Neoliberal – ein Epochenbegriff im Vergehen

Selbstwahrnehmung: A Legacy of Efficiency, Freedom, and Prosperity

Die Diskussion zum Begriff neoliberal im Anschluss an Hayek’s Bastards von Quinn Slobodian hat sich ausgeweitet – deutlich wird eine lange Bedeutungsgeschichte, tief verbunden mit zeitgeschichtlichen Strömungen.

Von Neoliberalismus spricht man seit mehr als 80 Jahren. Zunächst  eine Neu- Konzeption von Liberalismus, später der ideologische Kern eines Marktfundamentalismus, der immer mehr zum politischen Kampfbegriff wurde, bis hin zum Schimpfwort. Neoliberal kennzeichnet zudem eine ganze Epoche – the ideology of neoliberalism has ruled the globe for more than forty years now ¹.

Der Blick zurück: Das Walter Lippmann Colloquium (WLP) 1938 in Paris hat in der Ideengeschichte der Ökonomie einen geradezu legendären Status – ein Zusammenkommen liberaler Denker in einer Zeit nach der Weltwirtschaftskrise und der Bedrohung durch totalitäre Regime. Gesucht wurde ein dritter Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und staatlicher Planwirtschaft. Themen, die damals behandelt wurden, prägten das wirtschaftspolitische Denken der folgenden Jahrzehnte.
Neoliberal  meinte damals eine Ordnung, die Monopolisierungen und damit Machtkonzentration entgegenwirkt – Vermachtung nannte man es.  Individuelle Freiheit im Kontext eines geregelten Marktes wurde betont. Sowohl Soziale Marktwirtschaft wie auch der  Neoliberalismus, wie er sich seit den 80er Jahren verbreitet  hat, lassen sich bis damals zurückführen.

Zum 80. Jahrestag des Colloquiums 2018 gab es eine gewisse journalistische Aufbereitung, dennoch hatte sich die Bedeutung von neoliberal längst verschoben zu einem Wirtschaftssystem in dem die Kräfte des Freien Marktes das Sagen haben und der Rest folgen muss.

Ging es beim WLP um eine ausgewogene Kombination von Marktmechanismen und staatlicher Verantwortung stand in der fortsetzenden Mont Pelerin Society (seit 1947) Marktwirtschaft als selbstregulierendes System mit besonderer Betonung der unternehmerischen Freiheit im Vordergrund. Hayek und andere Mitglieder der MPS waren davon überzeugt, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft der Wettbewerbsfähigkeit und der Effizienz des Marktes schaden. Dahinter stand die Idee eines Minimalstaates, der nicht in die wirtschaftlichen Prozesse eingreift, sondern lediglich für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und einigen Grundrechten sorgt.
Abgelehnt wurde nicht nur jegliche Form von Sozialismus, ebenso sozialdemokratische bzw.  keynesianische Wirtschaftspolitik. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft würden zwangsläufig zu ineffizienten und bürokratischen Systemen führen. 

Zum Zuge kam diese Form des Neoliberalismus mit dem Ende des keynesianisch‐wohlfahrtsstaatlichen Konsens, mit den Wahlsiegen  von Thatcher und Reagan. Deregulierung, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, ein wirtschaftlich definierter Freiheitsbegriff standen  nun im Vordergrund  und wurden mit radikaler Entschlossenheit umgesetzt.

There’s no such thing as society – die kämpferische Rhetorik Margaret Thatchers kennzeichnet diese erste militante Phase des Neoliberalismus.  Es war auch eine kulturpolitische Auseinandersetzung. Der Wohlfahrtsstaat, die Gewerkschaften wurden als Feinde individueller Freiheit und des wirtschaftlichen Fortschritts angegriffen.
Neben Thatcher stehen die Namen von Friedrich von Hayek, dessen Hauptwerk The Road to Serfdom die neoliberale Denkweise maßgeblich prägte, von Milton Friedman und Ronald Reagan. Galt Hayek als eine  Art Doyen des Neoliberalismus, hatte sein Schüler Milton Friedman größeren Einfluss auf die praktische Wirtschaftspolitik.
Es war der Beginn von Umbrüchen auf mehreren Ebenen: einer neuen globalen Wirtschaftsordnung, die auf von staatlichen Eingriffen befreiten Märkten beruht, in der Wettbewerb die letztentscheidende Instanz für den Austausch materieller und auch immaterieller Güter wurde. Der dezentrale Preis- und Wettbewerbsmechanismus eines freien Marktes sollte als wesentliche  Quelle des Informationsaustauschs dienen.

Der Neoliberalismus dieses Verständnisses beanspruchte universelle Geltung. Seine Prinzipien sollten auch in bisher vom Wettbewerb ausgenommenen Bereichen wie Kultur, Wissenschaft oder in Systemen der Daseinsvorsorge wie Gesundheit, Infrastruktur bis hin zur Wasserversorgung gelten. Alle Bereiche des öffentlichen und persönlichen Lebens sollten durch  Marktmechanismen organisiert sein und so der Logik des freien Marktkapitalismus entsprechen. Der Neoliberalismus der 80er Jahre wirkte polarisierend, die Rhetorik seiner Botschaft war triumphal: A Legacy of Efficiency, Freedom, and Prosperity.

Gesellschaftspolitisch waren Protagonisten wie Thatcher und Reagan selber  reaktionär. Es war die Marktlogik an sich, die zu einem Vehikel kultureller Transformation wurde. Der Markt lockerte traditionelle Bindungen mit kollektiven Identitäten, manche Milieus wurden regelrecht zerschlagen, wie etwa traditionelle Arbeitermilieus.

Weitere gesellschaftliche Veränderungen wurden in einer zweiten Phase erkennbar. Als solche lässt sich die Ära  Blair (New Labour)/ Clinton/ Schröder (Neue Mitte) bezeichnen. Wirtschaftlicher Neoliberalismus verband sich mit kulturellem Liberalismus, Leitgedanke war die Verbindung von Marktlogik und sozialer Modernisierung. Übernommen wurde die neoliberale Grundstruktur, aber mit neuem Anstrich: Aktivierender Staat, Workfare statt Welfare, Flexibilisierung mit sozialer Abfederung. Der Neoliberalismus wurde entschärft, indem er seine harten Kanten verlor – zumindest oberflächlich.

Der gesellschaftspolitische Liberalismus liess u.a. neue Formen einer Kreativwirtschaft entstehen. Kreative Leistungen, auch solche, die bis dahin als eher subkulturell galten, waren nun kommerzielle Ressourcen.  In Grossbritannien war Cool Britannia das Schlagwort. Zeittypisch sind etwa die Arbeiten von Richard Florida zum Aufstieg der kreativen Klasse.
In diese Zeit fällt mit der Verbreitung des Internet eine wesentliche Phase der digitalen Revolution.  Das Internet war gleichzeitig ein von Zwängen befreiter Raum wie eine neue Strukturierung von Märkten. Auch der digitale Kapitalismus ist aus den Bedingungen des neoliberalen Zeitalters hervorgegangen. Die neoliberale Politik seit den 1980er Jahren – Deregulierung, Privatisierung, Marktöffnung – schuf die Voraussetzungen für den späteren Aufstieg der digitalen Plattformunternehmen wie Google, Amazon oder Facebook. 

Es war diese Epoche, in der sich Neoliberalismus und postmoderne Kulturformen trafen. Zwei Begriffe mit erstaunlich parallelen Bedeutungs– und Wirksamkeitsverläufen. Die Bezeichnung der Postmoderne als das Kulturprogramm oder die kulturelle Logik des Neoliberalismus tauchte schon damals, früh in den 90er Jahren, auf. Auch die Bezeichnung einer progressiven Neoliberalisierung knüpft daran an.
Was beide Begriffe miteinander verbindet, ist ihre Verbreitung zu einem Zeitpunkt der Auflösung gewachsener Gewissheiten. Zugehörigkeiten lösen sich auf, an die Stelle sozialer Klassen treten individuelle Marktpositionen. Beide Begriffe verbreiten sich als Deutungsangebote für neue, individualisierte Gesellschaften, in denen sich feste, konkret verankerte Strukturen wie soziale Klassen, Milieus und ästhetische Traditionen auflösen. Neoliberalismus und Postmoderne sind nicht nur zeitgleich, sondern reagieren auf dieselbe gesellschaftliche Transformation – Individualisierung und Auflösung kollektiver Strukturen.

An die Stelle treten fluide, flexibilisierte, marktförmige oder diskursive Verhältnisse. Das kann gleichermassen als befreiend wie als Verlusterfahrung erlebt werden.
Consumer-Culture bedeutete eine neue Form gesellschaftlicher Teilhabe durch   Marktteilnahme – Konsumstile als Ausdruck gesellschaftlicher Diversität. Consumer Tribes sind eine dementsprechende Form von Vergemeinschaftung durch Konsum.
Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheiten, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten, während der Neoliberalismus das Individuum der Marktfähigkeit unterwarf. Einfaches Beispiel: Der Arbeiter wurde vom  Arbeitnehmer zum Humankapital und zum Unternehmer seiner selbst.

Mit der Finanzkrise 2008 lässt sich ein Zeitpunkt benennen, an dem diese Phase in eine dritte, direkt in den Digitalen Kapitalismus übergeht.  Die neoliberalen Paradigmen sind allgegenwärtig und hegemonial, gleichzeitig  ist aber auch die Kritik daran omnipräsent.
Die Regelsysteme des Neoliberalismus durchdringen zahlreiche Lebensbereiche, von der Selbstoptimierung über Dating-Apps bis zur Quantifizierung persönlicher Daten. Gleichzeitig sind die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen Kritikpunkte – soziale Ungleichheit, Bereicherung von Reichen auf Kosten von Armen, Prekarisierung, Klimakrise – nicht mehr zu übersehen. Der früher öfters genannte Trickle-Down-Effekt, das Durchsickern des Wohlstands nach unten, gilt heute als Blendwerk. 

Wie auch postmodern dient neoliberal oft als Containerbegriff für eine Vielzahl von Entwicklungen, die mit Globalisierung, Marktlogik und der Schwächung sozialstaatlicher Elemente assoziiert werden. Beide Begriffe werden heute zunehmend in der Rückschau, oft mit einer Betonung von Überdruss, verwendet. Neoliberalismus fungiert heute eher als Schimpfwort denn als Eigenbezeichnung – selbst überzeugte Marktliberale meiden den Begriff.  

Im Digitalen Kapitalismus bildet sich die Plattformökonomie, die wir heute kennen, heraus. Sie radikalisiert und transformiert die Marktlogik, indem sie Märkte privatisiert, Monopole schafft und neue Formen von Macht und Kontrolle etabliert, die sich in einer allgegenwärtigen Hegemonie zeigen.
The neoliberal era is ended heisst es immer öfter. Neoliberalismus wird somit zur Vorgeschichte ´des Digitalen Kapitalismus.
Die Parallele zur Postmoderne wäre noch eine eigene Geschichte, die sich auszuarbeiten lohnt. Der gesetzte Fortsetzungsbegriff Metamoderne scheint sich noch nicht signifikant zu verbreiten. 

Zurück zum Ausgangspunkt, Gunnars Kritik an dem Bezug von Slobodian und sein Verweis auf einen konstruktiven Liberalismus, der die sozialen Zumutungen der Marktwirtschaft auffängt, ohne in Etatismus zu kippen  hat Berechtigung: der ursprünglich so bezeichnete Neoliberalismus,  inspiriert von Lippmanns The Good Society, hatte eine ganz andere Zielsetzung. Es ging gerade auch darum, Monopolisierungen und damit Machtkonzentration entgegenzuwirken, wie wir sie heute im grossen Masstab wieder erleben. Gedanken, die sich lohnen, wieder aufzugreifen. Das damals verwendete, altmodische Wort Vermachtung passt heute wieder – mein Vorschlag zur Wiederbenutzung!

Quinn Slobodians Bezug auf die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten in Hayeks Bastards ist ebenso berechtigt, auch wenn eine direkte Verantwortlichkeit Hayeks und seiner Zeitgenossen nicht behauptet wird. Die verschiedenen Spielarten des v. a. in den USA wirksamen Libertarismus lassen sich genealogisch von seinem ökonomischen Freiheitsbegriff ableiten – auch wenn sie seine ursprünglichen Intentionen radikalisieren, oft vulgarisieren und anti-demokratische, anti-egalitäre Ordnungsvorstellungen, eine  Verbindung von Libertarismus und Autoritarismus entwickeln.

Begriff und Konzeption des Neoliberalismus standen über fast 80 Jahre in oft sehr unterschiedlichen Kontexten. Begriffe sind Werkzeuge gesellschaftlicher Selbstverständigung – ihre aktuelle Bedeutung und Wirkung entsteht durch Gebrauch, Konflikt und Deutungskämpfe.

Die aktuelle Weltlage ist schwer überschaubar. Sie ist zum einen bestimmt durch die globale Zunahme populistischer und rechtsextremer Strömungen, aber auch durch die Monopolisierungen und Machtkonzentration bei BigTech. Gerade in den letzten Jahren und Monaten verbreiten sich von dort oft bizarre, schwer nachvollziehbare Denkansätze, die sich unter Cyberlibertarismus zusammenfassen lassen.

How free market ideas mutated into the far right –ist eine ernst zu nehmende Entwicklung. Ein Kapitalismus ohne Demokratie ist eine ernst zu nehmende Gefahr.

Karen Horn  : Der Neoliberalismus  wird 80, FAZ 24.08.2018; -*Interview mit Marcus Pindur, DLF 18.08.2018  Gunnar Sohn: Neoliberalismus 1938: Kein Erbe Rothbards, sondern Rüstows Gegenerzählung. Ichsagmal.com 27.05.2025. Jurgen Reinhoudt & Serge Audier: The Walter Lippmann Colloquium: The Birth of Neo-Liberalism. Stanford & Paris 2018. 209 S.  Quinn Slobodian: Hayek’s Bastards – Die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten 4/25 (Rezension) Jurgen Masure: The Anatomy of Neoliberalism..- Medium 6/2022 ¹: Ronald Labonté: Neoliberalism 4.0: The Rise of Illiberal Capitalism. 11/2019 Peter Geoghegan: How free market ideas mutated into the far right. democracyforsale.substack.com/. 16.04.2025 Meneleo Litonjua:  Commodification and Consumerism under Neoliberalism:From Citizen to Consumer 5/24.  Researchgate.com: 



Zur Diskussion: Neoliberalismus, New Fusionism und Rechtspopulismus

Der letzte Beitrag mit dem Titel Der Leninismus der Populisten hatte einige kritische Reaktionen zur Folge. Zunächst hatte ich erwartet, es ginge um die Herausstellung der leninistischen Anleihen, die als zu spekulativ wahrgenommen wären.
Darum ging es aber nicht, sondern um bzw. gegen den Eindruck einer Genealogie, in der der Begriff Neoliberalismus von Anfang an eine antidemokratische, antisoziale Strategie gewesen sei, deren logische Konsequenz Trump und Milei heiße – so formulierte es  Wirtschaftsblogger Gunnar Sohn.  Frank Witt, Wirtschaftsprofessor (und Autor) kommentierte auf LinkedIn dazu, dass Hayek bei Slobodian wie ein Fürst der Finsternis erscheine. 

Friedrich von Hayek (1899-1992) war eine Leitfigur in dem Netzwerk, das den neoliberalen Denkstil prägte. Neben Keynes und Schumpeter, wohl einer der wirkungsmächtigsten Ökonomen des 20.Jh. Freiheit war für ihn durch Rechtssicherheit, Eigentum, Vertragsfreiheit bestimmt – nicht durch politische Teilhabe. Weltbekannt wurde er mit dem Nobelpreis 1974 – und als entscheidender Vordenker der marktradikalen Wende in den 1980er Jahren. So ist Hayek eine anerkannte Figur der Zeitgeschichte –  das macht es für unterschiedlichste Akteure attraktiv, an ihn anzuknüpfen.

Kann so einer als Ahnherr so umstrittener Gestalten wie Trump und Milei gelten? Eine direkte Linie sicher nicht – Wirkungsmacht heisst aber auch Wirkung in nicht beabsichtigte Richtungen.
Auch der Begriff neoliberal selber ist eng mit ihm verbunden. Er tauchte vor bald einem Jahrhundert  – 13 Jahre fehlen noch – beim Walter Lippmann Kolloquium 1938 in Paris auf (neolibéralisme). Damals ging es darum, eine liberale Perspektive gegenüber Totalitarismus, Wirtschaftskrise und sozialer Unsicherheit zu verteidigen und zu erneuern. In einem Staat, der aktiv die Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Markt setzen sollte – nicht als Gegner des Marktes, sondern als Garant seiner Funktionen.

Neoliberal wurde im Laufe der Jahrzehnte zu einem der meist verwendeten Begriffe und Konzepte der politischen Diskussion – mit oft weit auseinander reichenden Konnotationen.
Von Ökonomen – zumindest solchen, die mit der Ideengeschichte ihres Faches vertraut sind, ist neoliberal zeitgeschichtlich verortet: als eine Denkschule, die 1938 ihren Ursprung nahm und mit der Mont Pèlerin Société unter Hayek institutionalisiert wurde. Es ging um einen Dritten Weg zwischen Laissez-faire-Liberalismus und Planwirtschaft: mit starken, aber begrenzten staatlichen Institutionen, die die Märkte schützen und rahmen sollten. Diese Richtung hatte maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftspolitische Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg.
In der Soziologie bezieht sich neoliberal meist auf die breite politökonomische Transformation seit den 1970er, v.a. 80er Jahren: Deregulierung, Privatisierung, Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaats und Globalisierung der Märkte. Neoliberalismus wird oft als hegemoniales Paradigma verstanden, dass die Gesellschaft bis in Details sozialer Beziehungen nach Marktprinzipien umgestaltet.
In öffentlichen Diskursen und auch im  Journalismus wird neoliberal häufig als politisches Schlagwort verwendet. Meist mit einer negativer Konnotation.  Begriffliche Präzision geht dabei meist verloren, neoliberal wird oft pauschal für alle Ereignisse verwendet, die von der Logik von Marktliberalisierung bis Marktradikalität bestimmt sind. Umgangssprachlich ist neoliberal zu einem Etikett geworden – ein Preisschild, das auf allem klebt, was der Marktlogik folgt.

Der kanadische Zeithistoriker Quinn Slobodian ist einer der einflussreichsten Deuter und Erklärer der Verflechtungen von neoliberaler Globalisierung und autoritär-populistischen Bewegungen. Eine seiner Kernthesen ist, dass die  gegenwärtige extreme Rechte besser als ein Ableger des neoliberalen Projekts zu verstehen sei als eine Gegenbewegung dazu*.
Hayek’s Bastards – das sind bei Slobodian Nachfolger, die sich rhetorisch auf Hayek berufen, seine Ideen radikalisieren und anti-demokratische, anti-egalitäre Ordnungsvorstellungen entwickeln.  Neoliberale Ökonomie wird mit  biologistischen, autoritären und technokratischen Ideologien zusammengeführt und weiterentwickelt. Demokratie wird von ihnen eher als  Bedrohung für den Kapitalismus und eine (in ihrem Sinne) geordnete Gesellschaft gesehen.  

New Fusionism meint die ideologische Vermengung libertärer Marktideologie mit Narrativen biologischer Überlegenheit, die auf Rasse, manchmal auch Geschlecht basieren.  Seine Befürworter zeigen oft eine Obsession für den IQ.  Es wird argumentiert, dass Personen mit höheren IQ-Werten mehr oder weniger alleinige politische Macht haben sollten, manchmal wird auch die Sterilisation von Personen mit niedrigeren IQ-Werten befürwortet.
Drei Hards kennzeichnen die Ausrichtung:  Hardwired Human Nature: Biologistische und genetische Argumente (z.B. IQ-Debatten, Rassentheorien) zur Legitimierung sozialer Hierarchien. Hard Money: Forderung nach Goldstandard oder Kryptowährungen als natürlicher Währungsform. Hard Borders: Ablehnung von Migration und Multikulturalismus zugunsten kultureller Homogenität.

Der von David Golumbia  beschriebene Cyberlibertarismus (vgl. die Rezension) hat eine eigenständige Entstehungsgeschichte, die eng mit der Entwicklung des Internets und der Digitalen Revolution verbunden ist.  Cyberlibertarismus überschneidet sich aber mit dem New Fusionism in technokratischen Ideologien und der Ablehnung egalitärer politischer Strukturen. Eine machtbewusste kleine Elite, die sich zunehmend als ein globales Machtzentrum sieht, wuchs heran – das, was wir heute oft BigTech Oligarchie nennen. 

Eine demokratiefeindliche  Allianz, hat sich aus allen diesen Strömungen gebildet. Eine strategische Allianz, die kaum zu überblicken ist, aber  weiter greift als die bisher bekannten.  Zu den marktradikalen, identitären, religiösen rassistischen und autoritär-konservativen Strömungen, treten Gruppen aus dem technolibertären Umfeld von Silicon Valley, der Krypto-Szene oder einfach auch Opportunisten.  Sie bilden eine neue, transnationale Allianz. Libertäres Gedankengut ist zu einem ideologischen Rückgrat von Nationalisten und Autoritären auf der ganzen Welt geworden.
Der gemeinsame  Nenner dieser vielschichtigen Koalition richtet sich gegen Gleichheit und liberale, humanistische Universalismen, gegen die Erfolge der Bürgerrechtsbewegungen. Auf einen Kapitalismus ohne Demokratie. Nennt man Namen so fallen die der “Bastards” Murray Rothbard, Hans-Hermann Hoppe,  Charles Murray, Curtis Yarvin – aus Big Tech ganz sicher Elon Musk und Peter Thiel – im weiteren natürlich Trump und Vance.
Der deutsche Rechtspopulismus weist einige Parallelen auf – ist aber viel stärker völkisch grundiert und kaum mit techno- libertären Strömungen verbunden. 

Murray Rothbards (✝1995) Gesellschaftsentwürfe wurden seinerzeit kaum ernst genommen. Sein radikal antietatistischer Anarchokapitalismus ist in der Realität schwer vorstellbar.
Was Rothbard Bedeutung verschafft, sind seine Strategiepapiere zu einer Allianz  mit leninistischen Anleihen incl. der Bereitschaft zur Demagogie. So liest sich Right-Wing Populism (1992) heute als eine Blaupause, als Anleitung des  Rechtspopulismus, incl. der Zerschlagung staatlicher Strukturen.
In den angesprochenen  Kreisen fanden sie Verbreitung und Wirkung -so bezieht sich z.B. Javier Milei ausdrücklich auf ihn. Außerhalb dieser Bewegung wurden sie erst durch Slobodian bekannter, der sie als einflussreiches strategisches Dokument und ideologische Brücke zum heutigen Trumpismus und zu autoritär-populistischen Bewegungen beschrieb.”

Die letzten drei Beiträge überschneiden sich zum Teil.  Bei der Lektüre von Hayek’s Bastards  fielen mir Rothbards strategische Entwürfe zu einem Right-Wing Populism auf, die  geradezu ein Déjà-vu  zu den aktuellen Ereignissen vermittelten.

How free market ideas mutated into the far rightso liesse sich dieser letzte Beitrag dazu auch übertiteln – genauso wie ein aktuelles Interview (4/25) mit  Slobodian – wo er darauf verweist, dass der Rahmen den er in einem Buch darlegt, eher eine Vorgeschichte, als eine finale Diagnose der – aktuellen – Gegenwart ist, die immer wieder mit ihrem Ausmaß an  Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit überrascht.

*In: Nick Serpe: Blood-and-Soil Neoliberalism. An interview with Quinn Slobodian, the author of Hayek’s Bastards: Race, Gold, IQ, and the Capitalism of the Far Right. 29.04.25. Peter Geoghegan How free market ideas mutated into the far right. democracyforsale.substack.com/. 16.04.2025 Gunnar Sohn: Neoliberalismus ist keine Blaupause für Rednecks – Eine Replik zum Beitrag von Klaus M. Janowitz 16.05.25



Der Leninismus der Populisten

Strategie
Strategisches Modell nach Murray Rothbard – 1992 – nach Klick in voller Auflösung

Beim Lesen von Hayek’s Bastards: The Neoliberal Roots of the Populist Right von Quinn Slobodian stösst man auf einige bemerkenswerte Parallelen und Wirkungszusammenhänge. Strategische Modelle mit einem enormen Einfluss auf den aktuellen Rechtspopulismus werden deutlich.

Murray Rothbard  (1926- 1995) war Vordenker einer Allianz, die bis heute etwa  im Handeln von Donald Trump und Javier Milei weiterwirkt. In dem 1992 erschienenen Strategiepapier Right-Wing Populism: A Strategy for the Paleo Movement – formulierte  er die sog. Paleo-Koalition. Rothbard war ihr Ideologe und ihr Stratege. Absicht war, den bis dahin akademisch/elitär als Idee verbreiteten Libertarismus  in  einer Koalition mit real people den Weg zur Macht aufzuzeigen. Als real people identifiziert wurden v.a. die Rednecks des middle America – die möglichst direkt angesprochen werden sollten:  Outreach to the Rednecks. 
Rothbard verband ideologisch und strategisch Einflüsse, die weit auseinander liegen. Im Nachhinein betrachtet liest sich sein Strategiepapier wie eine Blaupause für den rechtspopulistischen Aufschwung des letzten Jahrzehnts – und beleuchtet dabei einige oft schwer verständliche Zusammenhänge. Outreach to the Rednecks fand so eine Fortsetzung in Trumps Appell an die Arbeiterklasse und der Befürwortung traditioneller Werte. 

Paleo meinte eine Referenz an ein Ideal des ursprünglichen – alten/paleoAmerika der individuellen Freiheit, des Privateigentums und minimaler Staatsstruktur. Ein Amerika, das mit staatlicher Zentralisierung und dem Wohlfahrtsstaat verdrängt worden war. Einschneidende Ereignisse dazu waren Roosevelts New Deal und der Civil Rights Act von 1964.
Der Begriff Right Wing Populism – dt. Rechtspopulismus – war zwar nicht neu, wurde aber von Rothbard erstmals als Selbstbezeichnung verwendet – und aktiv von ihm geprägt. Vieles von dem, was wir heute beobachten, nahm er  vorweg.  Der Slogan America First kommt bereits vor, im Sinne eines Rückzugs aus internationalen Verpflichtungen.

Murray Rothbard – Stratege der Paleo- Koalition

Rothbard propagierte eine bewusste Abkehr vom etablierten Konservatismus zugunsten einer populistischen Mobilisierung, die gezielt anti-elitäre Ressentiments nutzen sollte. Libertäre, marktradikale Ideen wurden mit nationalistischen und traditionell- konservativen Strömungen und autoritären Strategien verbunden, mit dem Ziel mehrheitsfähige politische Kräfte zu bilden. Als Klammer dienten kulturelle Identitätsfragen, die sich leicht emotionalisieren lassen – ein Brückenschlag, der den Weg für die spätere Tea Party und den Trumpismus ebnete.

Rothbards Einflussgeber scheinen zunächst extrem divergent: Neben die akademischen Marktfundamentalisten Mises und Hayek tritt Joseph McCarthy, der seinerzeit  berüchtigte Kommunistenjäger.
Rothbard schätzte McCarthy nicht nur wegen seiner antikommunistischen Haltung, sondern vor allem wegen seiner Fähigkeit Massen direkt zu erreichen und emotional aufzuwühlen.
Lenin
überrascht  zunächst in der Reihe der Einflussgeber. Als Machtstratege weist er aber in seiner Bedeutung über den direkten historischen Kontext hinaus. So sind Rothbards Strategien in vielen Punkten erstaunlich leninistisch. Gemeinsam ist beiden die Vorstellung der radikalen Umgestaltung der Gesellschaft durch den Sturz bestehender Machtstrukturen. Besonders in Bezug auf Kaderbildung, Polarisierung und Massenmobilisierung, in der Bereitschaft, radikale Mittel einzusetzen.
Rechtspopulismus sollte mitreißend und spannend sein, Politik und Entertainment miteinander verbinden. Die von den Eliten betriebenen Medien sollten umgangen, die Massen direkt angesprochen werden – Möglichkeiten die sich später mit den Social Media verwirklichten.

Seit den 70er Jahren setzte Rothbard direkte Bezüge zu Lenin: Leninist goals are the opposite of ours. But from Leninist strategy and tactics, we have much to learn.
In dem Strategiepapier Toward a Strategy for Libertarian Social Change (1977) werden verblüffend offen Übernahmen leninistischer Taktiken für einen libertären Umsturz genannt. Lenin arbeitete stets mit den realen Bedingungen der Massenbewegungen. Seine Fähigkeit, in einer revolutionären Phase gleichzeitig die Massen zu mobilisieren und in Phasen der Reaktion die Taktiken anzupassen, wird als entscheidend angesehen.
Rothbard übertrug leninistische Grundsätze auf eine rechtspopulistische Agenda. Er setzte auf Elitenkritik, Massenmobilisierung, negative Kampagnen, eine geschulte Kaderelite und charismatische Führungsfiguren.

Ideologisch entfernt – taktisch verbunden.

Nicht nur Rothbard, auch Trumps vormaliger Chefberater Steve Bannon nahm Bezug auf Lenin: I’m a Leninist. Lenin wanted to destroy the state, and that’s my goal too. I want to bring everything crashing down, and destroy all of today’s establishment (Bannon, 2016). Solche Aussagen waren wohl eher eine Provokation, um seine radikale Haltung und seine Ablehnung des politischen Mainstreams zu unterstreichen.

Erst Krisensituationen die aus der Schwäche des bestehenden Systems resultieren und denen dieses nicht gewachsen ist, ermöglicht es der radikalen Bewegung, ihre Stärke zu steigern und möglicherweise den Sieg zu erringen. Bewegungen brauchen einen harten Kern aus Aktivisten, die nicht nur die Ideen verstehen, sondern fähig sind, diese in die Praxis umzusetzen. Ohne eine solche Avantgarde bleibt der Massenprotest ziellos.
Lenin sah den Staat als Werkzeug der herrschenden Klassen – in diesem Sinne galt ihm seine Gegnerschaft. Rothbards finales Ziel war die  Zerschlagung staatlicher Strukturen und des diese stützenden Establishments,  hin zu einer ausschliesslich durch Märkte regulierten Gesellschaft.
Als Establishment bzw. Eliten standen zunächst die staatliche Bürokratie, ganz bes. die Zentralbanken, Medien, internationale Institutionen, darunter die europäische Integration (auch aus US- Perspektive),  ein sog. globalistisches Netzwerk im Vordergrund. Aber auch die Abgrenzung gegenüber moderaten Republikanern bzw. Konservativen zählte dazu.

Die Begriffe, und damit das Feindbild, wurden in den letzten Jahren ausgedehnt auf eine woke Kulturelite. Woke – ursprünglich ein Begriff, der Wachsamkeit gegenüber  Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen bedeutet- wurde zum übergreifenden Feindbild ausgebaut.  Damit auch Identitätspolitik, politische Korrektheit, Diversität, selbst  Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und die Thematisierung des Klimawandels.

Rechtspopulisten gehen davon aus, dass die Linke nach einer kulturellen und ideologischen Hegemonie strebt, um die Grundpfeiler der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft zum Einsturz zu bringen.  Kulturmarxisten haben sich zu diesem Zweck in den Institutionen eingenistet. Selbst der Klimawandel ist demnach ein kulturmarxistisches Kontrollins­trument.

Rothbards Strategiepapiere zählen zu einer Art Grundausstattung für Rechtspopulisten. Seine Ideen und Strategien werden als wegweisend und vorausschauend für den globalen Rechtspopulismus eingeordnet und explizit als intellektuelle Grundlage. der neuen Rechten genannt.
Bei  dem argentinischen Präsidenten Javier Milei finden sie sich ausdrücklich wieder, bei Donald Trump schlagen sie sich nieder. Wirkungen auf die deutsche Neue Rechte incl. der AfD sind eher indirekt. Während Rothbards Libertarismus einen minimal state forderte, strebt die AfD eher einen starken, aber ethnisch- definierten Nationalstaat an. Die ideologische Basis liegt in nationalkonservativen bis ethnisch- völkischen Vorstellungen. Ein genuin libertäres Fundament gibt es kaum.
Eine gewisse Rolle spielen der dezidiert anti- demokratische Ökonom Hans- Hermann Hoppe und der in Madrid lehrende Volkswirt Philipp Bagus. Letzterer hebt z.B. in einem Buch zu Milei hervor, dass sich dieser furchtlos gegen Egalitarismus, die Idee des struk­turellen Opfertums, Antidiskriminierung, soziale Gerechtigkeit, Relativismus, Nihilismus, Atheismus, Klimahysterie, Ultrafeminismus, Identitäts­po­li­­tik, Transgenderismus, Agenda 2030 und politische Korrektheit entgegen stellt. 

Rhetorische und strategische Anleihen (der AfD bei Rothbard) sind allerdings deutlich erkennbar. Die Taktik der bewussten Tabubrüche, der kalkulierten Provokation und der Instrumentalisierung von Empörung. Die Anti-Woke-Rhetorik wurde massiv aufgegriffen und dient als Weiterentwicklung bisheriger Strategien. Das Feindbild einer Woke-Bewegung übersetzt den politischen Kampf in kulturelle und gesellschaftliche Kategorien.

Eine finale Realisierung von Rothbards gesellschaftlichen Vorstellungen, dem Anarchokapitalismus, ist schwer vorstellbar. Es gibt darin keine Idee von sozialem Wandel. Am ehesten in uramerikanischen Siedlergemeinden oder in Gated Communities – also in Gesellschaften von Eigentümern, die ihre Angelegenheiten autonom und ohne staatliche Einmischung regeln.
Trotz aller ideologischen Sprünge lesen sich seine Texte stringent, strategisch durchdacht, in sich stimmig. Grundlage ist ein radikaler, aber ebenso kulturkonservativer Antietatismus, der in seiner Konsequenz zu einem  oligarchischen  Marktautoritarismus führt.

Die leninistischen Anleihen in Bezug auf Kaderbildung, Polarisierung und Massenmobilisierung sind die wohl wirkungsmächtigsten. Libertäre sollten eine harte Kerntruppe aufbauen, ohne sich in Isolation zu verlieren. Sie müssen ihre Ideen popularisieren und gezielt Allianzen eingehen, solange diese nicht zu einem Verrat an den Kernprinzipien führten. Was sie als Eliten verstehen, soll möglichst schnell und wirksam ausgeschaltet werden.
Rothbards Strategie zeigt sich besonders in der Fähigkeit, taktisch flexibel zu bleiben, ohne jedoch das Endziel der radikalen Umgestaltung der Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Rothbard verteidigte Demagogie als politisches Mittel, um eine Wahlbasis zu mobilisieren, wohl wissend, dass sie auch von anderen politischen Akteuren als Werkzeug eingesetzt werden kann. Diese strategische Nutzung ist eines der kontroversesten, aber zugleich wirksamsten Elemente in seiner politischen Strategie.

Murray Rothbard: Right Wing Populism  1/1992 –   Toward a Strategy for Libertarian Social Change – April 1977   Quinn Slobodian: Hayek’s Bastards: The Neoliberal Roots of the Populist Right , 4/25., RezensionDavid Bebnowski: Murray Rothbard’s Populist Blueprint:Paleo-Libertarianism and the Ascent of the Political Right. In: Journal of the Austrian Association for American Studies. vol. 6, no. 1, 2024, pp. 35–53 Ulrike Herrmann : USA: Von Lenin lernen heißt siegen lernen. taz 20.10.2017.Philipp Bagus: Rechter Populismus als erfolgreiche Strategie. Javier Milei. mises.de.org. 8.09.23



Hayek’s Bastards – Die neoliberalen Wurzeln der populistischen Rechten – (Rez.)

Hayek’s Bastards The Neoliberal Roots of the Populist Right von Quinn Slobodian erschien vor wenigen Wochen (15.04.)  – und behandelt primär die ideologischen und intellektuellen Entwicklungen bis in die frühen 2020er Jahre. Aktuelle  Bezüge zu den Ereignissen seit November 2024 sind nicht zu finden.
This is a revolution of white Euro- Males – Der Satz von Murray Rothbard steht dem zweiten Kapitel The Rock of Biology voran.  Es geht um ihre Belange, die bedroht sind – die da sind: taxes, regulations, environmentalism, gun control, foreign aid etc. – und ganz sicher Migration (60).
Rechtspopulismus
wird oft als Reaktion auf Neoliberalismus und Globalisierung gedeutet. Als eine Art Aufstand der Enttäuschten, der Verlierer. Rechtspopulisten inszenieren sich als Vertreter des wahren Volkes, als die wahren Demokraten, die sich gegen eine korrupte Elite erheben, damit das Volk sein Schicksal bestimmen kann. Nur, wer wie das Volk denkt, wer seine Vorstellungen von Normalität, Anstand, Moral, teilt, kann auch für das Volk sein – so schreibt es etwa Marcel Lewandowski in Was Populisten wollen* (2024).

Quinn Slobodian, kanadischer Zeithistoriker,  stellt dem entgegen, dass die Strömungen der extremen Rechten innerhalb der neoliberalen intellektuellen Bewegung entstanden sind und nicht gegen sie.
Was in den letzten Jahren an ideologischen Gegenreaktionen zur neoliberalen Globalisierung beschrieben wurde, ist kein einfacher Backlash – also keine Gegenbewegung gegen einen bestehenden Trend – sondern ein Frontlash*+: eine Bewegung, die sich gegen eine bereits eingesetzte Gegenbewegung richtet.
Es ist keine Rückkehr zu einer alten Ordnung, sondern eine interne Radikalisierung der bestehenden neoliberalen Prinzipien, gerichtet gegen neue politische und soziale Forderungen.

Der Titel Hayeks Bastards – The Neoliberal Roots of the Populist Right ist eine Hommage an Voltaire’s Bastards: The Dictatorship of Reason in the West (John Ralston Saul, 1992).
Ralston Saul hatte die gewundene Geschichte von Vernunft und Rationalität in westlicher Philosophie und Politik neu erzählt. Rationale Prinzipien der Aufklärung und Ideale der Wissenschaftlichkeit wurden in einer Form  fetischisiert, dass technokratische Eliten zu primären Entscheidungsträgern wurden. Demokratische Prinzipien wurden unter dem Vorwand von Effizienz und Expertise untergraben –  es  entstand eine Kaste von Managern und Bürokraten.
Eine ähnliche Dynamik sieht Slobodian heute bei den Epigonen von Hayek und Mises. Hayeks Bastarde – gemeint sind  Vertreter
diverser Spielarten des Libertarismus und Anarcho- Kapitalismus – die sich allesamt einer Rhetorik der – wirtschaftlichen – Freiheit bedienen, die auf Hayek (und Mises) zurückgeht.  Die Beschränkung auf ökonomische Aspekte und die Vernachlässigung sozialer Dimensionen eröffnete einen Raum, der von libertären Bewegungen genutzt wurde, um ihre spezifischen Ideologien zu entwickeln – die dann die Kurve zu Rechtspopulismus- und extremismus nahmen. 

Cheerleader mit der Kettensäge: Musk & Millei auf der CPAC – 20.02.15

Für sich allein lösen die Bezeichnungen und ihre Rhetorik zunächst Irritationen aus. Was sie ausmacht, ist oft nur das Radikale des Wirtschaftsliberalismus: Freier Markt als Fetisch, als Naturgesetz, als unbedingte Wahrheit. Anderen – grundlegenden – liberalen Freiheiten steht man feindlich gegenüber. Egalitarismus, globale ökonomische Gleichheit und Solidarität über nationale Grenzen  sind Sündenfälle. Das Bild der Kettensäge verdeutlicht die fortlaufende Radikalisierung, die Logik der Disruption.
Manchmal erinnern sie an evangelikale Bewegungen: Es gibt Erweckungserlebnisse, Schriften, auf die man sich beruft. Es gibt den Gedanken der Reinheit der Lehre und ihrer Befolgung. Komplexe Realitäten werden auf einfache Grundprinzipien heruntergebrochen.
Libertaristische Strömungen hatten beträchtlichen Einfluss auf das Projekt 2025 der  Heritage Foundation – dem Bauplan zur Machtergreifung Trumps. 

Eigentlich hatte das Ende des Kalten Krieges den Triumph des Kapitalismus über den real existierenden Sozialismus bedeutet. Zudem war die keynesianische Wirtschaftsordnung der 70er Jahren bereits zuvor, zumindest in der angloamerikan. Welt unter Thatcher und Reagan in eine neoliberale umgewandelt worden.
In den Augen seiner glühendsten Verfechter war dieser Sieg aber nicht vollständig. Socialism is dead, statism is not. Das Feindbild drehte auf die Folgen der sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre, den demokratischen Staat, der gleiche Rechte für alle garantierte.
Was die meisten Menschen – oder eben der Mainstream – als gesellschaftlichen Fortschritt erlebten, war für sie der reine Schrecken: Die sozialen Bewegungen hatten dem politischen System das Gift der Bürgerrechte, des Feminismus, der affirmative action und des ökologischen Bewusstseins eingebracht.  Begonnen hatte all das  mit dem Civil Rights Act von 1964 – gleiche Rechte auf Kosten von Effizienz, Stabilität und Ordnung. Auch die Europäische Integration  wurde als neue Gefahr betrachtet und zum Feindbild.
Woke wurde zum Trigger- Wort – zum übergreifenden Feindbild aufgebaut. Berücksichtigung der Rechte  von Minderheiten abgelehnt. 

Welchem politischen Spektrum Hayek heute zuzurechnen wäre, bleibt Spekulation. Sicher ist: Sein Erbe wird von einem breiten ideologischen Spektrum beansprucht – von wirtschaftsliberalen Konservativen bis hin zu rechtslibertären und autoritären Akteuren.
Hayek war in erster Linie ein Verfechter rechtsstaatlich eingebundener unternehmerischer Freiheit und individueller Eigenverantwortung. Er entstammte einem bürgerlich-konservativen Milieu, das stark von Skepsis gegenüber staatlicher Intervention geprägt war.
Dass er bereit war, mit autoritären Regimen wie dem unter Pinochet in Chile zu kooperieren – oder sie zumindest zu rechtfertigen –, zeigt die Grenzen seines Demokratieverständnisses: Entscheidend war für ihn nicht die demokratische Form, sondern der Schutz marktwirtschaftlicher Ordnung.
Hayek war kein Vordenker eines rechten Autoritarismus. Aber ebenso wenig war er ein überzeugter Verteidiger liberaler Demokratie im heutigen Sinn. In seinen späten Schriften trat die Vorstellung eines formalen Rechtsstaats oft deutlicher hervor als jene einer egalitären, partizipativen Demokratie.

Er selber wird mit der Aussage zitiert, dass Neoliberalismus eine erlernte, zivilisatorische Disziplin sei, die den tief verwurzelten Instinkten der Menschheit zunächst widerspreche.
Einige seiner Nachfolger sahen das anders und argumentierten mit genetisch bedingten Ungleichheiten – soziale und ökonomische Hierarchien seien das Resultat natürlicher und unveränderlicher Unterschiede zwischen den Menschen. Damit öffneten sie den Weg zu Argumentationen  rassistischer Rechtfertigung von Ungleichheit.
Slobodian nennt diese Verbindung von Mainstream-Neoliberalismus mit der  Argumentation genetisch gerechtfertigter Ungleichheit New Fusionism – ein Revival des Rassismus.  

Charles Murray wurde mit The Bell Curve (1994) bekannt – ein Buch, in dem er Intelligenz und soziale Schichtung mit Ethnizität verknüpfte. Deutsches Äquivalent  wäre etwa Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab – beide Bücher fachten  ähnliche Diskussionen an, und hatten ähnliche Wirkungen. Diese Thesen stießen auf erhebliche Kritik und wurden von vielen als pseudowissenschaftlich und rassistisch eingestuft. Murray argumentierte, dass Intelligenz ein wesentlicher Faktor für den sozioökonomischen Status sei und dass es Unterschiede im durchschnittlichen IQ zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen gebe – Thesen, die eine kognitive Elite  legitimieren sollten.

Murray Rothbard (1926-1995) – nicht zu verwechseln mit dem eben genannten Charles Murray, wird als Vordenker  beschrieben, der Libertarismus und Rechtspopulismus miteinander verband. Es sind die von ihm entworfenen Strategien, die den aktuellen autoritären Rechtspopulismus prägen. In einem anderen Essay setzt Slobodian Rothbard in Bezug zu Lenin – von ihm entlehnte er nicht nur dessen Revolutionshoffnungen, sondern war wie dieser bereit dazu, aus vergangenem Scheitern zu lernen und seine Analyse entsprechend anzupassen (vgl. Slobodian & Bebnowski 1/25).
Paleo- Libertarismus klingt zunächst wie die Rückführung auf anthropologisch legitimierte Verhältnisse. Tatsächlich ist es ein machtpolitisches Zukunftsmodell mit einem enormen Einfluss auf die moderne politische Rechte: Right-Wing Populism, die Verbindung zwischen radikalem Libertarismus, kulturellem Konservatismus und Autoritarismus.
Outreach to the Rednecks – mit diesem Motto  entwarf Murray Rothbard die Strategie, die den Aufstieg populistischer Politik vorwegnahm. Er skizzierte  dabei eine politische Taktik, bei der ein charismatischer Führer die traditionellen Medien umgeht und direkt mit der Bevölkerung kommuniziert. Zielgruppe der Ansprache waren in erster Linie die  Rednecks,  das Middle America, jene Bevölkerungsgruppen, die sich von der politischen Elite vernachlässigt fühlten. Auch der Slogan America First stammt von ihm.

Kernstück der Strategie ist die gebündelte massenmediale Aufmerksamkeit und die damit einhergehende affektive Aufladung. Mit Social Media wurden die Möglichkeiten in vorher unbekannter Weise Wirklichkeit. Rothbards Strategien fanden in den Trump- Wahlkämpfen Anwendung-  viele der Details, die uns heute verwundern und erschrecken wurden von ihm konzipiert. Nicht nur in den USA – auch in den präsidialen Regierungssystemen Südamerikas Brasilien (Bolsonaro), Argentinien (Milei) und El Salvador (Bukele) gelang der Aufstieg ins höchste Staatsamt.
Präsidiale Regierungssysteme mit einer starken Exekutive können anfälliger für autoritäre Tendenzen sein als parlamentarische Systeme. Der tatsächliche Widerstandsfähigkeit eines Systems gegenüber autoritären Tendenzen hängt aber von anderen Faktoren ab, wie der politischen Kultur, der Stärke der Zivilgesellschaft und der Unabhängigkeit der Justiz.

Hans-Herrmann Hoppe, deutscher Volkswirt, aber lange in den USA wirkend, gilt als weitere Schlüsselfigur. Hoppe, der bei Habermas promoviert hatte, entwickelte er sich zum offenen Befürworter antidemokratischer Positionen. Er verknüpft das auf Privateigentum begründete Recht auf Ausschluss, Exklusivität und Diskriminierung mit kulturell-konservativen Vorstellungen einer idealisierten, prämodernen Gesellschaft. Das Ergebnis ist ein Gesellschaftsmodell, das letztlich auf autoritäre Herrschaft durch Eigentümer – vergleichbar mit CEOs – hinausläuft. New Fusionism zwischen radikalem Marktdenken und kulturellem Traditionalismus.

Curtis Yarvin (*1973) und Richard Hanania (*1985) vertreten eine jüngere Generation.  Yarvin steht dem aktuellen US-Vize Vance und dem Oligarchen Peter Thiel nahe. Er vertritt  autoritäre, technokratische Herrschaftsformen -eine Privatisierung der Öffentlichkeit.
Von Hanania erschien 2023  The Origins of Woke: Civil Rights Law, Corporate America and the Triumph of Identity Politics – von Thiel gelobt:  Hanania shows we need the sticks and stones of government violence to exorcise the diversity demon.
Yarvin
wie Hanania bauen ihre Argumentationen auf dem Fundament einer vermeintlichen unbequemen Wahrheit auf – dem Gedanken, dass menschliche Gleichheit eine noble Lüge sei, die an der biologischen Realität scheitere.

Libertarismus tritt mit einer Reihe unterschiedlicher Attribute auf:  Cyberlibertarianismus hatte ich vor einiger Zeit in der Rezension zu David Golumbias Buch beschrieben. Er wirkt zusammen mit der immensen ökonomischen und medialen Macht von BigTech.
Libertarismus in all seinen Spielarten hat keine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Gemeinwesen, nach dem, was Menschen jenseits vertraglicher Beziehungen zusammenhält. Er bietet keine Erzählung des Kollektiven, keine Vision von Gesellschaft jenseits atomisierter Individuen. Das macht  ihn anschlussfähig für andere ideologische Strömungen – sei es  nationalistischen Populismus oder einen  Silicon-Valley-Technokratismus. In der Realität begünstigt er eine Verklumpung, ein Mash- Up von Machtsystemen.

Slobodian ist Kanadier, sein Blick v. a. auf Nordamerika, daneben Grossbritannien gerichtet. Dennoch finden die Verhältnisse in Deutschland Beachtung (152 ff). Als frühe Kristallisationsfigur nennt er den bereits erwähnten Thilo Sarrazin, dessen Synthese von Freihandel, nationaler Geldpolitik und biologischem Rassismus.
Weiteren Raum nehmen die Verbindungen zur Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft ein, die personell von rechtskonservativen bis – radikalen Netzwerken durchsetzt ist, so sind Beatrix von Storch Peter Boehringer (Bundestagsabgeorneter der AfD) Mitglieder, bin 2021 auch Alice Weidel. 
Kaum angesprochen wird allerdings das Völkische Substrat in der AfD. – das in der AfD wohl eine grössere Rolle spielt. 

Libertarismus ist in Slobodians Darstellung eine Radikalisierung neoliberalen Denkens, das in den strategischen Konzepten Murray Rothbards und dessen  Verbindung mit autoritären Strömungen den konstitutionellen Rahmen sprengt. Die Grenze zwischen beiden verläuft nicht entlang ökonomischer Details, sondern an ihrem Verhältnis zur Demokratie. Neoliberales Denken zielt auf Märkte innerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmens – mit Verfassung, Institutionen und Regeln. Libertäre hingegen misstrauen jeder Form kollektiver Steuerung, auch wenn sie demokratisch legitimiert ist.
Sie wollen den Staat auf ein Minimum reduzieren oder ganz zurückdrängen – und stellen damit auch den gesellschaftlichen Pluralismus und das Prinzip politischer Teilhabe in Frage. An diesem Punkt kippt die marktwirtschaftliche Ordnungsidee in ein autoritär-libertäres Projekt, das demokratische Grundlagen unterläuft.
Hayek dient als Legitimationsfigur, als intellektueller Stammvater, dessen Autorität man sich borgt, selbst wenn seine Ideen in Richtungen weiterentwickelt werden, die er nicht gebilligt hätte.

Quinn Slobodian: Hayek’s Bastards: The Neoliberal Roots of the Populist Right , 4/25  Quinn Slobodian & David Bebnowski Der Vordenker des neuen Rechtspopulismus Beiträge zur polit. Ökonomie 25.01.25. Quinn Slobodian: The bastards of neoliberalism. The eccentrics of the new right aren’t rebelling against our political regime – they are its twisted successors. The New Statesman . 19.04.25.  Otmar Tibes: Liberalismus mit der Kettensäge. Beiträge zur politischen Ökonomie – 25.04.25   Sven Reichardt: Neuerfindung des Faschismus. FAZ am Sonntag, 20.04.2025. Philipp Inman: It’s not poverty that’s breeding the new populism. It’s wealth. The Guardian. 19.04.25 *In: Marcel Lewandowsky: Was Populisten wollen (2024).. s. Rez.  **Frontlash bezeichnete die Gegenréaktion auf die Politik der Bürgerrechte in den 60er Jahren (vgl.: Link

Von demselben Buch gibt es zwei Versionen: Mir liegt die britische Ausgabe, die bei Penguin Books erschienen 15.04.25  vor: Hayek’s Bastards: The Neoliberal Roots of the Populist Right.  Sie richtet sich primär an ein britisches bzw. internationales Publikum und betont in ihrem Titel die ideengeschichtlichen Wurzeln des Rechtspopulismus im Neoliberalismus. Gleichzeitig erschien die US- Ausgabe bei zone – Books unter dem Titel Hayek’s Bastards: Race, Gold, IQ, and the Capitalism of the Far Right. 



Klaus Janowitz (klausmjan)

SideMenu