Atlas of AI – die materielle Basis der KI (Rezension)

Auf den Atlas of AI wurde ich durch ein Interview in der FAZ am Sonntag (18.08) mit der australischen Autorin Kate Crawford aufmerksam – aus Anlass der deutschen Ausgabe, die in derselben Woche  erschien.
Die englische Ausgabe liegt bereits seit August 2021 vor – was macht ein Buch zu einem derart aktuellen Thema auch nach drei Jahren so interessant, eine Übersetzung herauszugeben?

AI is neither artificial nor intelligent  (8). Ein KI-System denkt nicht, sondern verarbeitet bzw. trifft Vorhersagen, ähnlich wie Google oder andere Computersysteme. Crawford widerlegt die Vorstellung von KI als immaterieller Cloud-Software, indem sie den enormen physischen und gesellschaftlichen Ressourcenverbrauch aufzeigt, der mit der Technologie verbunden ist. Sie beleuchtet die politische und ökonomische Verankerung von KI sowie die damit verbundenen sozialen und ökologischen Kosten.
U. a. beschreibt sie KI als Metamaschine (48 ff), ein komplexes, globales Agglomerat aus technologischen Funktionen, das sich letztendlich auf Daten, menschlicher Arbeit und Umweltressourcen aufbaut. KI als Metamaschine verdeutlicht die Rolle von Technologie als übergreifender, datengetriebener Instanz, die  in  Machtstrukturen eingebunden ist.

Der Atlas of AI führt an eine Reihe von Orten der Abschöpfung– der Titel ist gemeint als Kartierung der materiellen und gesellschaftlichen Grundlagen künstlicher Intelligenz.
Extraktiv/ abschöpfend ist der Begriff, mit dem Crawford KI immer wieder belegt: extractive industry, Technologie der Extraktion, Culture of data extraction (119).
Gemeint ist die Abschöpfung von Zulieferungen materieller, operativer und ideeller Art. Bleibt man im Bild werden in sechs Kapiteln sechs “Kontinente” kartiert:

  1. Earth – Die Gewinnung von Rohstoffen wie Seltene Erden, Lithium und Kobalt, die für die Produktion von KI-Hardware unerlässlich sind, oft unter schwierigen geo- und umweltpolitischen Bedingungen
  2. Labor – Die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, insbesondere in Form von Crowdworking, um KI-Systeme zu trainieren, oft unter prekären Arbeitsbedingungen.
  3. Data – Der immense Bedarf an Trainingsdaten, der zur Abschöpfung aller verfügbaren digitalen und zu digitalisierenden  Materialien führt, einschließlich Texten, Code, Stimmen, Handgesten, Bildern und Bewegungsdaten
  4. Classification – Die Kategorisierung und Klassifizierung von Menschen und Dingen, die tief in kulturelle und soziale Normen eingebettet ist
  5. Affect – Die Erkennung und Nutzung menschlicher Emotionen durch biometrische Verfahren wie Gesichtsanalyse.
  6. State – Die enge Verbindung zwischen der Tech-Branche und dem militärisch-industriellen Komplex.
  7. Conclusion/ Power untersucht, wie KI als Machtstruktur funktioniert, die Infrastruktur, Kapital und Arbeit vereint.

Als Anhang das Kapitel Coda/ Space zum Raumfahrtspektakel der Tech- Milliardäre, dargestellt als  common corporate fantasies.
Hinzu kommt der Verbrauch enormer Mengen an Energie – der global zusammengefasst an Volkswirtschaften in der Grösse von Argentinien oder Schweden reicht, mit steigender Tendenz.

Von Supply Chains/ Lieferketten ist in der KI – Diskussion selten die Rede, doch lassen sich, ähnlich wie bei physischen Produkten, Schritte und Komponenten  die notwendig sind, um KI-Lösungen zu entwickeln, bereitzustellen und in Betrieb zu halten, als solche verstehen.
Ein Absatz (218) fasst den Blickwinkel Crawfords kompakt zusammen: KI/ AI is born from salt lakes in Bolivia and mines in Congo, constructed from crowdworker- labeled datasets that seek to classify human actions emotions, and identities. It is used to navigate drones over Yemen, direct immigration police in the US, und modulate credit scores of human value and risk around the world. A wide-angle, multiscalar perspective on AI is needed to contend with these overlapping regimes.

Der “Atlas of AI” bleibt drei Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe ein Schlüsselwerk zur Diskussion der strukturellen, sozialen und ökologischen Dimensionen von KI.  Seit dem Erscheinen der Originalausgabe 2021 wurde der Atlas of AI in 10 Sprachen übersetzt. Forschungsverlauf und Reisen dazu reichen weitere zehn Jahre zurück. Es geht nicht um die Momentaufnahme eines bestimmten Jahres.
Was sich in den letzten beiden Jahren verändert hat, ist bekannt: Seit dem Launch von ChatGPT und weiterer KI- Modelle hat sich ihre Nutzung stark verbreitet, und die Investitionen  haben sich beschleunigt.
In einem Interview von  Juni 23* äusserte sich Crawford zu den Modellen  generativer KI: Sie sieht den Launch der Large Language Models (LLMs) als einen bedeutsamen Wendepunkt, etwas, das es in diesem Ausmaß seit langem nicht gegeben habe. LLMs sind nicht nur eine neue Schnittstelle, sondern ein neues Medium, über das wir in den kommenden Jahren Informationen erhalten und erstellen werden. Das Wachstum der LLM erfordert enorme Datenmengen, mehr Menschen, die hinter den Kulissen als Clickworker und in Fabriken arbeiten, und einen immer höheren Energieverbrauch – damit auch einen weiteren Anstieg von Emissionen.

Der Atlas der KI ist ein politisches Buch, ein Korrektiv zum Hype: Crawford geht es um den Zusammenhang von Kapitalismus, Computation und  Kontrolle (227). Sie thematisiert Arbeits-, Klima- und Datengerechtigkeit, um eine realistische Analyse der Umweltauswirkungen, Überreichweiten exekutiver Gewalt. KI wird als Teil eines Systems beschrieben, das auf einer Kette des Extraktivismus beruht, der alles andere als immateriell ist.

Manchmal wurde KI mit technologischen Sprüngen, wie der Einführung der Dampfmaschine oder der Elektrizität, verglichen. Innovationen, die zu ihrer Zeit ganz neue industrielle Möglichkeiten und Dynamiken eröffneten.
KI ist Teil der digitalen Revolution, oder besser: ein weiterer Schub der digitalen Evolution. Sie baut auf den Fortschritten in der Datenverarbeitung, Vernetzung und Rechenleistung sowie auf dem riesigen Umfang digital gespeicherten Wissens und von Verhaltensdaten auf.

wenig überraschend sind die Parallelen zum Überwachungskapitalismus von S. Zuboff (2018)

Deutlich sind die Parallelen zur Analyse des Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff (2018). Zuboff thematisierte die massenhafte Abschöpfung und Vermarktung von Verhaltensdaten, die zu einer Grundlage des digitalen (Plattform-) Kapitalismus wurde.
Beide Autorinnen beleuchten kritisch, wie digitale Technologien zu neuen Formen von Machtkonzentration und Kontrolle führen. Zuboff spricht von der Instrumentarisierung menschlichen Verhaltens, während Crawford die extraktiven Machtstrukturen hinter KI-Systemen aufdeckt. Beide Bücher sind sowohl wissenschaftlich fundiert, wie auch aktivistisch motiviert.

Social Media wie auch generative KI beruhen auf der digitalen Lesbarkeit von Kommunikation und Wissen – to capture the planet in a computationally legible form. Wissen über Verhalten und Verbindungen der Nutzer sind Geschäftsgrundlage. Beide Branchen nutzen Technologien, um wirtschaftlich verwertbare  Informationen abzuschöpfen, und werfen dabei Fragen zu Datenschutz, Ethik und Regulierung auf. Das Konzept der Landnahme lässt sich mit beiden verbinden: Die Einnahme und Bewirtschaftung des Digitalen Neuland.
KI macht das, was Digitalität auszeichnet: Sie zerlegt Inhalte in kleinere, analysierbare Einheiten, analysiert sie und fügt sie nach definierten Vorgaben wieder neu zusammen. Auf diese Weise lässt sich durchaus von einer Neuorganisation des Wissens sprechen.

Datenextraktion ist die neue Dimension: LLMs systems harvest everything that can be made digital, and then use it to train corporate AI models *.
Neben Text, Code etc. zählen dazu alle zugänglichen Medienformate in Bild, Ton/ Musik, Video/ Film, Daten über Menschen, wie Stimmen, Gesichtsbilder/ Selfies, Fahndungsfotos, Handgesten, Selfies, Tattoes bis hin zu Daten, die Haushaltsgeräte oder Schrittzähler sammeln. All das kann auch als Rohmaterial zur Generierung von  Avataren dienen. Sicherlich gibt es  Unterschiede in der Handhabung zwischen den Modellen. Letztlich setzt sich die Dominanz weniger Konzerne, wie wir es von BigTech kennen, fort.
Viele der abgeernteten Inhalte sind Produkte der Arbeit von Autoren, Künstlern und anderen Kreativen. Oft steckt langfristige Arbeit dahinter und/ oder es bestehen Urheberechte. Seit neueren wurden hier und da Nutzungsverträge abgeschlossen.
Neue Techniken sind eine Sache, kulturelle Rechte eine andere: Stehen sie tatsächlichen oder rechtlichen Urhebern zu, sind sie globale Allmende – oder steht den Entwicklern der neuen Technik die Abschpfung zu? Generative KI schickt sich an, diejenigen, von deren Inhalten sie lebt, in deren eigenem Markt zu ersetzen** (s.u.).

Aktuell scheint der Hype um KI etwas abzuflachen – vom Erreichen eines Plateaus ist immer öfter die Rede. Die jüngsten Fortschritte übertreffen die Erwartungen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor. Der Mehrwert der Verbesserungen scheint den Umfang der Investitionen nicht mehr zu rechtfertigen. Das bedeutet aber nicht, dass die Verbreitung generativer KI abflaut. Die jüngsten Fortschritte übertreffen die Erwartungen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor.
Die Autorin steht der Branche nicht fern: Sie ist, neben anderen akademischen Positionen, Senior Principal Researcher bei Microsoft Research New York, ist aber auch an Kunsprojekten im Spannungsfeld Technologie/ Macht beteiligt, so an dem  2025 in Mailand geplanten Projekt Calculating Empires: A Genealogy of Technology and Power, 1500–2025.

Die deutsche Ausgabe gibt es als Atlas der KI: Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien  für 32 € bei C.H. Beck, die englische ist für  18 € als Paperback bestellbar. 

Kate Crawford: Atlas of AI. Yale University Press. 2021. 327 S.  de: Atlas der KI . Übers: Frank Lachmann  8/24 — KI ist von vorn bis hinten Politik – Interview mit Kate Crawford. FAZ am Sonntag. 18.08.2024, S. 33. Calculating and Powers: Interview with Kate Crawford– * Mining for Data: The Extractive Economy Behind AI – Green European Journal 13.06.2023.  John Wyatt et al.: Atlas of AI’ by Kate Crawford: a review In. Evangelical Focus. Tech Human, 16.08.2023. + **vgl.: Matthias Hornschuh, In: KI-Training ist Urheberrechtsverletzung Initiative 4.09.24  —  *so der franz./ amerikan. Gründer von Hugging FaceClément Delangue auf LinkedIn. – 14.09. 

KI im zweiten Jahr des Hype – BigTech wird zu BigAI

So sieht sich Chat GPT selber

Auch Technologien brauchen eine Geschichte, um verstanden zu werden, oder zumindest um eine Erwartung an sie aufzubauen.  Und es ist ein länger währender Prozess, bis sie zum Teil unserer Zivilisation werden.
Das Internet wurde als  Beginn einer neuen Medienepoche der Menschheitsgeschichte* begrüsst – und war mit einer Aufbruchsstimmung zu einer partizipatorischen Kultur verbunden. Historisch wurde der Einschnitt oft mit der Einführung des Buchdrucks verglichen.
Das Metaverse knüpfte an Bilder einer parallelen Welt oder eines begehbaren Internet an, die aber langsam verschwanden bzw. zurückgefahren wurden. Der Hype ist abgeflacht, die Entwicklung geht aber in Richtung immersive Technologie bzw. räumliches/ Spatial Computing voran.

KI ist mit zahlreichen Mythen der Popularkultur verbunden, vom Golem bis zum Supercomputer HAL. Chat GPT und seine Mitbewerber wurden anfangs oft wie eine Art Zauberkasten wahrgenommen, der auf erstaunliche und oft unerwartete Weise ganz unterschiedliche Aufgaben löst.
Öffentliche Wahrnehmung und Diskussion haben sich seit Beginn des Hype erweitert und differenziert – in der Kritik, wie im Ausbau der Nutzung.
Es fallen Vergleiche zu Innovationen, die die industrielle Entwicklung ausgelöst oder erneuert haben: zur Dampfmaschine, zur Elektrizität. Rafael Laguna de la Vera,  Chef der Bundesagentur SPRIND setzte noch einen drauf: Wenn der Computer das Fahrrad fürs Hirn (Steve Jobs) ist, dann ist KI die Rakete Die 🚀  wird übrigens – informell – als Emoji für KI- generierte Inhalte verwendet 
KI und der Hype dazu – das sind zwei verschiedene Phänomene. KI ist ein technologisches Konzept mit seinen eigenen Grundlagen und Möglichkeiten, ein Fundament für verschiedenste technologische Anwendungen und Entwicklungen, die noch längst nicht zu Ende gedacht, noch weniger umgesetzt sind. Die heutigen Modelle der generativen KI sind eher frühe Versionen von dem, was möglich ist. Für manche sind sie bereits  ein Aufbruch in eine neue Zeit. Der Hype lässt sich als Vorbote einer neuen technologischen Revolution verstehen ( vgl. Gunnar Sohn 8/24).

Der Hype ist ein ökonomisches und popular- kulturelles Ereignis.  Er ist nicht gratis, weder ökonomisch, noch nach Kriterien der Nachhaltigkeit. Tech companies übertreffen sich gegenseitig im massiven finanziellen Einsatz. Es gibt jedoch noch kein klares Geschäftsmodell, abgesehen von der Steigerung der Cloud-Gewinne für Big Tech. Starke finanzielle Anreize treiben die Entwicklung an und lassen sie  heisslaufen – so übersteigt der Hype oft die tatsächlichen technologischen Möglichkeiten.
Schon die bisherigen Investionen sind gewaltig. Rechnet man veröffentlichte Zahlen zusammen, kommt man schnell auf mehrstellige Mrd – Beträge Investitionsvolumen. Bis 2025 werden 200 Mrd angenommen (vgl. ai-investment- statistics). I don’t care if we go through $500 million, $5 billion, or $50 billion a year, as long as we’re moving the needle on AI – so ein Statement von Sam Altman (5/23), das den Willen zur Umsetzung verdeutlicht.

Mit den Investitionen entsteht eine globale Infrastruktur:  Die Cloud- basierten Services der BigTech Giganten, die nun auch zu BigAI Giganten werden: There is no AI without Big Tech.  Sie bieten Plattformen und Werkzeuge, die als Rückgrat von KI-Innovationen dienen und es ermöglichen, KI in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft und des täglichen Lebens zu integrieren.
Es gibt aber noch kein klares Geschäftsmodell, abgesehen von der Steigerung der Cloud-Gewinne für Big Tech durch die Bündelung von KI-Diensten mit Cloud-Infrastruktur. Und ein Geschäftsmodell ist wichtig, wenn es um Systeme geht, deren Training und Entwicklung Hunderte Millionen Dollar kosten kann (vgl.  Amba Ka et al., s.u.). 
Welche Rollen, welche Funktionen von KI eingenommen werden, ist noch längst nicht klar. Chatbots wie Chat GPT, werden etwa oft als eine Art persönlicher Assistent genutzt, haben aber im professionellen Einsatz bislang  ihre Grenzen.

Share of Industry Employment Exposed to Automation by AI. Quelle: Goldman Sachs. Global Economics Analyst – öffnet sich nach Klick in voller Auflösung

Singularisierte Automatisierung – gemeint sind KI-basierte Anwendungen, die jeweils spezifische Prozesse oder Funktionen automatisieren.. Es bedeutet die Automatisierung jeweils einzelner, spezifischer Prozesse oder Funktionen. Automatisierungen, die sich nach den jeweils erkannten Mustern richten – und in sehr unterschiedlichen Kontexten eingerichtet werden können.

Die Durchdringung von Branchen durch KI verläuft sehr unterschiedlich. Pharma- und Biotechnologiebranche profitieren etwa stark von generativer KI. Allgemein dringt KI dort am schnellsten vor, wo eine stark strukturierte Kommunikation vorherrscht, wie etwa in Kundensupport-Systemen, in IT, Marketing und Vertrieb. Branchen, die von standardisierten Verwaltungstätigkeiten oder strukturierten Prozessen geprägt sind – wie die Rechtsbranche mit ihrer präzisen Argumentation – gehören ebenfalls zu den Vorreitern (s. Abb.).
Aber niemand  sollte sich bei Problemlösungen allein auf einen Chatbot verlassen:  Vorsicht vor Botshit: ein Schlagwort für unwahre, ungenaue, unsinnige Chatbot- Inhalte, die unreflektiert übernommen werden (André Spicer, s.u.).  Qualitätskontrolle bleibt notwendig.

KI ist selbst ein bedeutendes und lukratives Feld von Weiterbildung und Beratung. Klassische betriebswirtschaftliche Argumente  wie Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Standort, Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Zeitersparnis, Kosten- aber auch Personaleinsparung -streuen sich ein. Es geht um Effizienzsprünge, manche Schätzungen sprechen von Produktivitätszuwächsen von bis zu 70%.“
Diese Versprechungen sind wohl nur in ganz bestimmten Workflows und mit darauf zugeschnittenen Lösungen erreichbar.  So brüstete sich der schwedische Finanzdienstleister Klarna kürzlich, nach der Einführung von KI die Hälfte seiner Mitarbeiter einsparen, d.h. entlassen zu können.
Ob die mit KI verbundenen Versprechen von enormen Produktivitätssteigerungen tatsächlich gesamtwirtschaftlich realisiert werden können, bleibt abzuwarten. Der Return on Investment (ROI) scheint bislang keine zentrale Rolle zu spielen.

Zwei allgemein bekannte Muster von Hypes lassen sich sicherlich auch auf den KI- Hype beziehen:  der Gartner Hype Cycle– mit den auf- und absteigenden Kurven der Aufmerksamkeit. Ebenso Amaras Gesetz   Menschen neigen dazu, die Auswirkungen einer Technologie anfangs zu überschätzen, auf lange Sicht aber zu unterschätzen.
Die wesentlichsten Wirkungen des KI- Hypes liegen wohl anderswo: Hunderte Millionen Menschen haben Generative KI ausprobiert bzw. getestet – sie machten dabei einige ähnliche Erfahrungen:  ganz vorn steht die, mit Computern in der eigenen Sprache umzugehen – das Betriebssystem, das Menschen am besten verstehen.
Generative KI hat unsere Fantasie beflügelt,  die Hoffnungen und Ängste vieler Menschen über den Aufstieg intelligenter Maschinen genährt: grenzenlose Produktivität, grenzenlose Informationen, grenzenlose Fehlinformationen. Prompten ist die Kulturtechnik, gezielte Ergebnisse zu erreichen.  Zu den Möglichkeiten gehört aber genauso die erleichterte Produktion von mit Absicht erstellten Fakes und ihre Verbreitung.

KI ist nicht nur eine Querschnittstechnologie, die in vielen Branchen Veränderungen auslöst, genauso wirkt sie auf zahllose gesellschaftliche Bereiche ein. Chatbots sind als popular- kultureller Motor wahrscheinlich bedeutsamer  denn als technisches Werkzeug.
Zwei Beispiele in denen KI kulturelle Verwerfungen mit sich bringt: In einem der letzten Blogbeiträge hatte ich Digital Afterlife  thematisiert, das Weiter- Bestehen der Kommunikation mit den Avataren von Verstorbenen   –  ein Format, das tief in unsere Vorstellungen von Tod und Trauer eingreift.
Ein ganz anderes Beispiel: Der spanische Fast Fashion Gigant Mango meldete, statt menschlicher Models nur noch KI- generierte Models einzusetzen.
Es lässt sich als  Schritt in eine Synthetisierung von Schönheitsidealen lesen. Bildgenerierungen erinnern tatsächlich oft an über- standardisierte Stock- Photos –  genauso können sie als ästhetisches Experimentierfeld dienen.

Letztlich wird der Hype um KI aber angetrieben durch die geschäftlichen Interessen von BigTech – es geht um die Landnahme in einem neuen Feld: Big Tech erweitert zu BigAI.
Ohne signifikante Eingriffe wird der KI-Markt letztlich dieselben Unternehmen belohnen und stärken, die bereits von den Gewinnen des invasiven Geschäftsmodells der Überwachungsgesellschaft profitiert habe, das das kommerzielle Internet angetrieben hat – oft auf Kosten der Öffentlichkeit (vgl.  Amba Ka et al., s.u.).
Konzentrierte Macht ist nicht nur für Märkte ein Problem. Sind wesentliche Teile der Infrastruktur in den Händen weniger Unternehmen oder Entscheidungsträger, wird dies zu einem Problem für Demokratie, Kultur sowie individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit.

KI bleibt ein zentrales Thema öffentlicher Aufmerksamkeit, sie verbreitet sich zunehmend in unserem Alltag. In ihrem Gebrauch bilden sich mehr und mehr Alltagsroutinen.
Nach und nach, aufeinander folgend gab es die Hypes zur Blockchain/ Web3, zum Metaverse und nun KI.  Gemeinsam ist allen, rechenintensive Stromfresser  zu sein. So steht  der enorme Energieverbrauch der neuen KI- Infrastruktur in der Kritik. Ohne breit verfügbare erneuerbare Energie kann sich der Planet KI in diesem Ausmass   nicht leisten.

 

*vgl. : Dirk Baecker: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt – ² Gunnar Sohn 8/24 –P. McCarthy, Timothy R. Hannigan, and André Spicer: The Risks of Botshit  AI And Machine Learning. In : Harvard Business Review 17.07.2024  André Spicer: .Beware the ‘botshit’: why generative AI is such a real and imminent threat to the way we live. The Guardian 3.01.2024. Matteo Wang: What ChatGPT Has Changed in Its First Year – The Atlantic. 16.01.24  – Silicon Valleys Trillion Dollar Leap of Faith: Tech companies are spending as if AI’s transformative uses are a foregone conclusion. They’re not. The Atlantic 29.07.2024 —  Charlie Warzel: This Is What It Looks Like When AI Eats the World. The Atlantic  Thomas Ramge: Wie sieht eine gute Zukunft mit KI aus? Eine Fortschrittserzählung Juli 2024. Robert Peters, Klaus Burmeister, Wenke Apt: Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz , fünf Kurzszenarien zur „Mensch-Technik- Interaktion 2030“ Holger Schmidt: Generative KI bringt aktuell mehr Produktivität, aber kaum Umsatzzuwachs. FAZ 24.07.2024. Der Hype nähert sich dem Ende.  D2030 FuturesLounge 3.07.2024: KI-ein Schlüssel zur Welt von morgen. Passt er zur deutschen KI-Strategie?Jaron Lanier: How to Picture A.I. ´The New Yorker. 01.03. 2024. Jupus: KI im Anwaltssekretriat  — vgl. auch:  L’I.A. est un concept. pas un produit Daron Acemoglu:  The Simple Macroeconomics of AI* 05/2024. Fred Cavazza: L’ I.A. est un concept, pas un produit. 06/2024.   Doris Aschenbrenner, Robert Peters: KI ist tot! Es lebe die hybride Intelligenz. Tagesspiegel 2.08.24. – — From Burnout to Balance: AI-Enhanced Work Models. Upwork.com 23.07.24. – Amba Kak et al: Make no mistake—AI is owned by Big Tech. MIT Technology Review 05.12.2023 , Melissa Heikillä: Here’s how people are actually using AI. MIT Technology Review 14.08.2024



Digital Afterlife – Become Virtually Immortal

Become Virtually Immortal – Screenshot Trailer “Eternal You”. 3.15

Zur Vorstellung eines gelebten Lebens gehört es, etwas zu hinterlassen, das inder Erinnerung, in der Wirkung auf andere, weiterlebt.
Es kann vieles sein, nicht nur ein festgemauertes Lebenswerk mit Inschrift und Festrede – genauso sehr die Summe der kleinen Gesten, ein gewisser Stil, eine Aura, eine spezifische Haltung, die nicht nur Angehörige in ihrem Leben inspiriert.  Man kann es Vermächtnis bzw. Legacy nennen.

Generative KI erkennt Muster in dem Material, das in sie eingespeist wurde, extrahiert daraus relevante Merkmale, und kann, darauf basierend, neue Inhalte generieren.
So kann generative KI auch Muster in dem erkennen, was ein menschliches Leben hinterlässt. Noch nicht lang zurück, war das Material rar. Denke ich an meine Eltern, gab es Fotos, ein paar Ton- und Videoaufnahmen, handschriftliches etc.  Heute sind digital gespeicherte Medien allgegenwärtig – als Text, Bild, Video, gesprochene Sprache. Genug, um aus dem passenden Datenmaterial einen Avatar zu klonen.
Je mehr und um so passenderes Datenmaterial ihr zugeführt wird, desto realitätsnäher liegt die Ausgabe der KI, bis hin zu den einzigartigen Charakteristika der Stimme mit ihren wechselnden Emotionen und Tonalitäten. So kann die KI ein Gespräch (oder einen Monolog), nicht nur als Text, sondern auch als persönlich erkennbare, gesprochene Stimme synthetisieren.

Ganz neu ist das Konzept nicht. Vor zehn Jahren (2014) erschien im New Yorker der Essay How to Become Virtually Immortal. Es war die Zeit des grössten Hypes um Social Media – das Konzept scheint sich stark auf Social Media Daten bezogen zu haben. Ein echter KI- Dienst entwickelte sich daraus noch nicht. Das damals genannte Start Up Eterni.me ist jedenfalls nicht mehr auffindbar.
Ein Film und ein Pionier zwischen Vision und Vermächtnis brachten das Thema in den letzten zwei Monaten in die öffentliche Aufmerksamkeit.

Die Wiederbegegnung mit der verstorbenen Tochter. Screenshot von 03.08 Die Doku “Eternal You” über KI und das Ende der Endlichkeit

Der Dokumentarfilm Eternal You startete am 20.06.24 in den Kinos, entstammt aber nicht dem aktuellen KI- Hype. Die Idee ist etwas älter. Die Dreharbeiten waren von Corona unterbrochen worden, Fertigstellung und Kinostart schoben sich so etwas hinaus.
Der Film ist eine Montage mehrerer dokumentarischer Stränge. Einige unterschiedliche Szenarios sind  erkennbar.
Zunächst in schriftlicher Dialogform –  Der Text kommt aus dem Ticker, wie wir es von Chat GPT her kennen; ein Angebot zum schriftlichen Dialog. Ein Mann chattet mit dem Avatar seiner verstorbenen Geliebten, andere Situationen sind vorstellbar. Nebenbei, lernt die KI in den Dialogen weiter? Dann müsste sie sich im weiteren Verlauf verändern, weiterentwickeln …
In einem zweiten Szenario kommt eine Stimme aus dem Off – grundsätzlich wirkt sie in dieser Form als Monolog dominant – als wolle sie posthum  in das Leben der anderen hinein regieren.
Das dritte Szenario wirkt aufwühlend und befremdlich. In der südkoreanischen TV- Show Meeting You  versucht eine Mutter von ihrer verstorbenen Tochter in einem VR- Raum Abschied zu nehmen. Die Tochter erscheint lebensecht, bleibt aber unfassbar – die Mutter kann sie nicht in die Arme schliessen.  Im weiteren stirbt der Avatar der Tochter einen zweiten, virtuellen Tod, die Mutter konnte Abschied nehmen. Sie bekräftigte, dass ihr diese Begegnungen geholfen haben.  Virtual Reality als Traumatherapie?

VR hat sich seitdem (2020) weiterentwickelt, der heutige Stand würde weit detailliertere Szenarios ermöglichen. Und sicherlich kommen manch seltsame Gedanken auf: ein Totenreich im Metaverse – in dem Verstorbene aufgesucht werden können? Mir fiel dabei die Szene aus der Odyssee ein, in der Odysseus dem Schatten seiner Mutter im Hades begegnet – eine solche Wiederbegegnung ist ein uraltes, archetypisches Motiv.
Vielleicht ist manches in Zukunft möglich.  Jetztsind es v.a. Menschen, die plötzlich und unerwartet Angehörige verloren haben, die solche Angebote aufgreifen.  Als eine Möglichkeit zur vermissten Auseinandersetzung oder dem verpassten Abschied.

Michael Bommer

Michael Bommer war der erste Kunde des Start Ups Eternos Life.
In jeder Hinsicht ein idealtypischer Pionier. Selber war er lange Jahre Software- Manager, als solcher bestens vertraut mit den technischen Hintergründen. Pionier in Sachen Kundenkommunikation, deren Entwicklung und Verbesserung er entscheidend mitgestaltet hat – dazu begabt darin, komplexe Innovationen und Technologien verständlich zu erklären.
Michael Bommer war seit zwei Jahren an Krebs erkrankt und  warf sich in seinen letzten Monaten mit Verve in sein letztes Projekt zwischen technischer Vision und persönlichem Vermächtnis. Beeindruckend ist seine Begeisterung, die aktive Beteiligung daran,  kurz vor seinem Tod …. dass ich in den letzten Tagen meines Lebens noch etwas gefunden habe, was mich begeistert, was mich mitreißt, was ich sozusagen mit Anlauf mit ins Grab nehme. Für ihn eine tiefe emotionale Erfahrung. 
Seine Geschichte ging durch die Medien: Zeit, Spiegel, FAZ, ZDF berichteten.  Gunnar Sohn hat ein Book-on-demand dazu gestaltet und mir zur Verfügung gestellt.
Im Gegensatz zu anderen Beispielen von Digital Afterlife wurde Bommers Geschichte ausschliesslich positiv kommuniziert – im Respekt vor seiner überzeugenden Offenheit.
Technisch beruht die hier entwickelte KI auf allen verfügbaren Quellen von Erinnerungen, Wissen, Meinungen, Erfahrungen etc. aus Videos, Bilder, Dokumenten. 315  Phrasen, 150 Geschichten aus versch. Lebensphasen wurden eingespeist – in unterschiedlichen Tonalitäten und Stimmungen. Das Leben bleibt aber endlich. Am 25.06. starb Michael Bommer.

Das Gedächtnis an Verstorbene, ihre Bestattung, ihr Afterlife war immer zentraler Bestandteil menschlicher Zivilisationen. Beim Bau von Pyramiden und Megalithgräbern haben sich z.B. die damaligen Kulturen in ihren technischen Möglichkeiten selbst übertroffen.  Manche Zivilisationen wurden von ihrem Totenkult dominiert.  In anderen Kulturen gehören die Verstorbenen genauso zur Familie, zum  persönlichen Umfeld, wie die Lebenden. manche Vorstellungen sind bizarr.
Jetzt erscheinen neue Möglichkeiten. Ein synthetisch erzeugtes –  dialogfähiges Gegenüber ist etwas bislang nicht dagewesens. Was es vordem nur als Vorstellung gab, wird auf trickreiche Weise erlebbar gemacht. An der  Endlichkeit des Leben ändert es nichts.

Wie man dieses Neue nennen kann, ist noch unklar. Bezeichnungen wie  Digitaler Zwilling, Ghost Bot, Verwandlung in eine KI fallen in den Beschreibungen. Mehrfach schliesst sich ein kritischer Verweis auf Geschäft und Kommerzialisierung an – als ob die  Dienste herkömmlicher Bestatter nicht ebenso geschäftlich organisiert wären. Es ist ein kultureller Prozsee, was davon weiterentwickelt – und in Zukunft von  StartUp Bestatter – oder anderen angeboten wird.

Eternos Life:Testimonial Michael BommerGunnar Sohn:  Michael Bommer. Zwischen Vision und Vermächtnis. Sohn & Sohn Schriftenreihe Band 3, 148 S., 6/2024 Bestellen/ Die Zeit. Nr. 25./2004  18.0.24 S.66 / Unsterblich dank Künstlicher Intelligenz. ZDF 18.05.2024 – Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit.  Film von Hans Block & Moritz Riesewieck, D, USA 2024; 87 Min. Website: https://eternalyou-film.de/ –  Laura Parker: How to Become Virtually Immortal . The New Yorker. 14.04. 2014.  Using A.I. to Talk to the Dead… s.auch: Lilli Berger: Virtuelle Erinnerungsräume, Die Zukunft Des Trauerns |  TEDxPotsdam, yt 2023 —  Simulate the Dead- Project December. James Trew:  Digital ‘immortality’ is coming and we’re not ready for it 7/2023

 



Digitale, algorithmische, plebejische Öffentlichkeit …

Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk ploppen die Diskussionen zum Wandel digitaler Öffentlichkeit und der Plattformen immer wieder neu auf. Ganz besonders auf der re:publica24 und in ihrer Folge. Der Verlust von Twitter wurde geradezu betrauert. Hat die digitale Öffentlichkeit aufgehört eine vernetzte Öffentlichkeit zu sein? Findet eine vernetzte Öffentlichkeit einen anderen Ort, wird sie überdeckt durch die algorithmische Zuweisung gesponserter Inhalte? Oder entsteht etwas ganz neues?

Für einen beachtlichen Teil der Nutzer ist  X/Twitter nach dem Besitz-/ Machtwechsel nicht mehr akzeptabel, sie haben das Netzwerk verlassen. Andere bleiben mit einem pragmatischen Verweis auf die Reichweite.
Ist es angemessen, Elon Musk einen Faschisten zu nennen? – wo er doch Rechtsradikalen eine Basis ermöglicht – oder ist es generell die absurde Geld- und Machtfülle einzelner Oligarchen, die eine Gefahr für zivilgesellschaftliche Öffentlichkeiten bedeutet?
Digitale Öffentlichkeit war immer als eine Überwindung des Sender-Empfänger Modells begrüsst worden. Die grossen Visionen der sich herausbildenden Netzöffentlichkeit des Web 2.0 waren der freie Zugang zu Information, d.h. die Demokratisierung des Wissens und damit verbunden eine partizipatorische Kultur, die gesellschaftliche Energien freisetzt, Zukunft zu gestalten.
Das Freie Netz hatte sich damals zwar gegenüber den geschlossenen Systemen wie AOL durchgesetzt,  wurde aber bald wieder von einem neuen Vermarktungssystem eingefangen: Die Sammlung von Verhaltensdaten wurde zur neuen Geschäftsgrundlage. Ein Geschäftsmodell, das wahrscheinlich erst  im nachhinein entdeckt wurde. Das Freie Netz behielt einige Freiräume – die Gewinne wurden vom weiter wachsenden BigTech abgeschöpft.

Der Kanzler auf der re:publica 2022

Von allen Grossveranstaltungen hat die Re:publica – Das Festival für die digitale Gesellschaft – in Berlin am meisten den Gedanken der digitalen Öffentlichkeit hochgehalten. Bereits im Namen spiegelt sich der Anspruch ein Ort zu sein, an dem die Themen der digitalen Öffentlichkeit zur Sprache kommen.
Ein Format, wie es sich in dieser Breite und Grössenordnung wohl nur in Berlin entfalten konnte. Dort war/ist eine grosse Szene von AktivistInnen mit Verbindungen in Kultur, Wissenschaft und Politik gewachsen.
Der Begriff Öffentlichkeit ist zwar nicht final definiert, die Verwendung orientiert sich aber meist an der von Habermas beschriebenen bürgerlichen  (im Sinne von Citoyen)  – heute sagt man meist – zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Michael Seemann, Autor von Die Macht der Plattformen, verwies auf eine Art Co-Evolution zwischen re:publica und Twitter – was man wohl auf die Nutzung im deutschsprachigen Raum eingrenzen kann.
Twitter war zu Beginn der Social Media Ära eine Art Initialzündung, konstitutiv für Vernetzungen mit neuen Möglichkeiten: personell über die @- Verbindung,  thematisch gebündelt  über #Hashtags. Es stand für ein Szene- Building, ein Empowerment für AktivistInnen, die oft zu Meinungsinfluencern wurden.

In seinen besten Momenten war Twitter am nächsten an einer globalen Öffentlichkeit, in der sich Nachrichten und Meinungen am schnellsten verbreiteten. Manche Ereignisse liessen sich in Echtzeit verfolgen. Twitter wurde von Journalisten, Politikern, Aktivisten etc. genutzt – von Menschen und Institutionen, die Informationen verbreiten.  Twitter war aber auch die Basis von Donald Trumps öffentlichem Auftreten.
Eine einfache Erklärung der Verbreitung bietet die Affordanztheorie mit dem  Angebotscharakter: Objekte, in diesem Falle Plattformen,  legen einen bestimmten Gebrauch nahe. Technik gibt nicht die Struktur vor, aber sie ermöglicht sie bzw. macht sie wahrscheinlich.
Entscheidend ist hier, dass die Inhalte dauerhaft für ein möglichst weitgefasstes und relevantes Publikum sichtbar sind, sie auf einfache Weise aufgefunden und sie miteinander geteilt werden können.

Jede Gesellschaft bringt ihre eigene Medialität hervor – das geht zurück bis in rein mündliche  Stammesgesellschaften und setzt sich fort bis in die digitale – was auch immer – Moderne (vgl. Metamoderne). Ist die Herausbildung einer digitalen Öffentlichkeit eine überwiegend kulturelle Entwicklung – die technische Entwicklung und Medienangebote letztendlich definiert?  Ein Prozess, vergleichbar mit dem der Technogenese.
Es sind mehrere Akteure:  Anbieter, Entwickler und Investoren medialer Angebote. Nutzer im einzelnen, aber auch als einer Gemeinschaft, die den Wert einer Öffentlichkeit erkennt und sich dementsprechend verhält. Investoren (nicht in jedem Falle identisch mit Anbietern) interessieren letztlich die Gewinne.

Was vordem Twitter war, verteilt sich nun auf mehrere Plattformen:  X mit der immer noch bei weitem grössten Reichweite, Bluesky kommt im look & feel dem alten Twitter am nächsten, Mastodon hat zumindest seine Gemeinde erweitert – und Threads ist in das Meta/ Facebook Imperium integriert.  Es gibt Gründe anzunehmen, dass alle vier nebeneinander bestehen bleiben – und ihre eigenständigen Merkmale weiter ausbilden.
Übernehmen  die Plattformen selber die Verteilung von Informationen kommt es zu algorithmischen Öffentlichkeiten – eine neue Art gesteuerter Massenmedien mit weitreichendem  Machtzuwachs der Betreiber.
Die grundlegenden Möglichkeiten vernetzter Öffentlichkeit sind, anders als vor 15, 20 Jahren, nichts neues mehr. Ein freies Internet, eine digitale Öffentlichkeit  muss immer wieder neu aufgebaut/ erstritten werden. Letztlich sind es die digitalen Öffentlichkeiten selber, die sich den Raum – einen Common Meeting Ground – schaffen.

Neben der bürgerlichen kommt bei Habermas eine weitere Form der Öffentlichkeit vor: die plebijische Öffentlichkeit*. Klingt von einem Grossintellektuellen zunächst arrogant. Der Begriff stammt von Beschreibungen der vorindustriellen Unterschichten in Europa. Als charakteristisch wird  eine fehlende Trennung  von Öffentlichkeit und Privatsphäre, eine Ausrichtung auf Sensationen  genannt. Zumindest erinnert das Konzept an Formen von Öffentlichkeit, wie wir sie aus Reality- TV Formaten und von Social Media Kanälen, in denen endlose Streams um Aufmerksamkeit ringen, kennen. Und es sind diese Kanäle, auf denen (rechts-) populistische Parteien besonders erfolgreich agieren.

Inwieweit sich eine Art immersive Öffentlichkeit – ein Socialverse  in Zukunft herausbilden kann, ist Spekulation. Es wäre etwa das, was zu Zeiten des Metaverse Hype 2022  diskutiert wurde: It is the sum total of all publicly accessible virtual worlds, real-time 3D content and related media that are connected on an open global network, controlled by none and accessible to all **. 

vgl.u.a. : Michael Seemann: Krasse Links 18. 2.06.2024: Dominik Kalus: Twitter ist zu einer Nazi-Propaganda-Waffe geworden.  BR 17.06.2024. re:publica 2024: Verloren auf Plattformen... Markus Reuter: Wer Musk hofiert, hofiert Rechtsradikale. Netzpolitik.org 22.03.2024. Gunnar Sohn: Über ein Leben mit und ohne Twitter. 3.06.2024. * Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ausgabe stw 1990, S. 16. ** Tony Parisi: The Seven Rules of the Metaverse. 10/2021



SideMenu