
Die Diskussion zum Begriff neoliberal im Anschluss an Hayek’s Bastards von Quinn Slobodian hat sich ausgeweitet – deutlich wird eine lange Bedeutungsgeschichte, tief verbunden mit zeitgeschichtlichen Strömungen.
Von Neoliberalismus spricht man seit mehr als 80 Jahren. Zunächst eine Neu- Konzeption von Liberalismus, später der ideologische Kern eines Marktfundamentalismus, der immer mehr zum politischen Kampfbegriff wurde, bis hin zum Schimpfwort. Neoliberal kennzeichnet zudem eine ganze Epoche – the ideology of neoliberalism has ruled the globe for more than forty years now ¹.
Der Blick zurück: Das Walter Lippmann Colloquium (WLP) 1938 in Paris hat in der Ideengeschichte der Ökonomie einen geradezu legendären Status – ein Zusammenkommen liberaler Denker in einer Zeit nach der Weltwirtschaftskrise und der Bedrohung durch totalitäre Regime. Gesucht wurde ein dritter Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und staatlicher Planwirtschaft. Themen, die damals behandelt wurden, prägten das wirtschaftspolitische Denken der folgenden Jahrzehnte.
Neoliberal meinte damals eine Ordnung, die Monopolisierungen und damit Machtkonzentration entgegenwirkt – Vermachtung nannte man es. Individuelle Freiheit im Kontext eines geregelten Marktes wurde betont. Sowohl Soziale Marktwirtschaft wie auch der Neoliberalismus, wie er sich seit den 80er Jahren verbreitet hat, lassen sich bis damals zurückführen.
Zum 80. Jahrestag des Colloquiums 2018 gab es eine gewisse journalistische Aufbereitung, dennoch hatte sich die Bedeutung von neoliberal längst verschoben zu einem Wirtschaftssystem in dem die Kräfte des Freien Marktes das Sagen haben und der Rest folgen muss.
Ging es beim WLP um eine ausgewogene Kombination von Marktmechanismen und staatlicher Verantwortung stand in der fortsetzenden Mont Pelerin Society (seit 1947) Marktwirtschaft als selbstregulierendes System mit besonderer Betonung der unternehmerischen Freiheit im Vordergrund. Hayek und andere Mitglieder der MPS waren davon überzeugt, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft der Wettbewerbsfähigkeit und der Effizienz des Marktes schaden. Dahinter stand die Idee eines Minimalstaates, der nicht in die wirtschaftlichen Prozesse eingreift, sondern lediglich für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und einigen Grundrechten sorgt.
Abgelehnt wurde nicht nur jegliche Form von Sozialismus, ebenso sozialdemokratische bzw. keynesianische Wirtschaftspolitik. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft würden zwangsläufig zu ineffizienten und bürokratischen Systemen führen.
Zum Zuge kam diese Form des Neoliberalismus mit dem Ende des keynesianisch‐wohlfahrtsstaatlichen Konsens, mit den Wahlsiegen von Thatcher und Reagan. Deregulierung, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, ein wirtschaftlich definierter Freiheitsbegriff standen nun im Vordergrund und wurden mit radikaler Entschlossenheit umgesetzt.
There’s no such thing as society – die kämpferische Rhetorik Margaret Thatchers kennzeichnet diese erste militante Phase des Neoliberalismus. Es war auch eine kulturpolitische Auseinandersetzung. Der Wohlfahrtsstaat, die Gewerkschaften wurden als Feinde individueller Freiheit und des wirtschaftlichen Fortschritts angegriffen.
Neben Thatcher stehen die Namen von Friedrich von Hayek, dessen Hauptwerk The Road to Serfdom die neoliberale Denkweise maßgeblich prägte, von Milton Friedman und Ronald Reagan. Galt Hayek als eine Art Doyen des Neoliberalismus, hatte sein Schüler Milton Friedman größeren Einfluss auf die praktische Wirtschaftspolitik.
Es war der Beginn von Umbrüchen auf mehreren Ebenen: einer neuen globalen Wirtschaftsordnung, die auf von staatlichen Eingriffen befreiten Märkten beruht, in der Wettbewerb die letztentscheidende Instanz für den Austausch materieller und auch immaterieller Güter wurde. Der dezentrale Preis- und Wettbewerbsmechanismus eines freien Marktes sollte als wesentliche Quelle des Informationsaustauschs dienen.
Der Neoliberalismus dieses Verständnisses beanspruchte universelle Geltung. Seine Prinzipien sollten auch in bisher vom Wettbewerb ausgenommenen Bereichen wie Kultur, Wissenschaft oder in Systemen der Daseinsvorsorge wie Gesundheit, Infrastruktur bis hin zur Wasserversorgung gelten. Alle Bereiche des öffentlichen und persönlichen Lebens sollten durch Marktmechanismen organisiert sein und so der Logik des freien Marktkapitalismus entsprechen. Der Neoliberalismus der 80er Jahre wirkte polarisierend, die Rhetorik seiner Botschaft war triumphal: A Legacy of Efficiency, Freedom, and Prosperity.
Gesellschaftspolitisch waren Protagonisten wie Thatcher und Reagan selber reaktionär. Es war die Marktlogik an sich, die zu einem Vehikel kultureller Transformation wurde. Der Markt lockerte traditionelle Bindungen mit kollektiven Identitäten, manche Milieus wurden regelrecht zerschlagen, wie etwa traditionelle Arbeitermilieus.
Weitere gesellschaftliche Veränderungen wurden in einer zweiten Phase erkennbar. Als solche lässt sich die Ära Blair (New Labour)/ Clinton/ Schröder (Neue Mitte) bezeichnen. Wirtschaftlicher Neoliberalismus verband sich mit kulturellem Liberalismus, Leitgedanke war die Verbindung von Marktlogik und sozialer Modernisierung. Übernommen wurde die neoliberale Grundstruktur, aber mit neuem Anstrich: Aktivierender Staat, Workfare statt Welfare, Flexibilisierung mit sozialer Abfederung. Der Neoliberalismus wurde entschärft, indem er seine harten Kanten verlor – zumindest oberflächlich.
Der gesellschaftspolitische Liberalismus liess u.a. neue Formen einer Kreativwirtschaft entstehen. Kreative Leistungen, auch solche, die bis dahin als eher subkulturell galten, waren nun kommerzielle Ressourcen. In Grossbritannien war Cool Britannia das Schlagwort. Zeittypisch sind etwa die Arbeiten von Richard Florida zum Aufstieg der kreativen Klasse.
In diese Zeit fällt mit der Verbreitung des Internet eine wesentliche Phase der digitalen Revolution. Das Internet war gleichzeitig ein von Zwängen befreiter Raum wie eine neue Strukturierung von Märkten. Auch der digitale Kapitalismus ist aus den Bedingungen des neoliberalen Zeitalters hervorgegangen. Die neoliberale Politik seit den 1980er Jahren – Deregulierung, Privatisierung, Marktöffnung – schuf die Voraussetzungen für den späteren Aufstieg der digitalen Plattformunternehmen wie Google, Amazon oder Facebook.
Es war diese Epoche, in der sich Neoliberalismus und postmoderne Kulturformen trafen. Zwei Begriffe mit erstaunlich parallelen Bedeutungs– und Wirksamkeitsverläufen. Die Bezeichnung der Postmoderne als das Kulturprogramm oder die kulturelle Logik des Neoliberalismus tauchte schon damals, früh in den 90er Jahren, auf. Auch die Bezeichnung einer progressiven Neoliberalisierung knüpft daran an.
Was beide Begriffe miteinander verbindet, ist ihre Verbreitung zu einem Zeitpunkt der Auflösung gewachsener Gewissheiten. Zugehörigkeiten lösen sich auf, an die Stelle sozialer Klassen treten individuelle Marktpositionen. Beide Begriffe verbreiten sich als Deutungsangebote für neue, individualisierte Gesellschaften, in denen sich feste, konkret verankerte Strukturen wie soziale Klassen, Milieus und ästhetische Traditionen auflösen. Neoliberalismus und Postmoderne sind nicht nur zeitgleich, sondern reagieren auf dieselbe gesellschaftliche Transformation – Individualisierung und Auflösung kollektiver Strukturen.
An die Stelle treten fluide, flexibilisierte, marktförmige oder diskursive Verhältnisse. Das kann gleichermassen als befreiend wie als Verlusterfahrung erlebt werden.
Consumer-Culture bedeutete eine neue Form gesellschaftlicher Teilhabe durch Marktteilnahme – Konsumstile als Ausdruck gesellschaftlicher Diversität. Consumer Tribes sind eine dementsprechende Form von Vergemeinschaftung durch Konsum.
Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheiten, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten, während der Neoliberalismus das Individuum der Marktfähigkeit unterwarf. Einfaches Beispiel: Der Arbeiter wurde vom Arbeitnehmer zum Humankapital und zum Unternehmer seiner selbst.
Mit der Finanzkrise 2008 lässt sich ein Zeitpunkt benennen, an dem diese Phase in eine dritte, direkt in den Digitalen Kapitalismus übergeht. Die neoliberalen Paradigmen sind allgegenwärtig und hegemonial, gleichzeitig ist aber auch die Kritik daran omnipräsent.
Die Regelsysteme des Neoliberalismus durchdringen zahlreiche Lebensbereiche, von der Selbstoptimierung über Dating-Apps bis zur Quantifizierung persönlicher Daten. Gleichzeitig sind die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen Kritikpunkte – soziale Ungleichheit, Bereicherung von Reichen auf Kosten von Armen, Prekarisierung, Klimakrise – nicht mehr zu übersehen. Der früher öfters genannte Trickle-Down-Effekt, das Durchsickern des Wohlstands nach unten, gilt heute als Blendwerk.
Wie auch postmodern dient neoliberal oft als Containerbegriff für eine Vielzahl von Entwicklungen, die mit Globalisierung, Marktlogik und der Schwächung sozialstaatlicher Elemente assoziiert werden. Beide Begriffe werden heute zunehmend in der Rückschau, oft mit einer Betonung von Überdruss, verwendet. Neoliberalismus fungiert heute eher als Schimpfwort denn als Eigenbezeichnung – selbst überzeugte Marktliberale meiden den Begriff.
Im Digitalen Kapitalismus bildet sich die Plattformökonomie, die wir heute kennen, heraus. Sie radikalisiert und transformiert die Marktlogik, indem sie Märkte privatisiert, Monopole schafft und neue Formen von Macht und Kontrolle etabliert, die sich in einer allgegenwärtigen Hegemonie zeigen.
The neoliberal era is ended heisst es immer öfter. Neoliberalismus wird somit zur Vorgeschichte ´des Digitalen Kapitalismus.
Die Parallele zur Postmoderne wäre noch eine eigene Geschichte, die sich auszuarbeiten lohnt. Der gesetzte Fortsetzungsbegriff Metamoderne scheint sich noch nicht signifikant zu verbreiten.
Zurück zum Ausgangspunkt, Gunnars Kritik an dem Bezug von Slobodian und sein Verweis auf einen konstruktiven Liberalismus, der die sozialen Zumutungen der Marktwirtschaft auffängt, ohne in Etatismus zu kippen hat Berechtigung: der ursprünglich so bezeichnete Neoliberalismus, inspiriert von Lippmanns The Good Society, hatte eine ganz andere Zielsetzung. Es ging gerade auch darum, Monopolisierungen und damit Machtkonzentration entgegenzuwirken, wie wir sie heute im grossen Masstab wieder erleben. Gedanken, die sich lohnen, wieder aufzugreifen. Das damals verwendete, altmodische Wort Vermachtung passt heute wieder – mein Vorschlag zur Wiederbenutzung!
Quinn Slobodians Bezug auf die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten in Hayeks Bastards ist ebenso berechtigt, auch wenn eine direkte Verantwortlichkeit Hayeks und seiner Zeitgenossen nicht behauptet wird. Die verschiedenen Spielarten des v. a. in den USA wirksamen Libertarismus lassen sich genealogisch von seinem ökonomischen Freiheitsbegriff ableiten – auch wenn sie seine ursprünglichen Intentionen radikalisieren, oft vulgarisieren und anti-demokratische, anti-egalitäre Ordnungsvorstellungen, eine Verbindung von Libertarismus und Autoritarismus entwickeln.
Begriff und Konzeption des Neoliberalismus standen über fast 80 Jahre in oft sehr unterschiedlichen Kontexten. Begriffe sind Werkzeuge gesellschaftlicher Selbstverständigung – ihre aktuelle Bedeutung und Wirkung entsteht durch Gebrauch, Konflikt und Deutungskämpfe.
Die aktuelle Weltlage ist schwer überschaubar. Sie ist zum einen bestimmt durch die globale Zunahme populistischer und rechtsextremer Strömungen, aber auch durch die Monopolisierungen und Machtkonzentration bei BigTech. Gerade in den letzten Jahren und Monaten verbreiten sich von dort oft bizarre, schwer nachvollziehbare Denkansätze, die sich unter Cyberlibertarismus zusammenfassen lassen.
How free market ideas mutated into the far right –ist eine ernst zu nehmende Entwicklung. Ein Kapitalismus ohne Demokratie ist eine ernst zu nehmende Gefahr.
Karen Horn : Der Neoliberalismus wird 80, FAZ 24.08.2018; -*Interview mit Marcus Pindur, DLF 18.08.2018 Gunnar Sohn: Neoliberalismus 1938: Kein Erbe Rothbards, sondern Rüstows Gegenerzählung. Ichsagmal.com 27.05.2025. Jurgen Reinhoudt & Serge Audier: The Walter Lippmann Colloquium: The Birth of Neo-Liberalism. Stanford & Paris 2018. 209 S. Quinn Slobodian: Hayek’s Bastards – Die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten 4/25 (Rezension) Jurgen Masure: The Anatomy of Neoliberalism..- Medium 6/2022 ¹: Ronald Labonté: Neoliberalism 4.0: The Rise of Illiberal Capitalism. 11/2019 Peter Geoghegan: How free market ideas mutated into the far right. democracyforsale.substack.com/. 16.04.2025 Meneleo Litonjua: Commodification and Consumerism under Neoliberalism:From Citizen to Consumer 5/24. Researchgate.com: