Glamour Labor und Prekarität

Das schönste Gewerbe der Welt – gemeint ist die Mode –  Hinter den Kulissen der Modeindustrie von Giulia Mensitieri erschien jetzt auf Deutsch. Die englische Ausgabe war bereits im August  2020 erschienen, das französische Original »Le plus beau métier du monde« im Januar 2018.  Aus Trainingsgründen habe ich mich für das letztere entschieden: Englisch ist omnipräsent, und verdrängt oft  andere Sprachkenntnisse, die  Gefahr laufen zu verkümmern .
Mode zählt zu den ganz grossen Wirtschaftszweigen, incl. aller verbundenen Sektoren entfallen 6 % des globalen Konsums (S. 15) auf sie. Textil- und Bekleidungsindustrie sind Stufen der Produktion, sie  liefern die materiellen Konsumgüter als Endprodukte. Modebranche im engeren Sinne zählt zu den Creative Industries: Mode ist ein kulturelles System, in dem Kleidung + entsprechenden Accessoires eine Bedeutung zugemessen wird. Naheliegend wird Mode v.a. visuell kommuniziert. Gut aussehen muss es auf den Bildschirmen. Marken investieren in ihre Präsenz, ihre Sichtbarkeit. Ganze Branchen inszenieren und verbreiten diese Sichtbarkeit – und werden mit diesen Bildern der Mode zu den Intermediären zwischen Produktion und Konsum (vgl. 36 ff), eine Form von Glamour Labor.

Die Creative Economy ist systematisch auf die Produktion neuer kultureller Güter ausgerichtet (s. Reckwitz 2017, 143). Kulturelle und singuläre Güter zirkulieren in der spätmodernen Ökonomie und prägen die Lebensstile (vgl. eda.). Prinzip von Mode ist es, immer wieder neue, immer andere singuläre Produkte – Einzigartigkeitsgüter – auf den Markt zu bringen. Diese Güter werden mit narrativen, ästhetischen, ethischen, gestalterischen und ludischen Qualitäten aufgeladen, Reckwitz nennt es Valorisierung – Begriff und Konzept lassen sich auf die von Mensetieri beschriebene Modebranche passend übertragen.  In der Luxusmode spielt zudem die statusrepräsentative Qualität, die simple Aussage, es sich leisten zu können, eine grosse Rolle.

Glamour Labor im Luxussegment. Bildquelle: Michael Lee: Unsplash.com

Le plus beau métier du monde ist eine ethnographische Studie aus einem besonderen  Ausschnitt der Modeindustrie: dem Luxussegment und seinen Arbeitsbedingungen. Die Autorin stützt sich auf Interviews mit Beschäftigten, zum Teil auch teilnehmende Beobachtung, auch setzt sie sich  selber einer prekären Beschäftigung aus. Es sind einzelne Geschichten, die sich in ihren Erfahrungen überschneiden und deutliche Muster zeigen.  Es ist nicht die Kaste der Aushilfs-, Neben- und Gelegenheitsbeschäftigten, es sind die Menschen, die  als Designerinnen, Stylisten, Models, Friseure, Verkäufer, Journalistinnen, Handelsvertreter etc., die Branche am laufen halten. Auf der einen Seite haben sie Zugang zu Privilegien, wie  Flüge erster Klasse, Luxuskleidung, renommierten Hotels etc.,  sehen sich jedoch mit einer Form der Prekarität konfrontiert, die aus den Unwägbarkeiten der Zahlungsmethoden und – fristen, zufälligen Anfragen von Sponsoren und den Lebenshaltungskosten in teuren Städten hervorgehen. Oft sind sie  gezwungen, in kleinen Wohnung zusammenzuleben und sich immer wieder über ihr berufliches Schicksal zu befragen. Gezahlt wird zudem oft mit Warengutscheinen.
Symptomatisch sind die Diskrepanz zwischen glamourösem Prestige und Prekarität, niedrige Einkommen, eine Elastizität der Arbeitszeiten, die Tendenz zur Selbstausbeutung, oft eine Abhängigkeit von Agenturen. Trotz ihres Status als Selbständige sind Modearbeiter/innen nicht nur gezwungen, den Entscheidungen ihrer Agenturen zu folgen, sondern sie dürfen selbst dann, wenn sie ihre Missbilligung zum Ausdruck bringen wollen, niemanden damit verärgern, ohne ihr Einkommen zu gefährden (241).  Networking, soziales Kapital (137),  informelle Elemente bestimmen die Beschäftigungsverhältnisse. Entlohnung findet gleichsam in  sozialem bzw. symbolischem Kapital statt, in Sichtbarkeit.

Système producteur de rêve (System Traumproduktion) lässt an die grosse Traumfabrik Hollywood, bzw. Filmbranche insgesamt denken. Es gibt einige Gemeinsamkeiten, etwa das Starsystem, Ansehen, Medienpräsenz und Schönheitsideale, Glamour, und einen verbreiteten Wunsch bzw Begehren, daran teilzuhaben.
Der Aufstieg zu einer emblematischen Wirtschaftsbranche vollzog sich spätestens in den 80er Jahren, dem Jahrzehnt der Yuppies und ihrer Obsession mit Marken. Aus der Popkultur wurde das ursprünglich  subkulturelle Konzept Coolness übernommen, ersetzte bzw. ergänzte traditionellere Vorstellungen von Schönheit: ehemals subkulturelle Werte wurden wirtschaftlich vereinnahmt. Coolness ist eine kulturelle Qualität, die Zuschreibung eines symbolischen Wertes, ein Persönlichkeitstypus, der performed werden muss. Mensitieri hebt eine tyrannie du cool hervor: Das ökonomische Überleben der einzelnen hängt davon ab, wie cool man ihn/sie findet.

Glamour Labor ist eine spezifische Form von  Arbeit – die Herstellung von Wahrnehmbarkeit und Sichtbarkeit, es ist „immaterielle Arbeit“,  die die informativen und kulturellen Aspekte eines Produkts erfordern; anderswo wird sie so beschrieben: Glamour labor is both the body work to manage appearance in person and the online image work to create and maintain one’s “cool” quotient—how hooked up, tuned in, and “in the know” one is. (vgl. Wissinger, s.u.):  Nebenbei: Es gibt wohl kaum einen verfügbaren kulturellen Code, egal, ob ethnischen oder subkulturellen Ursprungs, der nicht in der Mode verwertet wurde – kulturelle und wirtschaftliche Aneignung, die das derzeit diskutierte Blackfacing bei weitem übersteigt.
Eine Soziologie der Mode ist das Buch nicht. Die Darstellung der Lebenswelt Modebranche ist aber soweit in die  zeitgeschichtliche Entwicklung, speziell den postfordistischen Kontext,  eingebunden, dass die Linien nachvollzogen werden können. Den Bezug zur Auslagerung der Produktion (in sog. Billiglohnländer) kann man vermissen, auch teure Marken (nicht alle) lassen unter denselben prekären Bedingungen produzieren.
Die ethnographischen Studien der Autorin liegen bereits einige Jahre zurück, sind aber sehr wahrscheinlich immer noch aktuell. Mehr oder weniger ähnliche Lagen gibt es auch in anderen Creative Industries. Trotzdem kann man einige Tendenzen vermuten: Die grosse Zeit der Marken schwächt sich ab, schnelllebige Mode – fast fashion – steht zunehmend in der Kritik, ethische Valorisierung tritt zumindest häufiger hervor.

jetzt auch auf deutsch

Giulia Mensitieri: Das schönste Gewerbe der Welt. Hinter den Kulissen der Modeindustrie (dt.4/2021); Orig: Le plus beau métier du monde. Dans les coulisses de l’industrie de la mode (2018). Dt 4/2021: Das schönste Gewerbe der Welt. Hinter den Kulissen der Modeindustrie. Matthes & Seitz
Interview mit Maja Beckers »Es ist ein Geheimnis, das alle teilen und über das niemand spricht« – Spiegel +, 29.04. 2021. Vgl. auch : Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, 10/2017, 480 S.; Wissinger, Elizabeth. (2015)#NoFilter: Models, Glamour Labor, and the Age of the Blink. In J. Davis & Nathan Jurgenson (eds.) Theorizing the Web 2014 [Special Issue]. 



Wer macht die Zukunft?

Wer macht Zukunft? Kaum ein Thema ist grösser als die Zukunft – und  derzeit ist es zum Megathema und Buzzword herangewachsen.
Das Sprechen über Zukunft orientiert sich oft an technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritts-erzählungen. Einige Konzepte und Erzählstränge kommen immer wieder in den Diskussionen und Statements vor.
Kann man den allround-Begriff Innovation noch dazu rechnen? Beachtenswert bleibt die Definition Schumpeters „the doing of new things or the doing of things that are already done, in a new way“. Innovativ können Produkte, Prozesse, Geschäftsmodelle, Bildungsformate, Technologien, Materialien etc. sein. Neue Produkte werden entwickelt, bestehende verbessert, Prozesse optimiert und digitalisiert. Innovativ bedeutet dabei den zumindest vagen Anschluss an eine Fortschrittserzählung.
Sprunginnovationen gehen weiter, ihre Durchsetzung führt zu neuen  Infrastrukturen, sie bedeuten bereits selber einen Baustein der  Fortschrittserzählung. Sprunginnovationen sind solche Innovationen, die eine radikale technologische Neuerung beinhalten. Sie haben das Potenzial, bislang bekannte Techniken und Dienstleistungen bahnbrechend zu verändern und zu ersetzen (vgl. Seite der Bundesregierung und Bundesagentur für Sprunginnovationen)  Das SmartPhone oder auch die Verbreitung von Elektromobilität sind/waren z.B. Sprunginnovationen.   Bisher wurde der Begriff für radikale technologische Neuerungen, die eine neue Erfahrungskurve vermitteln, verwendet. Es könnten aber auch Innovationen in anderen Feldern – z.B. der Arbeitsorganisation, Mobilitätskonzepten, auch der Ernährung und Bildungsorganisation nach diesem Muster gedacht werden.

Szenarien sind keine eindeutigen Beschreibungen, sondern machen mögliche Zukünfte sichtbar. »Denk-Werkzeuge«, die mögliche Zukunftsverläufe aufzeigen. In diesem Blog mehrmals ausführlich besprochen: Vgl. Post- Corona – Szenarien für die Zeit danach und Post Covid – Neue Horizonte oder Goldene Zwanziger?

Das Modell der Megatrends des Zukunftsinstituts ist seit längerem sehr populär,  oft wird darauf Bezug genommen – v.a.  im Consulting.  Im Prinzip eine Reihe langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Trends antreiben.  Oft indirekt, beispielsweise  führte der breite  Bildungsaufstieg seit den 60er Jahren zwar nicht zum Zugang zu den damals verbreiteten Privilegien, der höhere verbreitete Bildungsstand legte aber die Basis für eine wissensintensive Wirtschaft. Ein höherer Altersdurchschnitt stellt Gesundheitsfragen und ganz sicher den Megatrend Silver Society stärker in den Vordergrund. Konnektivität ist zunächst eine technisch definierte Möglichkeit, die mit ihrem Gebrauch neue Vergemeinschaftungsformen ermöglicht.
Individualisierung ist nicht nur ein Megatrend, sondern ein soziologisch oft beschriebener langfristiger gesellschaftlicher Prozess. Wahrscheinlich die langfristig massivste gesellschaftliche Entwicklung. Ein Treiber von Individualisierung ist das seit Jahrzehnten zwar von der Verfassung garantierte Prinzip der Gleichberechtigung jedes einzelnen, das in der  gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit aber lange Zeit wenig wirksam war. Die Einforderung dieser Rechte au allen Ebenen zeigt sich zunächst in individuellen Emanzipationsprozessen, im weiteren der Forderung nach Diversität, nach innerer Demokratisierung. Spielten lange Zeit identitätsvermittelnde grosse Organisationen, wie Kirchen, Verbundsysteme der Wirtschaft, grosse Verbände, Volksparteien eine grosse Rolle, erleben diese heute einen Bedeutungsverlust.
Formuliert man die Perspektive negativ, landet man bei der Vorstellung einer zersplitterten, fragmentierten  Gesellschaft.
Vergemeinschaftung wird neu ausgehandelt – über die Kompatibilität von Interessen und Neigungen, entsprechend dem  Prinzip der Consozialitätwhat we share – eine Übereinstimmung in Merkmalen, Interessen, Ansichten, Leidenschaften als Vorstufe von Sozialität. Verwandt damit ist das oft beschriebene Konzept der Tribes.  Ein weiteres Konzept ist  Technogenese –  das eine Co-Evolution von Technik und Gesellschaft meint: Techniken die genutzt werden, werden auch weiter entwickelt, zudem verbreiten sich bestimmte Muster der Nutzung.

Nachhaltigkeit ist eine mittlerweile ganz grosse und eigenständig wirksame Fortschrittserzählung, die sich zum einen auf einen grossen Rahmen – der Vermeidung eines Kollaps durch Klimawandel – gründet. Im Detail wirkt sie sich auf zahllose einzelne Felder aus, für die das Nachhaltigkeitsprinzip gelten soll. Spricht man heute von Transformation, ist zumeist eine Transformation zu nachhaltiger Ökonomie gemeint.
War die Nachhaltigkeitsperspektive lange Zeit (und ist noch immer) mit sozialen Perspektiven verbunden, wird Nachhaltigkeit als Fortschrittsthema, etwa in der Wende zur Elektromobilität, oft auch singulär kommuniziert. Die Frage bleibt, ob diese Wende allein ein Fortschritt ist. Raumbedarf von fahrendem und ruhendem Verkehr, der Aufwand der Produktion bleibt in etwa derselbe.

Soziale Innovationen schliessen an neue Erfahrungen an, etwa an die von mobiler Arbeit, von pragmatischen Problemlösungen und der Nutzung neuer Technologien als kulturellem Innovationspotential.  Die übergreifende Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft hat eine gesellschaftlich integrative Funktion.

Seit dem Erscheinen 1984 (dt. 2002) hat New Work, New Culture von Frithjof Bergmann immer wieder Schübe von Diskussionen angefacht – zum anderen wurde der attraktive Begriff aber auch bis zur Sinnverzerrung vereinnahmt – im Consulting, bis hin zur Sicherung als Wortmarke. Im Grunde ist es ein Konzept der Lebensreform auf drei Säulen: der auf ein Drittel reduzierten Lohnarbeit,  dem immer wieder zitierten “was man wirklich, wirklich will” und einem High- Tech self providing.
Leonie Müller, Gründerin des Zentrum für Neue Arbeit in Berlin hat nun eine erfrischende Wiederbelebung (vgl. Interview ab 17.30 min.) der New Work Ideen von Frithjof Bergmann vorgelegt – ihn auf die individuelle Ebene zurückgeholt. High- Tech self providing schien lange Zeit  als eher gewagter Gedanke. Mit aktuellen Techniken wie 3D- Druck und KI- Anwendungen werden sie realistisch. Produktion auf Mikro- Ebene.eine Art Renaissance einer individualisierten kleinen Wirtschaft. New Work (+ New Culture) kann so individuelle Perspektiven begründen.

In Corona- Zeiten leider wenig Aussenwirkung: Wandelwerk Köln- Ehrenfeld

Unbedingt empfehlenswert ist die Website Wir – die ZukunftsMacher. Visionen. Ideen. Projekte (+ einer von Elita Wiegand kuratierten FB- Seite) mit vielfältigen, kontinuierlich aktualisierten Beispielen zur Zukunft von Mobilität, Architektur und Stadtentwicklung, Bildung, Ernährung. Ein Netzwerk von PraktikerInnen.

La Rentrée nennt man in Frankreich den Neustart nach den Sommerferien im Herbst.  Zumindest ein Teil der aktuellen Zukunftsdiskussionen ist derzeit auf einen – weitergehenden –  Neustart gerichtet. Zunächst den Break Even der Impfkampagne, der die bleierne Zeit der Lockdowns beenden soll. Dann die Bundestagswahlen mit einem erwarteten  Wechsel.

Bild oben: kallejipp / photocase.de;  Elita Wiegand: Die ZukunftsMacher (wir-die-zukunftsmacher.de)  Website und kuratierte FB- Gruppe mit zahlreichen Projektbeispielen Mobilität, Architektur, Ernährung. Leonie Müller & Gunnar Sohn: New Work im Sinne von Frithjof Bergmann; Gespräch auf Video (ab Min. 17.30)



Neue Soziale Dynamik im Common Meeting Ground

Die Acht Szenarien

Noch einmal ein Einstieg mit Postcorona – Szenarien: Kürzlich wurden die aktualisierten Ergebnisse vom  ScMI (zum direkten download auf der Seite der ScMI; vgl. auch die Landkarte der Zukunft) vorgestellt. Ganz aktuell ist der Stand nicht, die Ergebnisse beruhen auf den Daten von 11/2020. Die Ergebnisse von 4/2020 hatte ich im letzten Frühjahr gemeinsam mit einigen anderen Modellen und Sichtweisen (D2030, Zukunftsinstitut) in einem längeren Blogbeitrag vorgestellt. Vor ein paar Wochen dann ein Beitrag zur Diskussion darüber, ob die Perspektive Neuer Horizonte mehr verbreiteten Wunschvorstellungen entspricht – und ob nicht eine schnelle Restauration des Alten Normal wahrscheinlicher ist.
Szenarien sind  »Denkwerkzeuge«, denen keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet sind. Sie sollen uns ermutigen, bisher wenig genutzte Denkpfade zu beschreiten. Und zwar nicht nur unmittelbar nach der Corona-Pandemie, sondern auch in den Jahren danach. Um nicht nur das Denken, sondern auch das anschließende Handeln zu unterstützen, stellen sich weitergehende Fragen: Wie viel Veränderung ist von heute aus gesehen – mit einem Szenario verbunden? (52)

Erwartete Zukunft 2030 – Stand Nov. 20

Dass ein Szenario Neue globale Dynamik, das Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Dynamik miteinander verbindet, als wünschenswert gilt, liegt nahe. Was macht es aber realistisch?  Hintergrund sind Zukunftsaussagen mit hohen Erwartungswerten, etwa eine deutlich flexibler organisiertes Arbeitsleben und die weiter zunehmende Bedeutung der Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit (58,59). Im weiteren, ein Vertrauen darauf, dass sich die deutsche und europäische Wirtschaft in ihrer Struktur erneuern. Wer sich von dieser Perspektive überzeugen lassen will, lese die Seiten 30/31 – zudem ist das Szenario mit guter Laune verbunden: Herausforderungen werden mit Offenheit und Neugier begegnet – Freude an Innovationen dominiert.
Ein derart positives Szenario setzt einen  gewachsenen Konsens voraus:   Die 2020er-Post-Corona-Dekade wird von struktureller Veränderung geprägt sein, die wir zu einem großen Teil selbst beeinflussen können (74).  Andere Szenarien der Veränderung sind weniger attraktiv, wie (6) In Corporate Hands, in dem globale Unternehmen immer mehr Lebensbereiche dominieren. Oder der  (3) Abschied von Gewohntem mit De-Globalisierung und Konsumverzicht. Zukunft ist auch das Ergebnis von gesellschaftlicher Auseinandersetzung.

In den letzten Wochen wurde deutlich, dass gegenüber dem ersten Jahr der Pandemie das Vertrauen in die Politik der Regierung nachgelassen hat. Vor einem Jahr wurde diese Politik als alternativlos akzeptiert, Fundamentalkritik sammelte sich am rechten Rand. Kritik heute hat eine ganz andere Basis. Ein Jahr Pandemie mit intensivster Berichterstattung und Diskussionen dazu brachten einen verbreitet hohen Informationsstand mit sich. Massnahmen werden an Möglichkeiten gemessen, das gilt nicht nur für den Verzug beim Impfen, ebenso an einer mangelnden Nutzung digitaler Möglichkeiten, der  Kombination von Öffnungen mit Tests und Rückverfolgungs – Apps  (z.B. recover), dazu die Reihe von Skandalen persönlicher Bereicherung.
Andere sehen Kritik als bedenklich. So spricht der Content- Strategieberater Mirko Lange** eindringlich von der Gefahr, dass alles, was aktuell das Vertrauen in die Bundesregierung (weiter) untergräbt, es nur noch schlimmer macht**. Und es sind auffallend viele Stimmen, die Kritik einer unbestimmten Menge – den Leuten, manchmal scheint eine Art pöbelnder, zivilisationsferner Masse gemeint, zuweisen. Wirtschaftsblogger Gunnar Sohn sieht hier die Tendenz in Wortwahl und Habitus eine vermeintlich richtige Gesinnung zum Ausdruck zu bringen.
Was ist schlecht daran, wenn die Zustimmung zu einer Regierung in der Gesellschaft nachlässt? Eine ganz normale gesellschaftliche Entwicklung und die Eröffnung eines Diskurses für die  Zeit danach.

Jede (demokratische) Gesellschaft braucht einen Common Meeting Ground gemeinschaftlich als wichtig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, was in ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf – so schrieb 2008 der 2015 verstorbene Schweizer Soziologe Kurt Imhof. Dafür ist die Zeit. Und es gehört vieles in einen übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs und muss verhandelt werden. So viele sind in ihrer Existenz getroffen, so viel wird in der Krise deutlich.

Gut 20 Jahre liegen die Reformen der Ära Schröder zurück. Mit reichlich  Hintergrundmusik von  Selbstverantwortung, Flexibilisierung  und weniger Staat. Herausgekommen sind u.a. Hartz 4, und immerhin ein eher halbherziger Rahmen für Solo- Selbständigkeit. Manches wurde überdeckt durch den  rapiden digitalen Wandel, und einen langanhaltenden Wirtschaftsboom, der immer wieder Nischen bot – und mittlerweile ganz andere Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation.  Eine neue globale Dynamik braucht auch eine neue soziale Dynamik – sie fällt nicht in den Schoss, sie braucht eine Gesellschaft, die sie anstrebt.

 ScMi (Scenario Management International, Paderborn)  Download Post- Corona Szenarien. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik im Jahre 2030.  Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89)  **Mirko Lange auf Facebook:  Gunnar Sohn: Im Einzelfall-Empirismus “die Leute”​ abkanzeln. LinkedIn 24.03.21    



Digitaler Habitus?

Digitaler Habitus? Bild: @jamesponddotco /unsplash.com

Gibt es einen Digitalen Habitus? Spontan denkt man an Nerds, Gründer in Turnschuhen, Influencerinnen, Blogger und YouTuber  – und tatsächlich begegnet man immer wieder einem entsprechenden Habitus. Es geht aber weniger um  Klischees, als um die Ausrichtung an den Bedingungen und Möglichkeiten einer technisch vermittelten sozialen Welt – und was davon erkennbar bleibt.
Sozialkapital und das Werben darum spielt in der digitalen sozialen Welt eine oft übergrosse Rolle:  In einem Netz schwach institutionalisierter Beziehungen werden im Austausch von Aufmerksamkeit und Anerkennung Ressourcen ausgehandelt. Grundsätzlich ist das Feld  global und 24/7 erreichbar – im Detail aber auf Ausschnitte davon ausgerichtet.

Habitus ist ein zentrales Konzept in der Soziologie von Norbert Elias (1897- 1990) und von Pierre Bourdieu (1930 – 2002), in dem sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, spiegelt. Nach Elias bildete sich in den von ihm untersuchten Schichten im Laufe des Zivilisationsprozesses ein jeweils spezifischer Habitus heraus (vgl.  Machtbalance und Figuration). Sozialer Wandel und der von Persönlichkeitsstrukturen sind dabei parallele Prozesse, die sich im  Habitus, in der Affektkontrolle niederschlagen. Spezifiziert und zusammengefasst hat Elias das Konzept erst ist in seinem Spätwerk (Gesellschaft der Individuen, posthum, 1991).

Klassiker zum Habitus: Bourdieu 1979, dt. 1984

Bourdieus Konzept des Habitus ist Teil einer Theorie der gesellschaftlichen Unterschiede, die über ökonomische Ungleichheit hinaus differenziert.  Keine Pyramide von oben nach unten, sondern ein Feld mit verschiedenen Einflussfaktoren. Soziales und kulturelles Kapital bestimmen die Position ebenso wie das ökonomische Kapital – nur an anderer Stelle.
In der kulturellen Praxis  formt sich ein bestimmter Habitus heraus, der sich im Lebensstil ausdrückt – der Habitus beinhaltet die Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit. Oft verfestigt er die Dominanz einer Schicht.  Bei Bourdieu war es das französische Bildungs- und Besitzbürgertum mit seiner langen Tradition kultureller Distinktion.
Soziale Ungleichheit ist seit dem Erscheinen (1979, bzw. 1984) der feinen Unterschiede nicht verschwunden, geschwunden sind aber die Bindungen an klassische Milieus und die Verbindlichkeit ihrer Kultur,  die lange Zeit den Habitus prägten. Vieles wurde von Popularkulturen und Lifestyle- Marketing umgedeutet, letztlich verflüssigt. Kulturelles Kapital bedeutet nicht unbedingt sozialen Aufstieg, aber doch Zugang zu den Diskursen. Herkunft bzw. kulturelle Prägung bleiben im Habitus erkennbar, selbst bei massivem sozialem Auf- bzw. Abstieg.  Simpel gesagt, werden Menschen, die gleiche prägende Erfahrungen verbinden, einander erkennen, genauso wie am Stallgeruch prägender Organisationen oder Subkulturen.

Digitaler Habitus? Bild: Marley.Clovelly_ Pexels

Digitaler Habitus wurde bereits mehrfach aufgegriffen, so im kürzlich erschienenen Materialienband Netnography Unlimited im Beitrag Netnography. Digital Habitus,  and Technocultural Capital von Rossella Gambetti (Mailand).  Die ausführliche Definition* (s.u.), passt sich in Bourdieus Konzept ein: … a set of learned preferences, dispositions and behavioral schemes whereby individuals craft their selves using information and communications tools and devices within an elaborate technologically mediates social space that includes the social media ecosystem. (Gambetti, Netnography Unlimited, S. 295).
Kommunikation in digitalen sozialen Räumen war in den frühen Jahren eher experimentell, sehr eingeschränkt, aber oft mit der Erfahrung verbunden, ohne die gängigen Bewertungsmaßstäbe weitgehend vorurteilsfrei zu kommunizieren.  Mit technischem  Fortschritt erweiterten sich die Möglichkeiten und bieten immer mehr Raum zur Selbstdarstellung und auch zum Selbstmarketing – mit Text/ Sprache, Bild, Video.  Selbstdarstellung ist ein performative act of identity construction (295). Im weiteren zitiert Gambetti Bollmer  – Theorizing Digital Cultures: “Identity work is based less on physical context and more on individuals intentional self-presentation”.
Man muss dem nicht unbedingt vollständig zustimmen, Habitus ist personengebunden und nicht beliebig konstruierbar, es ist sozialisierte Subjektivität, aber nicht die Konstruktion von Wunschidentität.  Nebenbei, Selbstdarstellung bedarf auch immer der Kontrollarbeit. Und meist ist es der Habitus, für den wir bevorzugt und ebenso auch benachteiligt werden.

Kommunikationsform im Netz war und ist immer noch v.a. verschriftlichte Umgangssprache, als Abruf Text mit Graphik und Bild, mehr und mehr auch Bild- und Tonübertragung. Neuere Social Media Formate wie Live Streaming und Social Audio –  unterscheiden sich  als öffentliche Auftritte mit Stimme und/oder Gesicht immer weniger von  anderen öffentlichen Auftritten. Teilnehmer daran sind sich bewusst in (teil-) öffentlicher Aufmerksamkeit  zu stehen, und sind meist bestrebt ihren Auftritt unter Kontrolle zu halten. Das Wissen um Wirkung und Resonanz wird wichtiger. Auftritt und Habitus sollen möglichst authentisch wirken, v.a. nicht in einem Bruch zum physischen Kontext.
Anderswo im Netz herrscht immer noch ein rauherer Umgangston, der leicht in latente bis direkte Agressivität abdriftet, bis hin zur Vulgarisierung.

An der Universität Giessen fand mittlerweile zum zweiten male (2020 online) eine Tagung bzw. Aktionswoche Digitaler Habitus statt – mit Beiträgen v.a.  aus  medienpädagogischer Perspektive, etwa der Bedeutung  des grundlegenden Wandels literaler (=verschriftlichter Kommunikation) Praktiken und Bildungsprozesse.
Bemerkenswert war u.a. eines der Themen von 11/2020 –  Incels ( “involuntary celibates”/unfreiwillig Zölibatäre, die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Szene, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Online-Lesung.   

Soweit eine erste Bestandsaufnahme zum Thema Digitaler Habitus in der Technokultur.

Gambetti, Rossella: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital, In: Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research 2021. Michael Reitz: Noch feinere Unterschiede? Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. DLF- Radio 26.11.2017  Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede Orig: La distinction. Critique sociale du jugement; 1979; dt. 1984.  Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Online-Lesung –   Turner, Graeme.: The Mass Production of Celebrity: Celetoids, Reality TV and the “Demotic Turn”. International Journal of Cultural Studies. 153 – 165;  Grant Bollmer, G.D.: Theorizing digital cultures. 2018



Klaus Janowitz (klausmjan)

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