Der Browser mit dem Informationsüberschuss

Deep Dive im Datenmagma: KI- Browser Atlas von Chat GPT

OpenAI hat in der letzten Woche den Browser ChatGPT Atlas vorgestellt. Ich habe ihn heruntergeladen und genauer angeschaut.

Atlas zählt zur neuen Generation von  KI-Browsern und wird von OpenAI als konsequente Weiterentwicklung des Browsers im Zeitalter der KI vorgestellt.  In der KI-Integration geht Atlas weit darüber hinaus, was etwa Comet von Perplexity bietet.
Standardmässig zeigt der Browser bei Suchanfragen keine Link- Liste, sondern eine KI-generierte Übersicht zum Suchbegriff an. Schlechte Zeiten für die Betreiber der Websites des World Wide Web- die Zugriffe auf ihre Inhalte werden sich so verringern. Für Medien, Blogs, kleinere Anbieter und wissenschaftliche Seiten bedeutet das einen massiven Verlust an Reichweite.

Atlas zu benutzen erfordert zunächst  eine Anmeldung mit einem bestehenden oder neu zu errichtenden ChatGPT Account – von da an ist man fest verbunden. Atlas ist kein Browser mit ChatGPT, sondern ChatGPT mit Browserhülle.

Kaum eingeloggt, werde ich vom Bot wie ein alter Bekannter begrüsst, mit persönlich angepasster Wortwahl – als ob ich in ein neues Wunderland eintrete und gleich an die Hand genommen werde. Meine Fragen nach den Funktionen, was neu ist im Vergleich zu anderen Browsern – und auch eine soziologisch-kritische Einschätzung,  werden umfassend beantwortet, alles erfolgt  in demselben persönlich zugeschnittenen Ton.

Kein Wunder, denn Atlas greift auf ein Archiv, (oder nennt man es besser Dossier?) zurück., in dem das wesentliche aus knapp drei Jahren (seit 1/23) mehr oder weniger intensiver Chat GPT Nutzung gespeichert ist.  Es gibt einen Ort dafür – das sind die Erinnerungen/ Memories, einsehbar über Einstellungen <Personalisierung.
Alle Memories beginnen mit Der Benutzer hat…/arbeitet an…/ befasst sich mit… und fassen den Inhalt der einzelnen Sitzungen zusammen. Mir wird mulmig dabei, mit dem Gefühl, das eine neue Schwelle automatisierter Überwachung überschritten wurde. Dabei fällt mir ein Erlebnis ein, als ich vor Jahren in einer Büroschublade Merkzettel fand, kurze,  indiskrete Notizen zu den persönliche Eigenheiten von Mitarbeitern, Geschäftspartnern und Kunden. Nicht offiziell, sondern private Gedächtnisstützen. Aber wirksam bei späteren Entscheidungen.

Die Memories lassen sich zwar deaktivieren, doch wenn sie aktiv sind, merkt sich Atlas, was man liest, sucht, formuliert – quer über Tabs und Sitzungen hinweg. Kein klassischer Verlauf mehr, sondern ein zweckgerichtetes Gedächtnis, das Muster erkennt und verdichtet. Dieses Erinnerungsfeld gehört nicht mehr dem Nutzer, sondern wird im Ökosystem von OpenAI verwaltet.
Dann gibt es die Einstellung Browsing und Suche verbessern helfen  unter Datenkontrolle: Sie erlaubt es, Atlas regelmäßig Teile des Surfverlaufs und der Nutzungsdaten an OpenAI zu senden.
Die eine Funktion schafft ein Gedächtnis im System, die andere füttert das System selbst – zusammen bilden sie das Reservoir eines neuen Informationsüberschusses.

Der Begriff geht zurück auf Niklas Luhmanns Verweisungsüberschuss von Sinn. Neue Medien oder Techniken stellen Möglichkeiten bereit, für die es zunächst keine konkrete Verwendung gibt.
Shoshana Zuboff beschrieb 2018 in ihrer Analyse des Überwachungskapitalismus, mit  Verhaltensüberschuss jenen Anteil an Nutzerdaten, der nicht zur Verbesserung von Diensten gebraucht, aber dennoch gesammelt wird. Bei Google wurde aus diesem Überschuss ein Geschäftsmodell. Der Verhaltensüberschuss ermöglichte Vorhersagen über künftiges Nutzerverhalten und damit personalisierte Werbung.  Daten, die vorher ungenutzt blieben, wurden zu verwertbaren Aktiva.

Bei Google waren es Klicks und Verweildauer, in der KI- Datenwirtschaft geht es um Gedankenbewegungen und Formulierungen, um das stille Konzentrat aus Interaktionen, Emotionen, Lese- und Schreibgewohnheiten, das im Hintergrund entsteht. Der Nutzer wird nicht mehr beobachtet, sondern begleitet.
Ein qualitativ neuer Datenrohstoff entsteht. Nicht was jemand tut, sondern warum,  das semantische Profil eines Subjekts. Diese Informationsdichte ist ökonomisch wertvoller als Klicks oder Käufe, weil sie Vorhersage durch Verständnis ersetzt. Hier entsteht der entscheidende neue Informationsüberschuss. 

Mein erster Eindruck bestätigt sich: Atlas (und das ChatGPT-Ökosystem insgesamt) markiert einen Paradigmenwechsel: Die KI wird nicht mehr aufgerufen, sondern ist dauerhaft präsent. Nicht mehr Werkzeug, sondern Begleiter, nicht mehr Reaktion, sondern Präemption – vorauseilende Handlung. Die KI vergisst nicht, sie akkumuliert. Das System soll vor dem Nutzer wissen, was er braucht, denkt oder sucht.

Der ökonomische Hintergrund erklärt die Dringlichkeit. OpenAI steht trotz Milliardenumsätzen vor massiven Verlusten – die enormen Kosten für KI-Training und -Betrieb übersteigen die Einnahmen. Ein eigener KI-Browser soll neue Einnahmequellen erschließen und durch direkten Nutzerzugang, Datensammlung und darauf folgende Monetarisierung die wirtschaftliche Position stabilisieren.
Browser sind mehr als Software, sie sind die Zugangspforten zur digitalen Öffentlichkeit, Schnittstelle zwischen Nutzer und Web. Sie definieren, wie Inhalte dargestellt werden, welche Daten gesammelt und wie sie genutzt werden. Wer den Browser kontrolliert, beeinflusst Nutzungsverhalten und  kollektive Gewohnheiten, die Art und Weise, wie Menschen das Internet erleben.
Es geht um die Vormacht im Netz. Seit über einem Jahrzehnt dominiert Google mit Chrome den Browser-Markt – mit etwa 68% Marktanteil erreicht das Unternehmen Milliarden Nutzer. Chrome ist auf die Interessen des Mutterkonzerns Alphabet optimiert: nahtlose Integration mit Google Search, direkte Anbindung an Ad-Systeme, Kontrolle über Datenflüsse. Jede Browser-Ära war nicht nur Technik-Wettbewerb, sondern Kampf um die Kontrolle des wirtschaftlichen Ökosystems im Netz.
Atlas ist OpenAIs Versuch, diese Hegemonie zu brechen, ein Machtkampf mit offenem Ausgang. Google/ Alphabet ist nicht wehrlos: Gemini könnte in Chrome integriert werden, und hätte sofort Milliarden Nutzer. Der Unterschied läge dann nicht mehr in der Technologie, sondern nur noch darin, wessen Informationsüberschuss wächst.
Eine solche Verschiebung. vom Modell des Verhaltensüberschusses zum Informationsüberschuss im Digitalen Kapitalismus ist absehbar. Eine Entscheidung zwischen den Kontrahenten ist noch offen.

Ich bin nicht der einzige, dem ein Unbehagen aufstösst. t3n, eine wichtige Stimme in der deutschen Digitalwirtschaft, beschreibt Atlas allerdings  als clever integrierte Innovation, als den bislang beeindruckendsten KI-Browser. Sicherheitshinweise erscheinen als Randnotiz, Privacy-Einstellungen als Formalität.

Die bisher schärfste Warnung kommt nicht aus den Zentren der digitalen Wirtschaft, sondern aus NordmazedonienBozidar Spirovski (Skopje) warnt auf LinkedIn eindringlich und konkret. Seine Einschätzung: Atlas sollte nicht mit geschäftlichen Daten genutzt werden. Der Browser hat Zugriff auf alle offenen Sessions – E-Mail, CRM, interne Tools. Alles, was parallel geöffnet ist, kann von der KI verarbeitet werden.
Spirovski benennt fünf konkrete Risiken: Erstens können bösartige Websites den Browser-Agenten kapern (Prompt Injection). Zweitens werden Inhalte aller Tabs auf OpenAI-Servern verarbeitet – ohne dass Kunden dem zugestimmt haben. Drittens bedeutet ‘Löschen‘ nicht wirklich löschen: OpenAI stand bis Oktober 2024 unter Gerichtsbeschluss, alle Logs zu bewahren. Viertens gibt es keinen wirklich privaten Modus – selbst Incognito speichert 30 Tage. Fünftens ist fast jede geschäftliche Nutzung mit Kundendaten ein potentieller GDPR-Verstoß.
Besonders brisant ist der Agent Modus (nur in der Pro-Version). Was als Convenience gedacht ist – die KI bucht einen Flug, füllt ein Formular aus –, wird zum Sicherheitsrisiko: Ein gehackter oder manipulierter Agent könnte auf alle eingeloggten Dienste zugreifen. Für europäische Unternehmen bedeutet das: Ein Mitarbeiter, der Atlas nutzt, während er im Kundensystem eingeloggt ist, erzeugt automatisch eine meldepflichtige Datenübermittlung in die USA.

Bisher habe ich im Consumerbereich keine übergriffigere Software erlebt. Mit Atlas verschiebt sich das Verhältnis zwischen Nutzer und System erneut – von der Überwachung des Verhaltens (Google) zur Begleitung der Handlung (OpenAI). Die Maschine beobachtet nicht mehr aus der Ferne, sie begleitet den Nutzer beim Denken, Lesen, Schreiben. Das ist keine Übertreibung, sondern Funktionsbeschreibung.
Das genannte  Dossier ist nicht bösartig an sich – es ist ein Ordnungssystem. Aber jedes Ordnungssystem kann in Überwachung kippen, sobald die Zweckbindung entfällt. Ein Staat, der Zugriff auf so ein Archiv hätte, hätte nicht nur Daten, sondern auch die Denkspur. Er sähe nicht nur, was man getan hat, sondern warum. Das ist neu. 

Hinter dem Start von Atlas stehen ökonomische Gründe. OpenAI steht unter massivem wirtschaftlichem Druck. Mit den wachsender Nutzerzahlen steigen die Kosten mehr als die Einnahmen. Atlas soll Nutzer an das OpenAI-Ökosystem binden und durch sie kontinuierlich Trainingsdaten generieren, um die explodierenden Kosten für Datenakquise zu senken. Was als personalisierte Erfahrung vermarktet wird (Memories, Browsing-Integration), ist aus dieser Perspektive ein System zur kostenlosen Extraktion von Trainingsdaten. Nutzer werden zu unbezahlten Datenlieferanten für zukünftige Modelle -die Neuauflage eines erprobten Modells.

Für LinkedIn habe ich diesen Text noch einmal überarbeitet und neu zusammengefasst: Link



Der Wert von Kultur- und Wissensarbeit im Zeitalter von KI

Wir geben uns auf nennt Autor Matthias Hornschuh seine Schrift zu KI, Kultur und die Entwertung der Wissensarbeit.
Seine Perspektive ist die der Kulturproduzenten – deren Interessenvertreter (Initiative Urheberrecht) er ist.  Das Buch ist eine Verteidigung der Unersetzlichkeit subjektiver Erfahrung, eine Streitschrift für das Recht auf Autoren- und Urheberschaft – und eine angemessene Beteiligung an der Wertschöpfung.

Was das Buch für die weitere Diskussion interessant macht, ist die grundsätzliche  Frage nach dem Wert von Kultur- und Wissensarbeit in Zeiten von KI. Das gilt für Musik, wie für Bilder, Texte und wissenschaftliche Arbeit.

Matthias Hornschuh ist Filmkomponist, ein Zweig der Musikwirtschaft, der besonders von Einnahmeverlusten durch KI bedroht ist. In keiner anderen Branche ist der Widerstand gegen die Landnahme der KI-Konzerne so ausgeprägt wie bei Musikern. Die KI kollidiert mit ihrem Selbstverständnis: Musiker definieren sich über ihre Kunst, und ihre Einkünfte beruhen (neben Live-Auftritten) auf urheberrechtlich gesicherter Verwertung.
Jede wertschöpfende Nutzung erzeugt für die künstlerischen Urheber einen Anspruch auf Vergütung. Es gibt ein funktionierendes System von Urheberrechtsschutz und Verwertungsgesellschaften.

Genau dieses System wird durch generative KI unterlaufen. Die KI-Modelle werden millionenfach mit rechtlich geschützten Musikstücken trainiert – ohne Erlaubnis, ohne Lizenz, ohne Kompensation. Sie extrahieren aus Werken, die in künstlerischer Arbeit entstanden sind,  verwandeln sie in Rohmaterial zur algorithmischen Rekombination und setzen damit das eingespielte Vergütungssystem außer Kraft.
Entstehen daraus neue Werke, stellt sich die Frage, ob sie als eigenständige Werke  zu verstehen, oder Originalen zu ähnlich sind und damit Urheberrechte verletzen. Plagiate sind in der Musik vergleichsweise leicht nachweisbar, bereits kurze, aber prägnante Melodien sind geschützt.
Ein Musiker bzw.  Komponist, dessen Werke ohne Erlaubnis und Vergütung zum KI Training gekapert wurden, erlebt es genauso als ökonomische Bedrohung, wie als einen Übergriff auf seine Identität, ganz besonders bei  der Imitation von Stilen und dem Klonen von Stimmen.  Der Übergriff der KI- Unternehmen wird als Diebstahl erlebt und auch so genannt.  

KI-generierte Sounds haben sich vor allem dort ausgebreitet, wo Musik funktional, nicht künstlerisch ist: lizenzfreie Hintergrundmusik für Werbung, Online-Content, Games, Klangteppiche in Shopping-Malls (die tatsächlich als Beschallungspakete verkauft werden). All das, was als Muzak oder Fahrstuhlmusik geschmäht wird, hat aber als stabile Einkommensquelle ambitionierte Arbeiten oft querfinanziert.

Einschätzungen und Nutzungsmuster von KI unterscheiden sich in anderen Branchen der Kreativwirtschaft deutlich von denen in der Musikwirtschaft. Es gibt Parallelen. Generell gilt, dass funktionale, routinehafte Formate, wie z.B. Stockfotografie, Technische Dokumentationen, Transkriptionen von KI übernommen werden bzw. es bereits sind. Kreative Formate behalten ihren Singularitätswert, mit all den Marktrisiken wie bisher.

Textarbeiter sehen sich nur selten als Künstler. Urheberrechte gelten zwar, spielen aber eine geringere Rolle. Auf der Website des Deutschen Journalisten-Verbandes heisst es zwar an prominenter Stelle Qualitätsjournalismus lebt von menschlicher Recherche. Generative KI, die nur wiederkäut, was bereits gedacht und gesagt wurde, kann keine neuen Perspektiven schaffen. In der Praxis herrscht ein  pragmatischer Umgang. Derselbe Verband bietet Fortbildungen zu KI an – wie auch fast alle anderen als Fortbilder bekannten Träger.  KI-Kompetenz wird als von jetzt an für Journalisten wesentlich erachtet.
KI wird als Werkzeug  gesehen, das Routinen erleichtert. In diesem Sinne wird sie mit fast dem gleichen Selbstverständnis genutzt, wie Textverarbeitung und Suchmaschinen. Ihre Stärke liegt nicht in der Erstellung kompletter Texte, sondern in der Assistenz im gesamten Schreibverlauf, bei der Recherche, Strukturierung, Formulierung, Korrektur etc.

Oft werden Geschichten von halluzinierenden Antworten der KI erzählt, von Anwälten, die ungeprüft KI- erzeugte Plädoyers einreichen etc., so auch in  Hornschuhs Text. Jeder, der sich bislang mit KI befasst hat, hat wohl die Erfahrung gemacht, das man den Ergebnissen nicht blind vertrauen kann. Komplette Automatisierung gelingt nur bei niedriger Komplexität.
Für komplexere Aufgaben muss KI gezielt eingesetzt, geradezu bespielt  werden, nicht nur mit Prompts. Was KI nicht kann, ist eigenständige Recherche, kritisches Urteil. Sie kann Muster erkennen, aber nicht Neues denken, das über diese Muster hinausgeht.

KI-Training klingt harmlos, aber allein im Musikbereich geht es um mindestens 100 Millionen Songs – das gesamte verfügbare Repertoire von Spotify, YouTube, SoundCloud. Manchmal ist vom gesamten digital verfügbaren Kulturerbe der Menschheit die Rede, von der umfangreichsten kulturellen Aneignung der Geschichte. Der Begriff der Landnahme trifft diese Dimension.

Es gibt ein Grundproblem, den Elefanten im Raum, das sich seit dem Social Web und dem Plattformkapitalismus fortsetzt. Es ist die übergrosse und dazu bislang juristisch privilegierte  Macht der Intermediäre, der Vermittler von Inhalten, die sie zwar nicht selber erstellen, aber durch algorithmische Auswahl, Aggregation und  Präsentation vermitteln.
We are building a brain for the world – Sam Altmans Satz in einem Interview im Juni 2025  erschreckt durch sein imperiales Wir. Gemeint ist die gesamte Branche, nicht Open AI allein.
Ist die Tech- Branche dazu ermächtigt, Wissensgewinn, Kreativität und Kommunikation für uns alle neu zu gestalten? Was zuvor Gemeingut oder urheberrechtlich geschützt war – Internet, Kultur, Wissen – wird nun von Tech-Konzernen eingehegt. Sie trainieren auf der digitalen Allmende – und privatisieren die Erträge.  Es geht um  Landnahme, die Einnahme und Monopolisierung des durch die Wirkung neuer Technologien entstehenden Raumes.
KI kann hervorragend Werke und Texte nach erkannten Mustern produzieren.  Die spannendsten Momente entstehen allerdings nicht durch deren perfekte Beherrschung, sondern durch deren überraschende Brechung. Es setzt voraus, dass jemand will, dass etwas anders läuft – eine Intention, die KI allein nicht haben kann.

Eine grundsätzliche Kritik hatte Kate Crawford bereits 2021 im Atlas of KI (Rezension) formuliert: die Kultur der Extraktion – Gemeint ist die Abschöpfung von Zulieferungen materieller, operativer und ideeller Art. Hinzuzufügen ist kulturelle Extraktion. Lässt sich anschliessend an den Überwachungskapitalismus (Shoshana Zuboff) von einem Extraktionskapitalismus sprechen?

Wie Kunst entsteht, was dafür nötig ist, welcher Aufwand von wem an welcher Stelle zu treiben ist, darüber legen die Produkte der Arbeit keine Rechenschaft ab (19).  Ein Song mag in zehn Minuten geschrieben sein, aber er ist das Destillat jahrelanger Übung, gescheiterter Versuche, durchlebter Erfahrungen. Ein Text wirkt mühelos, weil die Mühe unsichtbar wurde. Am Ende zählt die Wirkung, die Bereicherung, oder die gelungene Unterhaltung (vgl. 19).  Kunst verschleiert ihre eigenen Produktionsbedingungen – und KI radikalisiert diese Verschleierung: Sie produziert in Sekunden, was wie das Ergebnis jahrelanger Arbeit aussieht, ohne je etwas erlitten, durchgearbeitet, verworfen zu haben.

Referentialität – die Nutzung bestehenden kulturellen Materials in aktuellen Produktionen – kennen wir seit langem: Remixes, Collagen, MashUps, Coverversionen, das Konzept Retro, Inszenierungen wie Cosplay: Bedeutungszuweisungen werden zusammengeführt. Aus Vorhandenem entsteht Neues, aber durch bewusste Auswahl, Kontextverschiebung und Neuinterpretation.  Autorenschaft bleibt bestehen.
KI entgrenzt die kulturelle Referentialität, ihre Quellen, Ursprünge und Autorenschaften sind nicht mehr erkennbar: Kulturelle Extraktion entsprechend dem Modell von Kate Crawford.

Die Frage, wie denn in Zukunft das Neue in die Welt kommt, zieht sich durch Hornschuhs gesamten Text. Daran lässt sich eine zweite Frage anschliessen: Inwieweit sind die Effekte der KI für den Nutzer  beherrschbar? Wie gelingt der Zufluss neuer, innovativer und vielfältiger Inhalte, wenn das Wissen der Welt in einer Datensuppe gespeichert ist?  KI kann daraus Muster rekombinieren, aber nicht diese Muster brechen.
Daneben bleibt weiterhin die Frage der materiellen Entgeltung kreativer Arbeit und Wirkung. In der Musik mag das Urheberrecht einigermassen funktioniert haben. Für Schreibende sind die Ausschüttungen der VG Wort höchstens ein nettes Zubrot.
Seit gut 30 Jahren wird Kultur- und Kreativwirtschaft als eigenständiger Wirtschaftsfaktor vermessen – und damit auch politisch und ökonomisch aufgewertet.

Bild: unsplash +

Die heute verbreitete Vorstellung, dass diese Branchen ökonomisch und gesellschaftlich zentral sind, geht wesentlich auf Richard Florida zurück – auch wenn sein Konzept mittlerweile umstritten ist. Die 2002 von ihm beschriebene Creative Class galt als Träger des Übergangs von einer industriellen zu einer postindustriellen, wissensbasierten Gesellschaft.

Der Begriff Creative Class war von Beginn an weit gefasst: Gemeint sind alle, die neue Ideen, Technologien und kreative Inhalte schaffen – von Wissenschaft, Technik und Forschung über Management und Beratung bis zu den Künstlern der einzelnen Genres. Als gesamtes Cluster sollten sie Wirtschaftswachstum anstoßen.

Zentral war der Dreiklang von Technologie, Talent, Toleranz, als maßgeblicher Standortfaktor und Rezept für erfolgreiche urbane Entwicklung. Städte warben mit lebendigen Kreativszenen: Berlins zeitweiliges Motto „arm, aber sexy”, der Boom in Barcelona, unzählige Kreativzentren von Lissabon bis Tallinn. Die Creative Class gilt weiterhin als Trendsetter für neue urbane Konsumgewohnheiten – von Craft Beer bis zur Öffnung des Konsums zur Popularkultur.
Der Alltag liegt allerdings zwischen Glamour und Prekarität. Kreative haben den Wert zahlloser Stadtviertel erhöht, in denen sie sich die explodierenden Mieten oft selbst nicht mehr leisten können. Kreative Metropolen wurden oft zu Hotspots von  Gentrification und  Overtourismus, zwischen denen die Kreativen oft zerrieben werden.

Was bleibt? Man kann die Entwicklung kulturpessimistisch sehen und eine Welt erwarten, die immer mehr von Algorithmen gesteuert wird. Man kann einen Crash des KI-Hypes voraussehen – aber was bleibt dann davon? Es gibt zentralistische Übergriffe, puristische Verweigerer und begeisterte Nutzer – und es gibt den regulatorischen Bedarf.
Gegen Kulturpessimismus spricht, dass sich kreative Branchen, insbesondere Popularmusik, bisher immer neue Techniken angeeignet haben.

 

Matthias Hornschuh : Wir geben uns auf. KI, Kultur und die Entwertung der Wissensarbeit. 96 S.  Carl Auer Verlag. Update Gesellschaft. 9/2025. – u.: Den Kreativen steht das Wasser bis zum Hals. Börsenblatt 1.10.24 – Sounds of Science – Podcast zum. Buch  vgl.: Neue Studie belegt: KI-Training verletzt Urheberrechte. – KI in der Musikproduktion – Kreativer Partner oder Bedrohung für die Musikkultur? Maximilian Burger: Urheberrecht bei KI-generierten
Beiträgen: Handlungsbedarfe und Nutzungschancen für den Bildungskontext 2/2025. – KI in der Musikproduktion – Kreativer Partner oder Bedrohung für die Musikkultur? 16.6.25 (musik23)  – Franziska Busse, Jan Philipp AlbrechtKünstliche Intelligenz als Kreativschaffende?  25.04.25 (Heinrich- Böll Stiftung). 



Fünfzehn Jahre Blog – Digitaler Wandel als Zeitgeschichte

Durchblick – Bild: unsplash +

Fünfzehn Jahre sind ein Abschnitt der Zeitgeschichte. Solange betreibe ich jetzt diesen Blog – mittlerweile sind es knapp 200 Beiträge. Startpunkt war das Netnocamp bei der IHK Köln im September 2010.
Vorausgegangen war eine mit  Dreamweaver erstellte Website,  noch im Tabellen- Layout,  einige ältere  Texte (hier zu lesen) von dort habe ich übernommen .
Blogs waren einmal ein Kernstück der neuen digitalen Öffentlichkeit, man sprach von einer Netzkultur, bevor Social Media Plattformen diese Öffentlichkeiten übernahmen. 
Blogs bedeuten aber weiterhin die Unabhängigkeit, eigene Themen zu setzen, eine Personenmarke aufzubauen. Im besten Falle ein Autorenmedium, das eigenständige Publikation mit der Möglichkeit von  Vernetzung,  Diskussion und Akquise verbindet.
Den Titel Netnographie & Digitaler Wandel hatte ich damals adhoc vergeben. Die Themen haben sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, abhängig von der Entwicklung der digitalen Welt und den eigenen Schwerpunkten. Durch den ganzen Blog zieht sich ein differenzierter soziologischer Blick auf die mit technischen Innovationen verbundene gesellschaftliche Entwicklung der  letzten Jahrzehnte – geschrieben in  einem essayistischen Stil.

Netnographie war 2008 / 2010 ein Thema der Stunde und schien als die der neuen Digitalen Öffentlichkeit angemessene Forschungsmethode.
Popularkultur hatte sich ins Internet verlagert. Digitale Subkulturen, neue Formen von Vergemeinschaft und ihre Bedeutung für das Marktverhalten standen im Vordergrund. Das Interesse an Netnographie entwickelte sich in diesem Zusammenhang rasch. Im Handbuch der Online- Forschung (2014) konnte ich einen längeren Beitrag dazu veröffentlichen. Eine Reihe kleinerer Beispiele (so zu Vegan, Overtourismus, Fairtrade) sind im Blog dokumentiert.
Fun- Fact: eine Zeitlang wurde ich oft von Studenten zu ihrer Abschlussarbeit kontaktiert, aber nie aus der Soziologie oder verwandten Fächern, so gut wie  immer aus der BWL.
Ganz durchsetzen konnte sich Netnographie in der deutschsprachigen Forschungslandschaft nicht. Der Name weckt Erwartungen auf einfache Art Consumer Insights zu gewinnen – eine eher technische, instrumentelle Sichtweise. Die Unterscheidung zum Monitoring, heute meist Listening genannt, fällt in der Praxis oft schwer, obwohl Monitoring auf datenbasierte Sammlung abzielt und Netnographie auf kulturelle Analyse.
Netnographie entstammt der Kulturanthropologie– ethnographic fieldwork im digitalen Raum. Mit einer Verankerung in den Diskursen der Consumer Culture Theory bzw. der Cultural Studies. Im deutschsprachigen Raum fehlt dieser Kontext oft.
Netnographie fällt so etwas zwischen die Stühle: Zu weich für datengetriebene Marktforschung, zu anwendungsorientiert für reine Kulturwissenschaft, zu anthropologisch für die deutsche Soziologie.
Die Entwicklung von Netnographie verfolge ich weiter, der aktuelle Stand ist nachzulesen.

Bild: Getty Images- unsplash+ +

Digitaler Wandel  und Digitale Transformation werden oft gleichgesetzt, bezeichnen aber Unterschiedliches. Wandel ist der allgemeinere Begriff für Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit vollziehen. Transformation hingegen meint tiefgreifende, strukturelle Umbrüche, bei denen Systeme, Institutionen und Praktiken neu gestaltet werden. Beide Begriffe markieren Leitlinien der Zeitgeschichte, in der technologischer, medialer und gesellschaftlich-kultureller Wandel eng miteinander verflochten sind.

Schübe der Digitalisierung wurden nicht erst mit dem Internet spürbar.  Bereits  Desktop- Publishing (etwa um 1990) war ein Schlüsselimpuls der digitalen Revolution im Medienbereich. Der Cyberspace, wie man damals das Internet nannte, wurde als experimenteller  Raum erlebt.
Zumindest zeitweise setzte sich das freie Internet der offenen Standards gegenüber einem Internet der Konzerne (damals das Netz der Portale) durch. Es blieb prägend für eine Kultur der Digitalität, in der sich die  Vorstellung eines gemeinsamen, dezentralen gesellschaftlichen Projektes herausbildete.  Das Web 2.0 war mit einer basisdemokratischen Aufbruchsstimmung verbunden, auf die bis heute immer wieder bezug genommen wird.

Seitdem haben eine ganze Reihe technischer Innovationen die digitale Entwicklung angetrieben, Das mobile Internet veränderte die Alltagskommunikation massiv, und ist heute kaum noch wegzudenken. Social Media kanalisierte die online- Kommunikation, machte  sie auslesbar.
Das Metaverse (2021/22) wurde v.a. von Konzernen angetrieben, fand aber letztlich in dieser Form keine ausreichende Resonanz. Der Entwurf eines räumlichen Internet setzt sich aber im Spatial Computíng fort. KI ist seit dem Start von ChatGPT Ende 2022 ein dominierendes Thema –  mit  noch nicht überschaubaren Wirkungen und Folgeerscheinungen.

Die Pandemie 2020/ 21  bedeutete einen grossen Einschnitt.  Unter welchen Bedingungen konnten sich digitale Medien mehr bewähren, als unter denen einer physischen Kontaktsperre? Ohne digitale Medien, wie Videochats, Live- Streaming etc. hätte sich kaum eine öffentliche Sphäre aufrecht erhalten lassen. Der kurzlebige Hype um Clubhouse im Corona- Winter 2021 verdeutlichte um so mehr eine Sehnsucht nach Austausch und Vernetzung, gerade in medienaffinen Branchen.

Der wahrscheinlich entscheidendste Einschnitt der letzten 15 Jahre war aber nicht Corona, auch nicht KI und sicher nicht das Metaverse, sondern die Landnahme der Plattformen, (sehr gut beschrieben von Michael Seemann in  Die Macht der Plattformen).  Sie bedeutete den Wechsel von einer offenen, dezentralen Innovationslogik (bottom-up) hin zu einer stärker kontrollierten, durchplanten und von wenigen zentralen Akteuren dominierten Struktur (top-down).
Es entstand ein – eingeschränkt – globaler Informationsraum mit zentraler Infrastruktur. Plattformen agieren darin als Intermediäre – sie vermitteln zwischen Nutzern und Anbietern und regulieren Zugang, Sichtbarkeit und Interaktion. Diesen Intermediären – den Big Tech-Giganten ebenso wie zunehmend den großen KI-Systemen – kommt faktisch eine Ordnungsmacht zu. Entscheidend ist die umfassende Erhebung, Auswertung und algorithmische Verarbeitung aller verfügbaren Daten.

Der Wandel bedeutet nicht den Übergang in einen neuen, stabilen Zustand, sondern verläuft kontinuierlich weiter – mit neuen Chancen und neuen Konfliktlinien. Wenig vorhersehbar in seinen konkreten Ausprägungen, aber in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen erklärbar.

Der Begriff Transformation geht zurück auf Karl Polanyis Konzept der Großen Transformation (1944) in dem  gesellschaftliche Umbrüche nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische und kulturelle Prozesse verstanden werden Diese kontinuierliche Transformation ist durch die Verzahnung technischer, kultureller und politischer Entwicklungen gekennzeichnet.  Polanyi wie auch Norbert EliasProzesssoziologie  können als fruchtbare Ansätze dienen, die sich auf aktuelle Entwicklungen übertragen lassen. Sie zeigen, wie sich in langfristigen Prozessen technologische Innovationen, ökonomische Interessen und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse wechselseitig bedingen.

Mit der Prozesssoziologie von Norbert Elias hatte ich mich  seit dem Studium befasst, immer wieder fasziniert von dem Gedanken, sie auf laufende Entwicklungen zu beziehen. Neben die bei Elias herausgestellten Prozesse der Sozio- und Psychogenese – der Herausbildung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen lässt sich Technogenese hinzufügen – die wechselseitige Prägung von Technik und Kultur. Technische Infrastruktur/ Technokultur haben heute eine ganz andere Bedeutung für die gesellschaftliche Binnenstruktur als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Diese Prozesshaftigkeit – nicht die Wirkung einzelner Technologien, sondern ihre gesellschaftliche Einbettung – ist das eigentliche Über- Thema dieses Blogs. 

Die Relevanz soziologischer Theorien für das Verständnis der digitalen  Gegenwart habe ich in einem (verlinkten) Beitrag zusammengestellt. Darunter  auch  solche, die sich auf die Luhmannsche Systemtheorie beziehen, sowie die  Arbeiten von Andreas Reckwitz. Hinzuzufügen wäre noch die Bedeutung von Michel Maffesoli für das Konzept der Online- Tribes

Im letzten Jahr dominierten zwei Themen: KI/ AI und  die politischen Verwerfungen seit November 2024. Bei letzteren verweise ich auf meine Rezension zum Cyberlibertarismus und den  ausführlichen Text Tech- Faschismus – Ein Mash-Up als Machtsystem.

KI ist  seit knapp 3 Jahren ein geradezu epochales Thema. KI wird in der Breite genutzt, wahrscheinlich von vielen mehr, als offen zugegeben wird. Gleichzeitig ist sie ein boomendes Feld der Beratungs- und Fortbildungswirtschaft, steht aber auch in der Kritik als Piraterie des Wissens, Vermüllung des Internet und als Instrument neo- autoritativer Herrschaft. Im Unterschied zum Internet, das sich, zumindest zeitweise, bottom- up verbreitete, ging KI  von vornherein von einzelnen, grossen Konzernen aus. Die Perspektive der Anwender und Betroffenen – eine Sicht von unten– findet in der Debatte wenig Raum.
Das Buch von Frank Witt vermittelte mir mit dem markanten Bild der Sozialisation von Maschinen eine neue Sichtweise auf KI.  Mit dem Autor konnten wir kürzlich eine Buchvorstellung im Kölner Startplatz veranstalten, an die sich möglicherweise eine weitere Zusammenarbeit anschließen kann.

In meiner eigenen Arbeit habe ich zwei Begriffe zugespitzt:  Automatisierte Singularisierung soll die Paradoxie fassen, wie KI-Systeme massenhaft die gewünschten Einmaligkeiten produzieren – angelehnt an die Theorie der Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz. Gemeint ist die gezielte Erzeugung individueller Produkte und Erlebnisse auf Basis von Verhaltensdaten und Präferenzen. In eine ähnliche Richtung geht die derzeit viel diskutierte Erzeugung synthetischer Daten in der Marktforschung.
Der Begriff Consociality/ dt. Consozialität  stammt nicht von mir, aber ich habe ihn gern aufgegriffen. Gemeint ist etwas, was es schon immer gab, aber erst in der digitalen Sozialität  zentrale Bedeutung erlangt: Die Verbindung einzelner Menschen über punktuelle Übereinstimmungen und Interessen – situative digitale Ko-Präsenz jenseits stabiler Gemeinschaften. Ein Kollege nannte es  scherzhaft #Hashtag Soziologie, als ich das Konzept damit erläuterte. 

Soziologie löst keine Probleme, legt aber Zusammenhänge offen und macht so gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Entwicklungen erklärbar.
Genau darin liegt ihr Nutzen: Entwicklungen der Zeitgeschichte erklärbar zu machen, Aha-Erlebnisse zu erzeugen und zum Weiterdenken anzuregen – nicht durch Vereinfachungen, sondern durch begriffliche Schärfung. Gefreut hat mich, dass 2x Beiträge aus dem Blog den Weg in Schulbücher fanden – nicht für Sozialwissenschaften, sondern für Deutsch in der Oberstufe – eine Anerkennung der sprachlichen Qualität.

Die selbstverständliche Nutzung von Blogs zur Diskussion hat nachgelassen. Sie ist längst abgewandert in Social Media, v.a. zu LinkedIn. Deshalb hier mein Account: https://www.linkedin.com/in/kjanowitz/
Der Titel Netnographie & Digitaler Wandel war anfangs eine pragmatische Benennung – ob er bleibt oder sich ändert, hängt davon ab, welcher Begriff künftig am besten  trifft.



KI als Strukturverstärker – Macht, Algoritmen und Autorenschaft

Bild: Steve-johnson-KI .unsplashed+

KI ist Gamechanger,  darüber sind sich fast alle einig. Darüber wie sich die Spielregeln ändern sollen, nicht.
Einstellungen und Haltungen zu KI gehen weit auseinander, die Diskussionen verlaufen meist innerhalb bestehender Gruppierungen, die den jeweiligen  Deutungslogiken folgen.

Gründe dafür, dass sich die Diskurse kaum treffen, gibt es viele. KI greift in zahlreiche gesellschaftliche Funktionssysteme ein: Medizin, Recht, Bildung, Produktion, Werbung, kreative Kreation und so viele mehr …  Ihr Einsatz, ihre Nutzung folgt einer  jeweils eigenen Logik.
Grundsätzlich tritt KI in zwei Formen auf: als sichtbare, aufrufbare Chatbots wie ChatGPT, Claude Sonnet oder Bildgeneratoren, wie Midjourney und  Googles Nano Banana/ Gemini 2.5 Flash Image und als im Hintergrund in Prozesse eingebettete Algorithmen, die Abläufe präemptiv steuern.
Konzerne sehen in KI ein Effizienz-Tool, das Abläufe beschleunigt und Arbeitskosten reduziert. Wirtschaftsförderer sehen in ihr einen Baustein der Infrastruktur, der Technologiesouveränität erfordert. Anwender erleben sie oft spielerisch.
Andere sehen KI in der Nähe eines autoritären Machtapparats oder als einen Angriff auf geistige Autonomie und das Prinzip der Autorenschaft.

Chatbots erlauben es uns, mit ihnen zu experimentieren, ihre Funktionsweise zu erkunden, sie für eigene Zwecke zu nutzen oder auch zu verwerfen. Sie sind sichtbar, direkt erfahrbar und eröffnen Spielräume zur Einübung neuer Praktiken. Sie können als bottom-up- Praxis verstanden werden. Im besten Falle als Werkzeuge der Co Creation.
Eingebettete Algorithmen
hingegen sind unsichtbar in Prozesse integriert. Sie lassen sich nicht einüben, sondern wirken strukturell – als Teil einer Macht-und Steuerungsarchitektur, die Entscheidungen präemptiv vorgibt, noch bevor wir selbst eingreifen können. Sie können als top-down Praxis verstanden werden. 

Für beide Formen gilt aber, dass sie Interessen spiegeln. Chatbots ebenso wie eingebettete Algorithmen liefern nicht neutral, sondern genau das, was in ihren Vorgaben, Trainingsdaten oder politischen Entscheidungen angelegt ist – im besten Fall also auch das, was demokratisch beschlossen wurde.
LLMs basieren auf einer oft urheberrechtlich problematischen kulturellen Extraktion: LLM systems harvest everything that can be made digital, and then use it to train corporate AI models (Kate Crawford, 2023)

KI ist zwar seit fast drei Jahren Hype und  die meisten Menschen sind mit ihr in Berührung gekommen, dennoch fehlt der Diskussion die inhaltliche Breite, die ihr zukommt.
Die öffentlichen Debatten drehen sich überwiegend um die sichtbare, dialogische Oberfläche, die wir mit einigem Lernaufwand sinnvoll und für uns nützlich gestalten können.  Die unsichtbare Allgegenwart der eingebetteten Algorithmen, die Prozesse steuern und Entscheidungen präemptiv beeinflussen, bleibt im Hintergrund.
Frage ist: Wie können Prozesse gestaltet werden, ohne von ihnen überrollt zu werden? Ohne dass sich strukturelle Macht weiter konzentriert?
KI ist in Machtstrukturen eingebunden. Ganz offensichtlich können  eingebettete Algorithmen präemptiv, vorentscheidend im – selektierenden-  Sinne der jeweiligen Betreiber verwendet werden.
Es fehlt eine gesellschaftliche Bewegung, die Machtstrukturen thematisiert, ohne gleich die ganze Technologie abzulehnen. Die Thematisierung eines neuen, smarten Faschismus – wie bei Rainer Mühlhoff ist richtig. Ein alleiniger Rückzug darauf kommt aber einer splendid isolation gleich.
KI-Technologien wurden ursprünglich dazu entwickelt,  aufwendige Analysen zu erleichtern und uns bei komplexen Aufgaben zu unterstützen. In den letzten Jahren haben sie sich zu nahezu omnipräsenten Begleitern  entwickelt. KI-basierte Systemen sind so sehr mit unserer Wirklichkeit verwoben, dass wir uns oft nur noch am Rande bewusst sind, wie stark sie unsere Entscheidungsprozesse beeinflussen.
Zudem kratzt KI  an dem menschlichen Selbstverständnis als kreativem und intellektuellen Wesen.

Von Frank Witt  stammt der Begriff  von  KI  als Strukturverstärker. KI ist bzw. wirkt als eine soziotechnische Konstellation: Weder als neutrale Technik noch als autonomes System, sondern als ein Ensemble aus Algorithmen, Daten, Institutionen und Akteuren. KI reproduziert nicht nur bestehende gesellschaftliche Tendenzen, sondern verstärkt sie in vielen Fällen. KI beschleunigt, wirkt als Verstärker von Effizienz. Das gilt für  Überwachungsprozesse ebenso wie für kreative Prozesse. KI kann gesellschaftliche und ökonomische Macht verstärken – ihre Anwendung und Wirkung gehören in den öffentlichen Diskurs.
KI zeigt die ganze Ambivalenz mächtiger Technologien: Sie kann ebenso kreative Prozesse bereichern wie demokratische Diskurse untergraben, Wissensarbeit unterstützen wie  Desinformationskampagnen automatisieren. Sie kann ganze  Trollfabriken steuern oder als cocreatives Werkzeug genutzt werden.

Vor rund 25 Jahren, um die Jahrtausendwende, setzte sich das Internet in der Breite durch. Blicken wir  zurück,  gab es damals einen ersten Anlauf zu einem Internet der Konzerne, das heute oft vergessene Internet der Portale.
Zentrale Portale sollten den Einstieg ins Internet kontrollieren, Walled Gardens statt offener Suche und Navigation- ein klassisches Gatekeeper– Modell, top-down konstruiert. Portal-Websites dienten als zentrale Startseiten, über die Dienste wie Nachrichten, E-Mail, Chats, Shopping, Online-Banking gebündelt werden sollten.  AOL, Yahoo, Compuserve, Lycos, aber auch MSN (Microsoft Network)   und t- online waren die Protagonisten.

Bild: unsplash +

Dagegen formierte sich eine breite Bewegung für ein freies Internet ohne Gatekeeper mit offenen Standards und der Vision einer vernetzten Gesellschaft.  Das Modell der  proprietären Portale der Konzerne scheiterte.
Der Erfolg wirkte einige Jahre nach  und gab basisdemokratischen Strömungen Auftrieb. Man sprach von  Netzkultur – gemeint war ein von einer Community getragener  Standard.
Die schliesslich erfolgreiche Beherrschung  der digitalen Welt durch quasi-Monopole, gelang auf anderem Wege- beschrieben u.a. von Shoshana Zuboff (Überwachungskapitalismus) und Michael Seemann (Macht der Plattformen),  oft als  Landnahme durch Big Tech bezeichnet. Aus dem partizipativen Web 2.0  war wieder ein Internet der Konzerne – jetzt BigTech genannt –  geworden – mit neuen Formen von Kontrolle und Gewinnerzielung. .
Generative KI ist ein Kind dieses Social Web. Ohne dessen Datenfülle und die Digitalisierung des verfügbaren menschlichen Wissens gäbe es sie nicht. Die systematische Verknüpfung, Verdichtung und Automatisierung dieses Wissens war technisch eine logische Weiterentwicklung der Digitalisierung.
So wird technologische Disruption von quasi-Monopolen als Triebkraft gesellschaftlichen Fortschritts inszeniert – ein Fortschritt, der zunehmend mit neuen Formen des Autoritarismus in Verbindung gebracht wird.

Der Filmkomponist Matthias Hornschuh beschreibt in seiner Schrift Wir geben uns auf. KI, Kultur und die Entwertung der Wissensarbeit (die in dieser Woche als Buch erscheint, s.u.)  eine  systematische Entwertung kultureller Arbeit. Einer auf schnell erfassbare Oberflächenreize optimierten Welt setzt er den Wert kultureller Durchdringung entgegen.
An anderer Stelle hebt er das Prinzip der Autorenschaft hervor, zitiert dabei den Kunsttheoretiker Bazon Brock: Menschen, hinter denen nichts steht, kein Papst, kein Militär, kein garnichts, und die trotzdem angehört werden, weil das, was sie sagen, interessant und von Wichtigkeit ist, aufgrund ihrer Fähigkeit, Welterkenntnis zu eröffnen.
Wenn der Zufluss neuer, innovativer und vielfältiger Inhalte zu versiegen droht, dann müssen sich Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft auf eine geistige Dürre einstellen. Es stellt sich die nicht geringe Frage, wie eigentlich in Zukunft das Neue in die Welt gelangen soll.
Auch KI- Kritiker wie Rainer Mühlhoff und Kate Crawford  sprechen  an einigen Stellen  von entmenschlichender Technologie  – gemeint ist Vereinnahmung von Subjektivität durch technologische Systeme.

KI kann Ähnliches im Verschiedenen erkennen, aber  nicht intentional Muster brechen oder völlig neue konzeptionelle Verbindungen schaffen, die jenseits statistischer Wahrscheinlichkeiten liegen. KI ist gut darin, aus Trainingsdaten erworbenes Wissen anzuwenden,   logisches Denken jenseits erlernter Muster fällt ihr schwer. Die spannendsten Momente entstehen nicht durch perfekte Beherrschung von Mustern , sondern durch deren überraschende Brechung. Es setzt voraus, dass jemand will, dass etwas anders läuft – eine Intention, die KI allein nicht haben kann.

Der KI-Debatte fehlt bislang eine kulturelle Aneignung, eine tiefer gehende ästhetische Durchdringung. Etwas wie Andy Warhols Pop Art, die Konsumkultur kulturell verfügbar machte. Eine KI-Kunst, die weder die Technologie dämonisiert noch vergötzt, sondern ihre Möglichkeiten und Grenzen kreativ auslotet. So kann aus einer technologischen und politisch polarisierten Debatte eine gesellschaftliche werden.

Das Web 2.0 sollte alle zu Autoren machen, das KI- Web macht alle zu Objekten einer Praxis der Extraktion. Wer wird die Prozesse der Zukunft gestalten – und wer lässt sich von ihnen gestalten? – Technologie wird erst durch kulturelle Aneignung zu gesellschaftlicher Realität.

 

vgl.  Holger Schmidt:  Revolution der Arbeitswelt: Bots statt Folien. FAZ 3.09.25.  *Matthias Hornschuh:. Wir geben uns auf: KI, Kultur und die Entwertung der Wissensarbeit – 9/25; 96 S.  Matthias Koch & Patrick Mennig: Plattformökonomie am Ende? Welchen Einfluss haben KI, Metaverse und Nachhaltigkeit auf digitale Geschäftsmodelle?  Vgl. auch Frank Witt: Stille Umbrüche – Was KI wirklich verändert. (8/25) . und Künstliche Intelligenz: Transformation und Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft  (5/25) 



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