than just extended or aided through digital devices and software. (379).
*
Die Definition von Ball (2022): A massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds that can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments.” 
¹ 36 Mrd  wurden  in Berichten der US-Börsenaufsicht SEC genannt



Demokratie braucht Begegnung

Demokratie braucht Begegnung um zu funktionieren (19) – Begegnung, Öffentlichkeit und Demokratie sind untrennbar miteinander verbunden: Begegnungen ermöglichen Austausch, Öffentlichkeit bietet den Raum dafür, und Demokratie ist das politische System, das von diesem Austausch lebt.

Liberale Demokratie beruht auf zwei Prinzipien: das Volk ist der Souverän, der über sein eigenes Schicksal entscheidet. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit garantieren individuelle Freiheitsrechte und schränken so die Macht der Mehrheit ein. Demokratie erfordert die Aushandlung von Konflikten und Entscheidungen; Kompromisse sind die Regel. Sie lebt davon, dass ihre Mitglieder sich als legitime Andere anerkennen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht Vertrauen – gegenseitig und in demokratische Institutionen – über engere Zugehörigkeiten hinaus. Nur so sind tragfähige Kompromisse möglich. Dazu braucht es Orte bzw. Räume, in denen Vertrauen entstehen und sich entwickeln kann – Orte an denen nicht-medialisierte, direkte Erfahrungen gemacht werden können.

Demokratie fehlt Begegnung – hat Rainald Manthe, Soziologe aus Berlin,  sein Buch über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts genannt.  Im Titel steckt bereits die Feststellung eines Mangels, des Verschwindens, zumindest einer markanten Veränderung der Orte der Begegnung.
Begegnung ist synchron, besteht in der direkten, nicht- zeitversetzten Interaktion, bedeutet den Austausch in irgendeiner Form. Nonverbale Signale spielen eine grosse Rolle. Begegnungen können ebenso sehr Irritationen auslösen, lassen aber meist den Spielraum der Aushandlung bzw. Klärung.
Klassische Orte von Begegnung sind/ waren meist an lokale Gegebenheiten geknüpft. Exemplarisch nennt Manthe die Dorfkneipe – genauso können es alle anderen Orte sein, die von einer Vielzahl von Menschen aufgesucht oder genutzt werden, wie Märkte, Parks, Sportplätze, Bibliotheken, Theater oder eben auch öffentliche Verkehrsmittel.
Daneben gibt es  Begegnungsorte, die von vornherein als solche gedacht sind, von der einfachen Parkbank, dem Viertels- Treff mit Repair- Café  zu Projekten der politischen Bildung.
Die meisten solcher Orte verbinden Menschen mit gleichen bzw. sich ergänzenden Interessen, sie stabilisieren die Teilhabe an lokaler, an kultureller Öffentlichkeit.

Für eine Gesellschaft ist es aber ebenso bedeutsam, dass sich Menschen anderer Lebensrealitäten und anderer Lebensziele zur Kenntnis nehmen, begegnen und austauschen.
Gerade eher unspezifische Alltagsorte sind Schnittstellen zwischen oft sehr unterschiedlichen Milieus, ermöglichen zufällige Begegnungen, informellen Austausch, die Wahrnehmung anderer Lebensrealitäten. Sie können dazu beitragen, sich gegenseitig als “legitime andere” zu akzeptieren – die Interessen dieser Anderen zu erkennen und zu berücksichtigen, Kompromisse mitzutragen. Als Erfahrung
entscheidend ist die selbstverständliche Interaktion im öffentlichen Raum, die ohne Barrieren oder besondere Voraussetzungen stattfindet.

Autor Manthe sieht ein Schwinden vieler Begegnungsorte: Der Abbau öffentlicher Infrastrukturen trifft auf eine Gesellschaft, die immer individualistischer (9) wird. Die nachlassende Bindekraft der grossen Massenorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien – oft auch Träger von Vereinsleben – ist schon länger ein Thema. Posttraditionale Vergemeinschaftungen entwickeln zwar neue Begegnungsorte, die aber geographisch viel weiter gestreut sind.
Segregation verstärkt sich auch durch den angespannten Immobilienmarkt.  In Wohnorte wird man immer seltener hineingeboren – bzw. sozialisiert, man muss sie sich leisten können.
Clubs, Kneipen, Cafés stehen seit der Pandemie unter verstärktem wirtschaftlichen Druck. Das gilt noch mehr für ländliche und suburbane Räume. Das Wirtshaus im Dorf gibt es kaum mehr, nur dann, wenn ein besonderer Einsatz oder besondere Umstände dafür sorgen. Nicht- geförderte Begegnungsorte müssen Umsätze erzielen, um sich zu halten. 

Gesellschaftliche Polarisierung wird zwar oft beklagt – ist aber empirisch wenig bestätigt. Es gibt keine grossen Lager die einander ablehnen. Als Standard aktueller Gesellschaftsanalyse dazu scheint Triggerpunkte von Steffen Mau et al. (2023) akzeptiert zu sein.  Eine Micro- Quintessenz daraus: Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder ja.
Der Autor bestätigt in Verweisen auf andere Studien, dass der soziale Zusammenhalt erstaunlich gut (26) ist. Dass ein ausreichendes Vertrauen in das grosse Ganze und in unsere Mitmenschen vorhanden ist, ist wichtig für gesellschaftliche Handlungsfähigkeit (26). Allerdings nimmt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, genannt wird ein Drittel, kaum mehr an Diskussionen über die Ausgestaltung des Gemeinwesens teil. Bei den jüngeren (unter 29) liegt derAnteil  höher, bei 45 %.  Zugenommen hat eine Politik(er)ferne, man spricht von einem übergreifenden Repräsentationsdefizit (29) – es sind diese letzten beiden Erkenntnisse, die aufhorchen lassen.
Auffallend ist, dass die nähere Umgebung meist als besser empfunden wird, als die Gesamtgesellschaft eingeschätzt wird.

Ort von Begegnung: Forum Groningen (NL)

Wie lässt sich die Bedeutung  der Begegnungsorte  mit anderen  Konzepten verbinden?
Auf das Konzept des  Common Meeting Ground  war ich während der Corona- Lockdowns gestossen – in einer Zeit,  als die Frage auftrat, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn Öffentlichkeit – damit auch Begegnungen  –  fast ausschliesslich über Medien vermittelt wird.
Der Begriff geht auf den Schweizer Soziologen Kurt Imhof (✝2015) zurück: Jede Gesellschaft braucht einen Common Meeting Ground gemeinschaftlich als wichtig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, was in ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf (2008).

Common Meeting Ground lässt sich zum einen als eine Medienöffentlichkeit verstehen, die einen Informationsstand soweit synchronisiert, dass er einen konsensuellen Boden  öffentlicher politischer Kommunikation bietet.  Ein Boden – in diesem Falle abstrakt – auf den Themen, Lösungsansätze, Ansprüche in einen übergreifenden Diskurs gestellt werden können – zu denen Entscheidungen, also meist Kompromisse, ausgehandelt werden.
Ebenso lässt sich Common Meeting Ground als der lebensweltliche, physische Ort verstehen, an dem Gesellschaft erlebt und erfahren wird.  In dem als relevant empfundene Themen und akzeptables Verhalten verhandelt werden. Nicht in Form medialisierter Inhalte, sondern als selbst erlebte Eindrücke und der Resonanz darauf: Wahrnehmung, Reaktion und Interaktion.
Gesellschaft bedeutet nicht Gleichartigkeit, sondern zunächst miteinander auszukommen, dann Austausch, Begegnung . Es geht um die Erfahrung  gegenseitiger Bezogenheit, in der Folge um Prozesse der Aushandlung:  von Umgangsformen, von Akzeptanz, darüber, welche Sprache angemessen ist.  Und auch darüber, was schön ist – so entsteht etwa ein Streetstyle aus  Begegnungen im öffentlichen Raum.

In einer der trübsten Phasen des Lockdowns im Januar 2021 gab es den kurzen Hype der Plattform Clubhouse. Clubhouse kam gefühlt einer physischen Öffentlichkeit näher als andere Social-Media-Formate – die Kommunikation verlief nicht zeitversetzt, sondern sie erfüllte ein wesentliches Merkmal von Begegnung, Synchronität. Clubhouse wurde verglichen mit Barcamps,  mit Thementischen und Cafés, wo man sich an den Tisch dazu setzen kann, mit Late- Night Talks und Partygesprächen – kurzum Begegnungsorten der analogen Welt.
Der Hype versandete rasch – zeigte aber deutlich ein aufgestautes Verlangen nach Austausch und Begegnung.

Digitale Räume haben durchaus Potenzial, Orte von Begegnung zu sein,  Demokratie zu stärken. Ob sie das sind, hängt von ihrer jeweiligen Beschaffenheit ab.
Das von einem Pioniergeist geprägte frühe Social Web, Web 2.0, wurde damals als neuer Ort von Begegnung erlebt. Nutzer verstanden sich als Pioniere, die einen neuen Meeting Ground gestalteten. Vernetzung bedeutete die Summe von Begegnungen, , die nicht mehr so leicht verloren gingen.  Man verstand sich als Community/ Netzgemeinschaft. 
Die Welt der Social Media in den 20er Jahren stellt sich anders dar: Plattformen betreiben ihre Agenda, haben ihre Einflusszonen entlang sozialer Graphen eingenommen. Algorithmen regieren.
Es haben sich neue Formen einer Influencer & Creator Ökonomie entwickelt, die zwar einige Spielräume für Begegnungen lassen, v.a. aber den Gesetzmässigkeiten einer Aufmerksamkeitsökonomie nachkommen. Der Ton hat sich verändert – Pöbelei – aggressive Kommunikation ist keine Seltenheit mehr.
Das grösste Problem: Digitale Begegnungsorte sind im Besitz weniger Konzerne – BigTech. Für die Weiterentwicklung spielen demokratische Prozesse keine Rolle. Es zählen Unternehmensentscheidungen – ein Eigentümerwechsel, wie das Beispiel Twitter/ X zeigt, oder eine Änderung der Unternehmensziele, kann Plattformen rapide umkrempeln.

Begegnung steht an der Basis gesellschaftlicher Wirklichkeit – Menschen können sich überall wo sie sind, begegnen – und entscheiden, wie sie zueinander stehen und wie sie miteinander umgehen.

Ein weiteres soziologisches Konzept lässt sich anfügen: Das Begriffspaar  Community vs Consociality. Community wurde oft überstrapaziert, bedeutet bereits eine Zugehörigkeit über gemeinsame Identität, Interessen, Ziele. Der Begriff steht in einer Tradition des Konzepts Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies.
Bei Consociality geht es nicht um Gemeinschaft, sondern um Begegnungen in einem weiteren gesellschaftlichen Rahmen.

Rainald Manthe: Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte sozialen Zusammenhalts, 139 S. Transcript Verlag, 2024. auch: Alltägliche Begegnungsorte der Demokratie, 11.10.2024. 24 Vgl. auch : Christian Schwarzenegger: Medienöffentlichkeit als Raum der Begegnung, Heinrich Böll Stiftung, Juni 2019, 25 S – Sarah Wohlfeld, Laura-Kristine Krause: Begegnung und Zusammenhalt: Wo und wie Zivilgesellschaft wirken kann, 2021. 27 S. Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89) .- Zahlenangaben in Klammern nennen die Seitenzahl im Buch “Demokratie fehlt Begegnung”

 



Atlas of AI – die materielle Basis der KI (Rezension)

Auf den Atlas of AI wurde ich durch ein Interview in der FAZ am Sonntag (18.08) mit der australischen Autorin Kate Crawford aufmerksam – aus Anlass der deutschen Ausgabe, die in derselben Woche  erschien.
Die englische Ausgabe liegt bereits seit August 2021 vor – was macht ein Buch zu einem derart aktuellen Thema auch nach drei Jahren so interessant, eine Übersetzung herauszugeben?

AI is neither artificial nor intelligent  (8). Ein KI-System denkt nicht, sondern verarbeitet bzw. trifft Vorhersagen, ähnlich wie Google oder andere Computersysteme. Crawford widerlegt die Vorstellung von KI als immaterieller Cloud-Software, indem sie den enormen physischen und gesellschaftlichen Ressourcenverbrauch aufzeigt, der mit der Technologie verbunden ist. Sie beleuchtet die politische und ökonomische Verankerung von KI sowie die damit verbundenen sozialen und ökologischen Kosten.
U. a. beschreibt sie KI als Metamaschine (48 ff), ein komplexes, globales Agglomerat aus technologischen Funktionen, das sich letztendlich auf Daten, menschlicher Arbeit und Umweltressourcen aufbaut. KI als Metamaschine verdeutlicht die Rolle von Technologie als übergreifender, datengetriebener Instanz, die  in  Machtstrukturen eingebunden ist.

Der Atlas of AI führt an eine Reihe von Orten der Abschöpfung– der Titel ist gemeint als Kartierung der materiellen und gesellschaftlichen Grundlagen künstlicher Intelligenz.
Extraktiv/ abschöpfend ist der Begriff, mit dem Crawford KI immer wieder belegt: extractive industry, Technologie der Extraktion, Culture of data extraction (119).
Gemeint ist die Abschöpfung von Zulieferungen materieller, operativer und ideeller Art. Bleibt man im Bild werden in sechs Kapiteln sechs “Kontinente” kartiert:

  1. Earth – Die Gewinnung von Rohstoffen wie Seltene Erden, Lithium und Kobalt, die für die Produktion von KI-Hardware unerlässlich sind, oft unter schwierigen geo- und umweltpolitischen Bedingungen
  2. Labor – Die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, insbesondere in Form von Crowdworking, um KI-Systeme zu trainieren, oft unter prekären Arbeitsbedingungen.
  3. Data – Der immense Bedarf an Trainingsdaten, der zur Abschöpfung aller verfügbaren digitalen und zu digitalisierenden  Materialien führt, einschließlich Texten, Code, Stimmen, Handgesten, Bildern und Bewegungsdaten
  4. Classification – Die Kategorisierung und Klassifizierung von Menschen und Dingen, die tief in kulturelle und soziale Normen eingebettet ist
  5. Affect – Die Erkennung und Nutzung menschlicher Emotionen durch biometrische Verfahren wie Gesichtsanalyse.
  6. State – Die enge Verbindung zwischen der Tech-Branche und dem militärisch-industriellen Komplex.
  7. Conclusion/ Power untersucht, wie KI als Machtstruktur funktioniert, die Infrastruktur, Kapital und Arbeit vereint.

Als Anhang das Kapitel Coda/ Space zum Raumfahrtspektakel der Tech- Milliardäre, dargestellt als  common corporate fantasies.
Hinzu kommt der Verbrauch enormer Mengen an Energie – der global zusammengefasst an Volkswirtschaften in der Grösse von Argentinien oder Schweden reicht, mit steigender Tendenz.

Von Supply Chains/ Lieferketten ist in der KI – Diskussion selten die Rede, doch lassen sich, ähnlich wie bei physischen Produkten, Schritte und Komponenten  die notwendig sind, um KI-Lösungen zu entwickeln, bereitzustellen und in Betrieb zu halten, als solche verstehen.
Ein Absatz (218) fasst den Blickwinkel Crawfords kompakt zusammen: KI/ AI is born from salt lakes in Bolivia and mines in Congo, constructed from crowdworker- labeled datasets that seek to classify human actions emotions, and identities. It is used to navigate drones over Yemen, direct immigration police in the US, und modulate credit scores of human value and risk around the world. A wide-angle, multiscalar perspective on AI is needed to contend with these overlapping regimes.

Der “Atlas of AI” bleibt drei Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe ein Schlüsselwerk zur Diskussion der strukturellen, sozialen und ökologischen Dimensionen von KI.  Seit dem Erscheinen der Originalausgabe 2021 wurde der Atlas of AI in 10 Sprachen übersetzt. Forschungsverlauf und Reisen dazu reichen weitere zehn Jahre zurück. Es geht nicht um die Momentaufnahme eines bestimmten Jahres.
Was sich in den letzten beiden Jahren verändert hat, ist bekannt: Seit dem Launch von ChatGPT und weiterer KI- Modelle hat sich ihre Nutzung stark verbreitet, und die Investitionen  haben sich beschleunigt.
In einem Interview von  Juni 23* äusserte sich Crawford zu den Modellen  generativer KI: Sie sieht den Launch der Large Language Models (LLMs) als einen bedeutsamen Wendepunkt, etwas, das es in diesem Ausmaß seit langem nicht gegeben habe. LLMs sind nicht nur eine neue Schnittstelle, sondern ein neues Medium, über das wir in den kommenden Jahren Informationen erhalten und erstellen werden. Das Wachstum der LLM erfordert enorme Datenmengen, mehr Menschen, die hinter den Kulissen als Clickworker und in Fabriken arbeiten, und einen immer höheren Energieverbrauch – damit auch einen weiteren Anstieg von Emissionen.

Der Atlas der KI ist ein politisches Buch, ein Korrektiv zum Hype: Crawford geht es um den Zusammenhang von Kapitalismus, Computation und  Kontrolle (227). Sie thematisiert Arbeits-, Klima- und Datengerechtigkeit, um eine realistische Analyse der Umweltauswirkungen, Überreichweiten exekutiver Gewalt. KI wird als Teil eines Systems beschrieben, das auf einer Kette des Extraktivismus beruht, der alles andere als immateriell ist.

Manchmal wurde KI mit technologischen Sprüngen, wie der Einführung der Dampfmaschine oder der Elektrizität, verglichen. Innovationen, die zu ihrer Zeit ganz neue industrielle Möglichkeiten und Dynamiken eröffneten.
KI ist Teil der digitalen Revolution, oder besser: ein weiterer Schub der digitalen Evolution. Sie baut auf den Fortschritten in der Datenverarbeitung, Vernetzung und Rechenleistung sowie auf dem riesigen Umfang digital gespeicherten Wissens und von Verhaltensdaten auf.

wenig überraschend sind die Parallelen zum Überwachungskapitalismus von S. Zuboff (2018)

Deutlich sind die Parallelen zur Analyse des Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff (2018). Zuboff thematisierte die massenhafte Abschöpfung und Vermarktung von Verhaltensdaten, die zu einer Grundlage des digitalen (Plattform-) Kapitalismus wurde.
Beide Autorinnen beleuchten kritisch, wie digitale Technologien zu neuen Formen von Machtkonzentration und Kontrolle führen. Zuboff spricht von der Instrumentarisierung menschlichen Verhaltens, während Crawford die extraktiven Machtstrukturen hinter KI-Systemen aufdeckt. Beide Bücher sind sowohl wissenschaftlich fundiert, wie auch aktivistisch motiviert.

Social Media wie auch generative KI beruhen auf der digitalen Lesbarkeit von Kommunikation und Wissen – to capture the planet in a computationally legible form. Wissen über Verhalten und Verbindungen der Nutzer sind Geschäftsgrundlage. Beide Branchen nutzen Technologien, um wirtschaftlich verwertbare  Informationen abzuschöpfen, und werfen dabei Fragen zu Datenschutz, Ethik und Regulierung auf. Das Konzept der Landnahme lässt sich mit beiden verbinden: Die Einnahme und Bewirtschaftung des Digitalen Neuland.
KI macht das, was Digitalität auszeichnet: Sie zerlegt Inhalte in kleinere, analysierbare Einheiten, analysiert sie und fügt sie nach definierten Vorgaben wieder neu zusammen. Auf diese Weise lässt sich durchaus von einer Neuorganisation des Wissens sprechen.

Datenextraktion ist die neue Dimension: LLMs systems harvest everything that can be made digital, and then use it to train corporate AI models *.
Neben Text, Code etc. zählen dazu alle zugänglichen Medienformate in Bild, Ton/ Musik, Video/ Film, Daten über Menschen, wie Stimmen, Gesichtsbilder/ Selfies, Fahndungsfotos, Handgesten, Selfies, Tattoes bis hin zu Daten, die Haushaltsgeräte oder Schrittzähler sammeln. All das kann auch als Rohmaterial zur Generierung von  Avataren dienen. Sicherlich gibt es  Unterschiede in der Handhabung zwischen den Modellen. Letztlich setzt sich die Dominanz weniger Konzerne, wie wir es von BigTech kennen, fort.
Viele der abgeernteten Inhalte sind Produkte der Arbeit von Autoren, Künstlern und anderen Kreativen. Oft steckt langfristige Arbeit dahinter und/ oder es bestehen Urheberechte. Seit neueren wurden hier und da Nutzungsverträge abgeschlossen.
Neue Techniken sind eine Sache, kulturelle Rechte eine andere: Stehen sie tatsächlichen oder rechtlichen Urhebern zu, sind sie globale Allmende – oder steht den Entwicklern der neuen Technik die Abschpfung zu? Generative KI schickt sich an, diejenigen, von deren Inhalten sie lebt, in deren eigenem Markt zu ersetzen** (s.u.).

Aktuell scheint der Hype um KI etwas abzuflachen – vom Erreichen eines Plateaus ist immer öfter die Rede. Die jüngsten Fortschritte übertreffen die Erwartungen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor. Der Mehrwert der Verbesserungen scheint den Umfang der Investitionen nicht mehr zu rechtfertigen. Das bedeutet aber nicht, dass die Verbreitung generativer KI abflaut. Die jüngsten Fortschritte übertreffen die Erwartungen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor.
Die Autorin steht der Branche nicht fern: Sie ist, neben anderen akademischen Positionen, Senior Principal Researcher bei Microsoft Research New York, ist aber auch an Kunsprojekten im Spannungsfeld Technologie/ Macht beteiligt, so an dem  2025 in Mailand geplanten Projekt Calculating Empires: A Genealogy of Technology and Power, 1500–2025.

Die deutsche Ausgabe gibt es als Atlas der KI: Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien  für 32 € bei C.H. Beck, die englische ist für  18 € als Paperback bestellbar. 

Kate Crawford: Atlas of AI. Yale University Press. 2021. 327 S.  de: Atlas der KI . Übers: Frank Lachmann  8/24 — KI ist von vorn bis hinten Politik – Interview mit Kate Crawford. FAZ am Sonntag. 18.08.2024, S. 33. Calculating and Powers: Interview with Kate Crawford– * Mining for Data: The Extractive Economy Behind AI – Green European Journal 13.06.2023.  John Wyatt et al.: Atlas of AI’ by Kate Crawford: a review In. Evangelical Focus. Tech Human, 16.08.2023. + **vgl.: Matthias Hornschuh, In: KI-Training ist Urheberrechtsverletzung Initiative 4.09.24  —  *so der franz./ amerikan. Gründer von Hugging FaceClément Delangue auf LinkedIn. – 14.09. 

KI im zweiten Jahr des Hype – BigTech wird zu BigAI

So sieht sich Chat GPT selber

Auch Technologien brauchen eine Geschichte, um verstanden zu werden, oder zumindest um eine Erwartung an sie aufzubauen.  Und es ist ein länger währender Prozess, bis sie zum Teil unserer Zivilisation werden.
Das Internet wurde als  Beginn einer neuen Medienepoche der Menschheitsgeschichte* begrüsst – und war mit einer Aufbruchsstimmung zu einer partizipatorischen Kultur verbunden. Historisch wurde der Einschnitt oft mit der Einführung des Buchdrucks verglichen.
Das Metaverse knüpfte an Bilder einer parallelen Welt oder eines begehbaren Internet an, die aber langsam verschwanden bzw. zurückgefahren wurden. Der Hype ist abgeflacht, die Entwicklung geht aber in Richtung immersive Technologie bzw. räumliches/ Spatial Computing voran.

KI ist mit zahlreichen Mythen der Popularkultur verbunden, vom Golem bis zum Supercomputer HAL. Chat GPT und seine Mitbewerber wurden anfangs oft wie eine Art Zauberkasten wahrgenommen, der auf erstaunliche und oft unerwartete Weise ganz unterschiedliche Aufgaben löst.
Öffentliche Wahrnehmung und Diskussion haben sich seit Beginn des Hype erweitert und differenziert – in der Kritik, wie im Ausbau der Nutzung.
Es fallen Vergleiche zu Innovationen, die die industrielle Entwicklung ausgelöst oder erneuert haben: zur Dampfmaschine, zur Elektrizität. Rafael Laguna de la Vera,  Chef der Bundesagentur SPRIND setzte noch einen drauf: Wenn der Computer das Fahrrad fürs Hirn (Steve Jobs) ist, dann ist KI die Rakete Die 🚀  wird übrigens – informell – als Emoji für KI- generierte Inhalte verwendet 
KI und der Hype dazu – das sind zwei verschiedene Phänomene. KI ist ein technologisches Konzept mit seinen eigenen Grundlagen und Möglichkeiten, ein Fundament für verschiedenste technologische Anwendungen und Entwicklungen, die noch längst nicht zu Ende gedacht, noch weniger umgesetzt sind. Die heutigen Modelle der generativen KI sind eher frühe Versionen von dem, was möglich ist. Für manche sind sie bereits  ein Aufbruch in eine neue Zeit. Der Hype lässt sich als Vorbote einer neuen technologischen Revolution verstehen ( vgl. Gunnar Sohn 8/24).

Der Hype ist ein ökonomisches und popular- kulturelles Ereignis.  Er ist nicht gratis, weder ökonomisch, noch nach Kriterien der Nachhaltigkeit. Tech companies übertreffen sich gegenseitig im massiven finanziellen Einsatz. Es gibt jedoch noch kein klares Geschäftsmodell, abgesehen von der Steigerung der Cloud-Gewinne für Big Tech. Starke finanzielle Anreize treiben die Entwicklung an und lassen sie  heisslaufen – so übersteigt der Hype oft die tatsächlichen technologischen Möglichkeiten.
Schon die bisherigen Investionen sind gewaltig. Rechnet man veröffentlichte Zahlen zusammen, kommt man schnell auf mehrstellige Mrd – Beträge Investitionsvolumen. Bis 2025 werden 200 Mrd angenommen (vgl. ai-investment- statistics). I don’t care if we go through $500 million, $5 billion, or $50 billion a year, as long as we’re moving the needle on AI – so ein Statement von Sam Altman (5/23), das den Willen zur Umsetzung verdeutlicht.

Mit den Investitionen entsteht eine globale Infrastruktur:  Die Cloud- basierten Services der BigTech Giganten, die nun auch zu BigAI Giganten werden: There is no AI without Big Tech.  Sie bieten Plattformen und Werkzeuge, die als Rückgrat von KI-Innovationen dienen und es ermöglichen, KI in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft und des täglichen Lebens zu integrieren.
Es gibt aber noch kein klares Geschäftsmodell, abgesehen von der Steigerung der Cloud-Gewinne für Big Tech durch die Bündelung von KI-Diensten mit Cloud-Infrastruktur. Und ein Geschäftsmodell ist wichtig, wenn es um Systeme geht, deren Training und Entwicklung Hunderte Millionen Dollar kosten kann (vgl.  Amba Ka et al., s.u.). 
Welche Rollen, welche Funktionen von KI eingenommen werden, ist noch längst nicht klar. Chatbots wie Chat GPT, werden etwa oft als eine Art persönlicher Assistent genutzt, haben aber im professionellen Einsatz bislang  ihre Grenzen.

Share of Industry Employment Exposed to Automation by AI. Quelle: Goldman Sachs. Global Economics Analyst – öffnet sich nach Klick in voller Auflösung

Singularisierte Automatisierung – gemeint sind KI-basierte Anwendungen, die jeweils spezifische Prozesse oder Funktionen automatisieren.. Es bedeutet die Automatisierung jeweils einzelner, spezifischer Prozesse oder Funktionen. Automatisierungen, die sich nach den jeweils erkannten Mustern richten – und in sehr unterschiedlichen Kontexten eingerichtet werden können.

Die Durchdringung von Branchen durch KI verläuft sehr unterschiedlich. Pharma- und Biotechnologiebranche profitieren etwa stark von generativer KI. Allgemein dringt KI dort am schnellsten vor, wo eine stark strukturierte Kommunikation vorherrscht, wie etwa in Kundensupport-Systemen, in IT, Marketing und Vertrieb. Branchen, die von standardisierten Verwaltungstätigkeiten oder strukturierten Prozessen geprägt sind – wie die Rechtsbranche mit ihrer präzisen Argumentation – gehören ebenfalls zu den Vorreitern (s. Abb.).
Aber niemand  sollte sich bei Problemlösungen allein auf einen Chatbot verlassen:  Vorsicht vor Botshit: ein Schlagwort für unwahre, ungenaue, unsinnige Chatbot- Inhalte, die unreflektiert übernommen werden (André Spicer, s.u.).  Qualitätskontrolle bleibt notwendig.

KI ist selbst ein bedeutendes und lukratives Feld von Weiterbildung und Beratung. Klassische betriebswirtschaftliche Argumente  wie Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Standort, Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Zeitersparnis, Kosten- aber auch Personaleinsparung -streuen sich ein. Es geht um Effizienzsprünge, manche Schätzungen sprechen von Produktivitätszuwächsen von bis zu 70%.“
Diese Versprechungen sind wohl nur in ganz bestimmten Workflows und mit darauf zugeschnittenen Lösungen erreichbar.  So brüstete sich der schwedische Finanzdienstleister Klarna kürzlich, nach der Einführung von KI die Hälfte seiner Mitarbeiter einsparen, d.h. entlassen zu können.
Ob die mit KI verbundenen Versprechen von enormen Produktivitätssteigerungen tatsächlich gesamtwirtschaftlich realisiert werden können, bleibt abzuwarten. Der Return on Investment (ROI) scheint bislang keine zentrale Rolle zu spielen.

Zwei allgemein bekannte Muster von Hypes lassen sich sicherlich auch auf den KI- Hype beziehen:  der Gartner Hype Cycle– mit den auf- und absteigenden Kurven der Aufmerksamkeit. Ebenso Amaras Gesetz   Menschen neigen dazu, die Auswirkungen einer Technologie anfangs zu überschätzen, auf lange Sicht aber zu unterschätzen.
Die wesentlichsten Wirkungen des KI- Hypes liegen wohl anderswo: Hunderte Millionen Menschen haben Generative KI ausprobiert bzw. getestet – sie machten dabei einige ähnliche Erfahrungen:  ganz vorn steht die, mit Computern in der eigenen Sprache umzugehen – das Betriebssystem, das Menschen am besten verstehen.
Generative KI hat unsere Fantasie beflügelt,  die Hoffnungen und Ängste vieler Menschen über den Aufstieg intelligenter Maschinen genährt: grenzenlose Produktivität, grenzenlose Informationen, grenzenlose Fehlinformationen. Prompten ist die Kulturtechnik, gezielte Ergebnisse zu erreichen.  Zu den Möglichkeiten gehört aber genauso die erleichterte Produktion von mit Absicht erstellten Fakes und ihre Verbreitung.

KI ist nicht nur eine Querschnittstechnologie, die in vielen Branchen Veränderungen auslöst, genauso wirkt sie auf zahllose gesellschaftliche Bereiche ein. Chatbots sind als popular- kultureller Motor wahrscheinlich bedeutsamer  denn als technisches Werkzeug.
Zwei Beispiele in denen KI kulturelle Verwerfungen mit sich bringt: In einem der letzten Blogbeiträge hatte ich Digital Afterlife  thematisiert, das Weiter- Bestehen der Kommunikation mit den Avataren von Verstorbenen   –  ein Format, das tief in unsere Vorstellungen von Tod und Trauer eingreift.
Ein ganz anderes Beispiel: Der spanische Fast Fashion Gigant Mango meldete, statt menschlicher Models nur noch KI- generierte Models einzusetzen.
Es lässt sich als  Schritt in eine Synthetisierung von Schönheitsidealen lesen. Bildgenerierungen erinnern tatsächlich oft an über- standardisierte Stock- Photos –  genauso können sie als ästhetisches Experimentierfeld dienen.

Letztlich wird der Hype um KI aber angetrieben durch die geschäftlichen Interessen von BigTech – es geht um die Landnahme in einem neuen Feld: Big Tech erweitert zu BigAI.
Ohne signifikante Eingriffe wird der KI-Markt letztlich dieselben Unternehmen belohnen und stärken, die bereits von den Gewinnen des invasiven Geschäftsmodells der Überwachungsgesellschaft profitiert habe, das das kommerzielle Internet angetrieben hat – oft auf Kosten der Öffentlichkeit (vgl.  Amba Ka et al., s.u.).
Konzentrierte Macht ist nicht nur für Märkte ein Problem. Sind wesentliche Teile der Infrastruktur in den Händen weniger Unternehmen oder Entscheidungsträger, wird dies zu einem Problem für Demokratie, Kultur sowie individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit.

KI bleibt ein zentrales Thema öffentlicher Aufmerksamkeit, sie verbreitet sich zunehmend in unserem Alltag. In ihrem Gebrauch bilden sich mehr und mehr Alltagsroutinen.
Nach und nach, aufeinander folgend gab es die Hypes zur Blockchain/ Web3, zum Metaverse und nun KI.  Gemeinsam ist allen, rechenintensive Stromfresser  zu sein. So steht  der enorme Energieverbrauch der neuen KI- Infrastruktur in der Kritik. Ohne breit verfügbare erneuerbare Energie kann sich der Planet KI in diesem Ausmass   nicht leisten.

 

*vgl. : Dirk Baecker: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt – ² Gunnar Sohn 8/24 –P. McCarthy, Timothy R. Hannigan, and André Spicer: The Risks of Botshit  AI And Machine Learning. In : Harvard Business Review 17.07.2024  André Spicer: .Beware the ‘botshit’: why generative AI is such a real and imminent threat to the way we live. The Guardian 3.01.2024. Matteo Wang: What ChatGPT Has Changed in Its First Year – The Atlantic. 16.01.24  – Silicon Valleys Trillion Dollar Leap of Faith: Tech companies are spending as if AI’s transformative uses are a foregone conclusion. They’re not. The Atlantic 29.07.2024 —  Charlie Warzel: This Is What It Looks Like When AI Eats the World. The Atlantic  Thomas Ramge: Wie sieht eine gute Zukunft mit KI aus? Eine Fortschrittserzählung Juli 2024. Robert Peters, Klaus Burmeister, Wenke Apt: Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz , fünf Kurzszenarien zur „Mensch-Technik- Interaktion 2030“ Holger Schmidt: Generative KI bringt aktuell mehr Produktivität, aber kaum Umsatzzuwachs. FAZ 24.07.2024. Der Hype nähert sich dem Ende.  D2030 FuturesLounge 3.07.2024: KI-ein Schlüssel zur Welt von morgen. Passt er zur deutschen KI-Strategie?Jaron Lanier: How to Picture A.I. ´The New Yorker. 01.03. 2024. Jupus: KI im Anwaltssekretriat  — vgl. auch:  L’I.A. est un concept. pas un produit Daron Acemoglu:  The Simple Macroeconomics of AI* 05/2024. Fred Cavazza: L’ I.A. est un concept, pas un produit. 06/2024.   Doris Aschenbrenner, Robert Peters: KI ist tot! Es lebe die hybride Intelligenz. Tagesspiegel 2.08.24. – — From Burnout to Balance: AI-Enhanced Work Models. Upwork.com 23.07.24. – Amba Kak et al: Make no mistake—AI is owned by Big Tech. MIT Technology Review 05.12.2023 , Melissa Heikillä: Here’s how people are actually using AI. MIT Technology Review 14.08.2024



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