Zivilisation und Habitus in der Digitalen Consumer Culture

Vor einigen Wochen (27.09.) habe ich gemeinsam mit dem Zeithistoriker Massimiliano Livi ein von uns provisorisch so genanntes Mini-Online-Symposium zum Thema Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – Wandel in Technologie, Gesellschaft und dem individuellem Habitus – veranstaltet.
Sinn und Ziel der Veranstaltung war es, die auf Norbert Elias zurückgehende Zivilisationstheorie in aktuelle Diskussionen einzubringen und so Entwicklungen der letzten Jahrzehnte + der kommenden Jahre zu beleuchten. Wie sind der Wandel in Technologie, Gesellschaft und individuellem Habitus miteinander verbunden? – eine Fragestellung mit Belang für Zeitgeschichte, Zukunfts- und Transformationsdiskussion, Konsum- und Trendforschung u.v.m. In einem zweiten Beitrag ging es um die Frage, wie soziale Ordnung in der fragmentierten digitalen Gesellschaft des XXI. Jahrhunderts möglich ist.  Sind neu entstehende soziale Formationen tragfähig genug?
Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener, evolutionärer Prozess. Ungesteuert, aber doch von erkennbaren Faktoren beeinflusst und angetrieben. Bei Elias ging es um Wandlungsprozesse – heute würde man von Transformationen sprechen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese, die langfristige Entwicklung von Gesellschaften.
Technogenese, die Co- Evolution von Technik und Gesellschaft, ist als Begriff ziemlich neu, tauchte erst seit 2012 auf. Technologische Innovationen sind keine isolierten Ereignisse, sie entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Auf Armin Nassehi geht die Aussage, dass sich Techniken nur dann durchsetzen, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen, zurück (vgl. Nassehi, 2019). Eine These, die ich seit längerem beobachte –  bisher nicht falsifiziert. Eine Frage ist, ob die erfolgreichen disruptiven Innovationen zwar ihre ökonomischen Vorgänger schnell verdrängen – aber eben deshalb erfolgreich sind, weil sie an neuere Dispositionen in der Gesellschaft anknüpfen?
Neue Technologien treffen oft auf laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Sie werden (weiter-) entwickelt., wenn bereits eine Vorstellung davon vorhanden ist, was mit ihnen möglich ist (vgl. Stalder 2016, 21 ff). Warum hat sich das mobile Internet mit dem SmartPhone in kürzester Zeit weltweit verbreitet? Und warum wird es das Metaverse – zumindest in der Form, in der es gepusht wird, wahrscheinlich nicht – obschon  immersive Technologien sich stetig verbreiten?

Auf Elias, mehr aber noch auf Pierre Bourdieu (1930 – 2002; La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, dt, Die feinen Unterschiede, 1984) geht auch das Konzept des Habitus zurück. Im jeweils spezifischen Habitus spiegelt sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, erkennbar in Lebensstil, Kleidung, Sprache, Konsum, Auftreten und Verhalten. Elias beschrieb die Herausbildung des Habitus als Zivilisierung in den Oberschichten bis zum 19.Jh., Bourdieu seine Inkorporierung im franz. Bürgertum der 60er/70er Jahre und führte dabei Begriffe wie kulturelles und soziales Kapital ein. Beide beschreiben Prozesse und Muster mit exemplarischem Anspruch, deren empirischer Bezug aber schon länger zurückliegt.
Das “Mini- Symposium” – online- Seminare sind mittlerweile ein eingeführtes Format und einfach zu organisieren – war als erster Einstieg in eine Diskussion gedacht, eine Einladung an  Interessierte, wie die Konzepte von Elias und Bourdieu auf Wandel in aktuellen Gesellschaften angewendet werden können – als eine Art theoretisches Dach.

Eine Aktualisierung des Zivilisationsprozesses hatte zuerst der Amsterdamer Soziologe Cas Wouters seit den 70er Jahren  mit der Informalisierungsthese  formuliert. Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, die flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt.
Der damals offensichtlich werdende Wandel fiel in die Spätzeit der Ära, die von Massenproduktion, Vollbeschäftigung, wachsender Teilhabe am Wohlstand geprägt war. In den Niederlanden kannte man das Modell der Verzuiling, im Deutschland der Sozialen Marktwirtschaft sprach man mitunter vom Nivellierten Mittelstand.  Grosse, stabile Organisationen prägten Wirtschaft und Gesellschaft. Medien waren v.a Massenmedien, Massentourismus hatte sich verbreitet. Diversity war noch kein Thema.

Wandel im Habitus: Verbreitung der Maxime Coolness

Der Wandel ging von den Rändern aus – Subkulturen, Counterculture, alternative Szenen. Die Wirtschaft öffnete sich zur sog. Künstlerkritik an der Entfremdung durch gleichförmige Tätigkeit. Werbung und Marketing vereinnahmten das Prinzip Coolness und Popkultur. Nicht mehr nur die legitime (Hoch-) kultur, wie bei Bourdieu, auch Popularkulturen bedeuteten kulturelles Kapital. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, Selbstkontrolle wird mehr und mehr zum Selbstmanagement.

Entwicklungen, die sich über die letzten Jahrzehnte und Generationen hinzogen, bis sie die Gesellschaft durchdrungen haben. Etwas grob zusammengefasst, gingen Märkte und Selbstverwirklichungskultur eine Symbiose ein.  Das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums entstand, ein expressives Selbst, das nicht einfach Konventionen folgt – aber innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens bleibt,  und – im Idealfalle – die  ökonomische Eigenverantwortung annimmt. Kreativität wurde als Ressource von Innovation und Fortschritt aufgewertet.

Consumer Culture wurde in den 90er und 0er Jahren formuliert: Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets² – eine Beschreibung von 2005, die wohl auch heute noch gültig ist, ergänzt als digital Consumer Culture in einer von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägten Lebens- und Arbeitswelt. Zwar stehen in den Diskussionen oft Nachhaltigkeit, das Maß persönlicher Autonomie und Kreativität am Arbeitsplatz, die Wahlmöglichkeiten der Lebensführung im Vordergrund – letztlich entscheidend bleiben die Märkte (auch Aufmerksamkeitsmärkte).

Allerdings kann Zivilisation auch einen Dreh nehmen: Gesamtheit der im Entwicklungsprozess erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten, die es der Gesellschaft ermöglicht, in der je spezifischen Art und Weise ihre Probleme zu lösen  – so lautet eine Definition von Zivilisation³, die Entscheidungen einbezieht – aber kaum verordnet werden kann, sondern überzeugt gelebt werden muss.

Ein entscheidender Wandel  liegt im Modell der Digitalität: Digital können Verknüpfungen viel einfacher  hergestellt werden, als in einer hierarchischen Pyramide. Digitalität ermöglicht Anschlussfähigkeit durch Adressierbarkeit, ein vielfältiges Matching. Warum nahm die sog. digitale Landnahme ausgerechnet ihren Ausgangspunkt in der Musikwirtschaft, über das Wissen  über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt? (vgl. Michael Seemann. Die Macht der Plattformen)
Soweit jetzt, Zivilisationsprozess und das Konzept des Habitus ermöglichen eine breite Sicht auf Zukunft, Wandel, Märkte und Konsum. Ich freue mich auf Feedback und eine Weiterführung der Diskussion..

Blogbeiträge mit Bezug zur Zivilisationstheorie:  Über den Prozess der Digitalisierung  – Machtbalance und Figuration Digitale Figurationen   Die grosse Transformation. Polanyi und die Digitalisierung, Digitaler Habitus, Was treibt die Zukunft an, Zivilisationsprozess continued, Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – ein Mini- Symposium
¹als Künstlerkritik wird die Kritik am Kapitalismus bezeichnet, die sich gegen Entfremdung im fordistischen Kapitalismus richtete, Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und Spaß einfordert; daneben steht die Sozialkritik, die sich auf Solidarität, Sicherheit und Gleichheit gründet und diese einfordert
² Eric J. Arnould, Craig J. Thompson 
In: Journal of Consumer Research, Volume 31, Issue 4, March 2005, Pages 868–882, ³ aus Lexikon der Soziologie 4. Auflage 2007

vgl.: Norbert Elias  Über den  Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen,  1938 u. 1969. Band 1 u. 2.  .Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, . dt: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1984  Cas Wouters: Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990. Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus. 1998 Thomas Frank: the conquest of cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. 1997. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 1991/2007  Felix Stalder: Kultur der Digitalität. 2016



Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – ein Mini- Symposium

Bildquelle: @jamesponddotco /unsplash.com

Von Wandel wird viel gesprochen, von technologischem Wandel, von gesellschaftlichem Wandel, vom Wandel der Arbeit und vom Wandel zur Nachhaltigkeit.  Dabei geht es sehr oft um Innovation, Technologie, Megatrends etc.
Konzepte vom Wandel bzw. der Evolution technologischer, gesellschaftlcher und  kultureller Zivilisation kommen seltener zur Sprache.
Bei einer Diskussion, die aus einer Blogparade zu New Work hervorgegangen war, war ich schon vor einigen Jahren mit Massimiliano Livi, italienisch/ deutscher Zeithistoriker (Münster und Trier) ins Gespräch gekommen. Es ging u.a um Formen von Vergemeinschaftung, die auf Individualisierung folgen, so etwa Neotribalismus.
Herausgekommen ist nun ein Termin zu einer Art Online- Mini- Symposium  zum Thema Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft (vgl. Zivilisationsprozess continued). Wie sind der Wandel in Technologie, Gesellschaft und individuellem Habitus miteinander verbunden? Gibt es einen Zivilisationsprozess zur digitalen Consumer Culture des Social Web und weiter? Der Entwurf einer Perspektive.

Es gibt zwei Impulsbeiträge. Im ersten geht es um einen weiten Bogen von Norbert Elias und Pierre Bourdieu bis hin zur digitalen Consumer Culture unserer Tage. Lässt sich ein Zívilisationsprozess erkennen und beschreiben, in dem sich die Entwicklung von Gesellschaft, individuellem Habitus und technischer Zivilisation gegenseitig durchdringen? Begriffe und Konzepte wie Habitus, Informalisierung,  digitale Landnahme und einige mehr tauchen auf. Wie hilfreich ist ein solcher Blickwinkel, sozialen und technologischen Wandel zu verstehen?

Im zweiten Beitrag geht es darum, wie soziale Ordnung in der fragmentierten digitalen Gesellschaft des XXI. Jahrhunderts möglich ist? Ist das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft für immer überholt? Greifen Klasse, Soziales Kapital und die normative Kraft sozialer Strukturen wirklich nicht mehr zu?

Termin ist Dienstag, der 27.09. 2022, 16.00. Anmeldung auf LinkedIn.

Zugangslink (Klick auf das Icon): 

Kurzer Rückblick (2.10.):
Zwar war die Zahl der Teilnehmer nicht allzu gross (ca. 15) und viele davon  waren zunächst Zuhörer mit “verdecktem Visier” (Video deaktiviert). Doch entwickelte sich dann eine angeregte Diskussion + einige spätere Feedbacks. Online- Konferenzen sind spätestens seit Corona Standard –  zur Beteiligung an offenen Diskussionsrunden nach dem Modell der Futures Lounge, muss aber wohl ausdrücklich aufgefordert werden.
Unser Interesse war, das auf Norbert Elias zurückgehende Konzept des Zivilisationsprozesses in aktuelle Diskussionen einzubringen und dabei wesentliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu beleuchten. Technogenese – die parallele Entwicklung von gesellschaftlicher und technologischer Entwicklung – wurde  als ein weiterer Bestandteil des Zivilisationsprozesses genannt. Zivilisation ist wohl so vielschichtig wie Kultur, der Gebrauch beider Begriffe  überschneidet sich vielfach. Um Wandel und Transformation geht es in aktuellen Diskussionen immer wieder – und ich bin der Überzeugung, dass das Modell des Zivilisationsprozesses dabei eine sehr sinnvolle Perspektive bietet.
Ebenso ging es um die Effekte, die mit der Auflösung bestehender Ordnungen einhergehen. Sind neu entstehende soziale Formationen tragfähig genug?  Viele Themenfelder werden damit angesprochen. So taucht die Frage auf, wie weit ein Interesse an einer Fortsetzung des Diskussionsformates besteht. Feedback ist willkommen!

 

Eine Definition von Zivilsation: “… Gesamtheit der im Entwicklungsprozess erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten, die es der Gesellschaft ermöglicht, in der je spezifischen Art und Weise ihre Probleme zu lösen…” (Lexikon zur Soziologie, 2007)

Impulsbeiträge: Klaus Janowitz, Soziologe, Betreiber dieses Blogs; PD Dr. Dr. Massimiliano Livi, SEAL – Forschungs- und Dokumentationsstelle, Fachbereich III – Geschichte – Universität Trier, https://tribes.hypotheses.org, @bes_tr
Profile: https://www.uni-trier.de/index.php?id=60671; https://uni-trier.academia.ed /MassimilianoLivi



Zivilisationsprozess – continued

zivilisierter Auftritt? Bild: unsplash.com

Auf Norbert Elias (1897-1990) und die Zivilisationstheorie bin ich im Blog immer wieder zu sprechen gekommen (s. u.). Seit dem Hauptstudium Soziologie hat mich  immer wieder die Frage beschäftigt, wie man mit der Zivilisationstheorie neuere Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft beschreiben und erklären kann.
Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener Prozess, der ungesteuert, evolutionär, verläuft.  Elias hatte den Zivilisationsprozess als langfristig gerichtet, durch wechselseitige Verflechtungen – Interdependenzen – angetrieben, beschrieben. Dabei gibt es immer wieder auch gegenläufige Tendenzen. Jede Zivilisation orientiert sich an ihren eigenen Werten, Verhaltensstandards setzen den Rahmen für Handeln und Empfinden.

Was das Werk von Elias auszeichnet und über den historischen Prozess hinaus interessant macht, ist die Verbindung und gegenseitige Durchdringung zweier Prozesse: der Herausbildung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen, Sozio- und Psychogenese. Es gibt Überschneidungen zu Karl Polanyi (1886 – 1964), The Great Transformation (1944): beide befassten sich mit langfristigen gesellschaftlichen Prozessen an der Schwelle der Vormoderne  zur Moderne, beide arbeiteten allgemeingültige Regelhaftigkeiten des Wandels heraus. Ging es bei Polanyi um die Durchsetzung des Prinzips der Marktwirtschaft und die Umgestaltung der Gesellschaft unter deren Primat, ging es bei Elias um Wandlungen in den Persönlichkeitsstrukturen hin zu einem gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang.
Eine zentrale Rolle spielt die Ausformung des Habitus, in dem sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, spiegelt – ein Konzept, das ebenso sehr von
Pierre Bourdieu (1930 – 2002; La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979) geprägt wurde. Beide Autoren werden oft in ähnlichen Kontexten zur Erklärung herangezogen, gemeinsam ist beiden eine Sichtweise, die Gesellschaft und Individuum nicht als dichothome Gegensätze beschreibt.
So sinnvoll und allgemeingültig Konzepte und Begriffe von Elias und Bourdieu sind, so wenig aktuell ist die Materialbasis. Der Zivilisationsprozess behandelt die Soziogenese der abendländischen Zívilisation bis zum 19. Jh,  Elias schrieb daran in den 20er und 30er Jahren. In seinem Alterswerk, bis in die 80er Jahre,  befasste er sich v.a. mit den daraus  folgenden methodischen  Schlüssen.
Auch die Datenbasis Bourdieus, an denen er u..a die Konzepte von kulturellem und sozialem Kapital herausarbeitete liegt ca. 50 Jahre zurück. So hat sich etwa die Bedeutung der Vertrautheit mit der legitimen Kultur als kulturellem Kapital seitdem sicherlich verschoben. Legitime Kultur bedeutet den anerkannten Kanon der Hochkultur in seinen jeweiligen nationalen Ausprägungen – im Gegensatz zur populären Kultur, die vom Markt bestimmt ist und zu Gegenkulturen (Counter- Culture), an der sich nicht- etablierte Öffentlichkeiten orientieren.

Der Amsterdamer Soziologe Cas Wouters hatte seit den späten 70er Jahren mit der Informalisierungsthese  eine Richtungsänderung des Zivilisations-prozesses formuliert. Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, die flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, Selbstkontrolle wird zum Selbstmanagement.

Erfolgreiche Landnahme durch das Advertising: the conquest of cool (1997)

Seit den 90er Jahren wurde immer wieder ein erneuerter Kapitalismus beschrieben. In Der neue Geist des Kapitalismus (1999) stellten die Autoren Boltanski & Chiapello einen Kapitalismus dar, der die sog. Künstlerkritik*  aufgegriffen und verarbeitet hat.
Deutlich illustriert der Titel the conquest of cool  eine Vereinnahmung, die Landnahme** des Prinzips Coolness, der  Counterculture durch die Werbewirtschaft. Ähnlich verstehen lässt sich die zeitweilig enorme Popularität der Thesen von Richard Florida zur Creative Class.
Alle diese Thesen sind angreifbar und sie wurden mehrfach deutlich kritisiert – aber es sind jeweils einzelne Diskussionen.  Im Idealfall und etwas übersteigert bedeuten sie die Verbindung der Lebensweise der Bohème mit der materiellen Akkumulation des Kapitalismus.
Sie folgen dem Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, einem  expressiven Selbst, das nicht einfach Konventionen folgt – aber innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens bleibt,  und – im Idealfalle – die  ökonomische Eigenverantwortung annimmt. Auf die verbreitete Wirklichkeit heruntergebrochen sind es Veränderungsprozesse, in denen das Maß persönlicher Autonomie und Kreativität am Arbeitsplatz, die Wahlmöglichkeiten der Lebensführung zugenommen hat – letztlich die Aufwertung von Kreativität als Ressource von Innovation und Fortschritt.

Hochkultur findet weiterhin Beachtung, aber die Vertrautheit mit ihr dient nur noch selten als legitime Kultur der Distinktion.  Vertrautheit mit der populären Kultur nimmt zu bzw. wird häufiger kommuniziert. Popsongs, Filme, Serien, Comics,  aber auch Produktdesign etc.  werden referenziert, wenn es um die Vermittlung von Eindrücken, Stimmungen etc.  geht. Auffallend ist weiterhin ein oft weitreichendes Produktwissen.

Korrektheit im 21. Jahrhundert. Bild: pexels-elevate-digital

Wo stehen wir heute? Wahrscheinlich passt das Etikett Consumer Culture*** immer noch am besten, wenn auch in der (digitalen) Spätphase. Ein Kennzeichen ist die Verfügbarkeit bzw. Zugänglichkeit von  Ressourcen jeglicher Herkunft, die über den Markt geregelt wird. Der Habitus – das persönliche Erscheinungsbild – ist zumindest reflektiert, wird oft sorgsam gepflegt. Zugehörigkeiten bleiben wohl erkennbar, klassische Milieus verblassen aber mehr und mehr.  Der Begriff Informalisierung passt immer seltener, oft scheint sie inszeniert. Kompetenz und Professionalität, die Marktfähigkeit der eigenen Person werden auf eine oft sehr subtile Weise kommuniziert.  Coaching zu ihrer Pflege  wurde zur Dienstleistung.
Soziale Ungleichheit ist selten Thema, Verstösse gegen Gleichheitsgrundsätze umso mehr, vgl. politische Korrektheit.
Cultural Appropriation/Kulturelle Aneignung gehört zum Wesen der Consumer Culture – kein Stil, keine Tradition, die nicht auf ihre Adaption oder Marktfähigkeit  abgeklopft, nicht in irgendeiner Weise verwertet wird – sei es aus dem ethnischen Fundus (hier insbes. kulinarisch), sei es aus dem der Popularkulturen. Einerseits ist grösstmögliche Authentizität gefragt und wird geschätzt, andererseits ist Fusion, Crossover, MashUp die sichtbarste Eigenleistung in Küche, Musik und Mode. Gelegentlich treten medienwirksame Konflikte zur Urheberschaft auf, als ob kollektive Urheberrechte eingefordert werden sollen.

Was folgt? Meine Einschätzung: Wahrscheinlich wird die Dringlichkeit gemeinschaftlich zu lösender Probleme ein Treiber des Zivilisationsprozesses sein, an dem sich Ausformungen des Habitus, von Verhaltensstandards, kulturelles Kapital,  herausbilden. Ausprägungen von Lebensstilen,  Werden soziale Ungleichheiten grossen Ausmasses dauerhaft akzeptiert? Hin zu einer metamodernen Welt?
Elias ging es  um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Sozio- und Psychogenese. Dabei nutzte er damals als ungewöhnlich erachtete Quellen: Aufzeichnungen zu Verhaltensstandards, später auch Manierenbücher. Solche gibt es hier und da noch heute, aber sie spielen kaum noch eine Rolle. Heute wird man eher in der Managementliteratur und in Social Media fündig. In ersterer wohl den zumindest für Teilgruppen geltenden Stand; Social Media spiegeln hingegen die Breite des Verhaltens. Derzeit sind wohl instagram mit einem ausufernden visuellen Selbstmarketing – und verhaltener LinkedIn als Bühne  der Professionalitätsdarstellung am interessantesten. Verweisen möchte ich noch auf das Konzept Technogenese, über das ich in anderen Blogbeiträgen geschrieben habe. Technologische Systeme entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen.

Soweit eine Skizze zu möglichen Fortschreibungen des Zivilisationsprozesses. Bisher nur Bruchstücke – um was es mir geht, ist das Narrativ von der parallelen Entwicklungen von Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen (technische Entwicklung dann auch noch dazu ….)

 

Blogbeiträge mit Bezug zur Zivilisationstheorie:  Über den Prozess der Digitalisierung  – Machtbalance und Figuration Digitale Figurationen   Die grosse Transformation. Polanyi und die Digitalisierung, Digitaler Habitus, Was treibt die Zukunft an
*als Künstlerkritik wird die Kritik am Kapitalismus bezeichnet, die sich gegen Entfremdung im fordistischen Kapitalismus richtete, Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und Spaß einfordert; daneben steht die Sozialkritik, die sich auf Solidarität, Sicherheit und Gleichheit gründet und diese einfordert
** analog zur Digitalen Landnahme der grossen Digitalunternehmen beim Abgreifen von Nutzerdaten (bei Zuboff – Überwachungskapitalismus)
***Consumer Culture:  “Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets”   Eric J. Arnould, Craig J. Thompson 
In: Journal of Consumer Research, Volume 31, Issue 4, March 2005, Pages 868–882,

vgl.: Norbert Elias  Über den  Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen,  1938 u. 1969. Band 1 u. 2.  .Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, . dt: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1984  Cas Wouters: Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990. Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus * . J. Rössel & K. Bromberger “ Strukturiert kulturelles Kapital auch den Konsum von Populärkultur?”  Zeitschrift für Soziologie, Band 38 Heft 6.  S. 494 – 511, 2009. Thomas Frank: the conquest of cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. 1997. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 1991/2007



Metamoderne – erster Überblick

In der Diskussion auf der letzten FuturesLounge im Mai kam die Sprache auf Metamodernity/ Metamodernism – international und v.a. auch in Nachbarländern wie den Niederlanden und Dänemark ein bereits seit längerem verbreiteter Begriff, im deutschen Sprachraum allerdings nur sporadisch gebraucht.
Metamoderne ist Reaktion und Abkehr von der verblassenden  Epochenbezeichnung Postmoderne, ein Branding  für das, was danach kommt, was manchmal auch aus Verlegenheit Post- Postmoderne genannt wurde. Unter dem Label metamodern (in mehreren Verbegrifflichungen) kristallisiert sich ein neuer Blick auf die gegenwärtige und in die zukünftige Welt heraus. Die Periodisierung ist eher zweitrangig.

Der Begriff selber ist gar nicht mehr so neu. Den Durchbruch hatte er mit dem Essay (2010) und dem darauf folgenden Webzine (2009 – 2016, archiviert) Notes on Metamodernism der Rotterdamer Kulturwissenschaftler Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker. Themen des Webzine waren Trends und Tendenzen in  Current Affairs, in der Netzkultur und aus fast allen Kultursparten von Architektur über Tanz und Performance bis Film und Literatur. Als prominente Beispiele für eine Ästhetik, die nicht länger mit den Begriffen der Postmoderne erklärt werden kann, wurden u.a. die Hamburger Elbphilharmonie – 2010 im Rohbau -, die Filme von David Lynch  und die Literatur von Jonathan Franzen genannt. Man muss sich schon länger damit befassen, um diese Werke miteinander in Verbindung zu bringen –  sie sind dazu noch mit dem Merkmal  neoromantisch versehen.
Metamoderne ist demnach eine in den 2000er Jahren gewachsene Grundstruktur, die seitdem zu einer dominanten kulturellen Logik vorrangig in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften geworden ist. Vermeulen & Van den Akker  verwenden den Begriff Metamoderne als heuristisches Etikett, um ästhetische und kulturelle Entwicklungen zu erklären, und gleichzeitig auch zu periodisieren.

Die History- Matrix von Lene Andersen (42/43) – erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Die dänische Philosophin und Bildungsaktivistin Lene Andersen unterscheidet (82) in  dem Einführungsband Metamodernity – Meaning and Hope in a Complex World  (6/2019) zwischen Metamodernity und Metamodernism. Während letzterer in etwa den Ausführungen von Vermeulen und van den Akker folgt, verbindet  ihr Begriff von Metamodernity sämtliche vorhergehenden kulturellen Codes: die indigenen, prämodernen, modernen und postmodernen. Indigene Codes können etwa auf eine Verbindung  mit der  Natur verweisen, die wir brauchen, um Kreisläufe wiederherzustellen, so u.a. zur Lösung der Klimakrise. Metamodernity integriert solche kulturellen Codes und bietet so einen Rahmen, uns selbst und unsere Gesellschaften auf komplexe Art zu verstehen, soziale Normen und ein moralisches Gefüge für Intimität, Spiritualität, Religion, Wissenschaft und Selbsterkundung.
In einer History– Matrix (s. Abb.) setzt Andersen universelle Grössen, wie Wissen, Machtstruktur und vorherrschende Narrative in bezug zu Epochen, die nach den jeweils höchst entwickelten Technologien abgegrenzt sind. Derzeit haben wir die Transition von der industriellen Epoche zum ICT Age (Information and Communication Technologies) hinter uns, bald folgt das BINC Age (Bio-, Information-, Nano & Cogno- Technologies.  Vom Aufbau erinnert die Matrix an die von Dirk Baecker (2018), der die zivilisatorische  Entwicklung in vier Medienepochen gliedert und der modernen die nächste Gesellschaft folgen lässt.
Lene Andersen gehört dem Think Tank Nordic Bildung – Better Bildung,  Better Future, an –  sehr deutlich mit dem auf einer breiten Volksbildung basierenden skandinavischen Gesellschaftsmodell verbunden. Ebenso damit  verbunden ist Hanzi Freinacht, Autor von Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics (2019).   Sicherlich sind die kulturell homogenen skandinavischen Gesellschaften in der Entwicklung einer Collective Imaginary -in etwa eine kollektive Zukunftsvision – a Shared Vision of the good society, begünstigt und Vorreiter. Der Anspruch eines von den nordischen Ländern ausgehenden Weges in eine metamoderne Gesellschaft, die die Welt vor einem System- Kollaps bewahrt, zeugt aber auch von Sendungsbewusstsein (vgl. Freinacht). 

Jason Storm – Autor “Metamodernism”

Metamodernism. The Future of Theory von Jason Storm(Chicago) erschien 7/2021 und wurde in Kommentaren teilweise enthusiastisch gefeiert: als Öffnung zu neuen Denkweilten, der Autor schöpfe mühelos  aus scheinbar unendlichen Ressourcen, um die Aufgabe zu bewältigen, die er sich selbst gestellt hat.
Jason Storm  ist Universitätsprofessor, bezeichnet sich selber als Philosopher of the Human Science und ist zugleich Rockmusiker, bis dato eine eher ungewöhnliche Kombination – beim Autorenbild dachte ich tatsächlich an Wild at Heart von David Lynch – Humanwissenschaftler in Rockstar- Pose.  Storm versteht sein Werk selber als ein  First- Order Philosophy mit dem Anspruch für sich allein zu stehen. Kein programmatisches metamodernes Paradigma soll beschrieben werden, sondern das Werk soll einen Paradigmenwechsel auslösen.  Mehr zu diesem ambitionierten Titel in Kürze: ist bestellt und Rezension vorgesehen.

Postmoderne war als Epochenkonzept seit ca. 40 Jahren in Verwendung – langsam verblassend. Ausgangspunkt war 1979 der Essay Das postmoderne Wissen/ La condition postmoderne von Jean- François Lyotard. Sie machte es möglich,  uns selbst, unsere Kultur und unsere Zivilisation von außen zu betrachten, sie zu dekonstruieren, um ihre Teile und ihre inneren Strukturen zu untersuchen. Poststukturalismus, Kontextualität, das Führen von Diskursen sind zugehörige Schlagwörter, ironische Distanz eine verbreitete Attitüde. Der Begriff wurde damals schnell populär, besonders in Philosophie, Kunst und Architektur.  Später wurde der Begriff oft bis zum Überdruss und darüber hinaus verwendet, und weckte so auch immer wieder Gegenreaktionen.
Die Moderne gab uns gleiche Rechte und Chancen, Demokratie, Wissenschaft incl. wissenschaftlicher Medizin, und die Verpflichtung, zu zweifeln und zu denken, ihr verdanken wir den – linearen – Fortschritt als solchen, sie ist untrennbar mit der wissenschaftlichen Revolution verbunden.  Klischeehaft war der Weisse Mann ihr Träger.
Metamoderne Philosophie tritt auf in einer Zeit, in der Internet und Social Media für einen Grossteil der Menschen eine selbstverständliche Umgebung sind. Ausdruck der Zukunftsfragen postindustrieller Gesellschaften, in der immer weniger Menschen an den industriellen Prozesse und der Distribution ihrer Produkte beteiligt sind.  Metamodernism doesn’t just generate mixed feelings – it’s about mixed feelings (Jonathan Rawson).
Zum Metaverse hat Metamoderne übrigens keine direkte Verbindung – wenn nicht eine aktuelle Vorliebe für weit überwölbende Begriffe, die mit Meta gekennzeichnet sind, für beides zutrifft. Parallelen werden zu entdecken sein.

Lene Rachel Andersen: Metamodernity. Meaning and Hope in a Complex World . Nordic Bildung, 2019, 137 S.  Jason Ananda Joseph Storm: Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 2021. Jonathan Rowson, Layman Pascal: Dispatches from a Time Between Worlds. Crisis and emergence in metamodernity. 376 S. 6/2021 Hanzi Freinacht (ein Pseudonym für ein Autoren- Duo) Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics, Book Two (Metamodern Guides, Band 2), 2019  Robin van den Akker, Alison Gibbons, and Timotheus Vermeulen (Eds) Metamodernism: Historicity, Affect, and Depth after Postmodernism (2017) Robin van den Akker, Timotheus Vermeulen: Notes on metamodernism. Journal of Aesthetics & Culture. Vol. 2, 2010  , S. 3- 14. auf youtube: Metamodernity Versus Metamodernism w/ Lene Rachel Andersen  — Metamodernism: The Future of Theory w/ Jason Josephson Storm



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