Fünfzehn Jahre Blog – Digitaler Wandel als Zeitgeschichte

Durchblick – Bild: unsplash +

Fünfzehn Jahre sind ein Abschnitt der Zeitgeschichte. Solange betreibe ich jetzt diesen Blog – mittlerweile sind es knapp 200 Beiträge. Startpunkt war das Netnocamp bei der IHK Köln im September 2010.
Vorausgegangen war eine mit  Dreamweaver erstellte Website,  noch im Tabellen- Layout,  einige ältere  Texte (hier zu lesen) von dort habe ich übernommen .
Blogs waren einmal ein Kernstück der neuen digitalen Öffentlichkeit, man sprach von einer Netzkultur, bevor Social Media Plattformen diese Öffentlichkeiten übernahmen. 
Blogs bedeuten aber weiterhin die Unabhängigkeit, eigene Themen zu setzen, eine Personenmarke aufzubauen. Im besten Falle ein Autorenmedium, das eigenständige Publikation mit der Möglichkeit von  Vernetzung,  Diskussion und Akquise verbindet.
Den Titel Netnographie & Digitaler Wandel hatte ich damals adhoc vergeben. Die Themen haben sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, abhängig von der Entwicklung der digitalen Welt und den eigenen Schwerpunkten. Durch den ganzen Blog zieht sich ein differenzierter soziologischer Blick auf die mit technischen Innovationen verbundene gesellschaftliche Entwicklung der  letzten Jahrzehnte – geschrieben in  einem essayistischen Stil.

Netnographie war 2008 / 2010 ein Thema der Stunde und schien als die der neuen Digitalen Öffentlichkeit angemessene Forschungsmethode.
Popularkultur hatte sich ins Internet verlagert. Digitale Subkulturen, neue Formen von Vergemeinschaft und ihre Bedeutung für das Marktverhalten standen im Vordergrund. Das Interesse an Netnographie entwickelte sich in diesem Zusammenhang rasch. Im Handbuch der Online- Forschung (2014) konnte ich einen längeren Beitrag dazu veröffentlichen. Eine Reihe kleinerer Beispiele (so zu Vegan, Overtourismus, Fairtrade) sind im Blog dokumentiert.
Fun- Fact: eine Zeitlang wurde ich oft von Studenten zu ihrer Abschlussarbeit kontaktiert, aber nie aus der Soziologie oder verwandten Fächern, so gut wie  immer aus der BWL.
Ganz durchsetzen konnte sich Netnographie in der deutschsprachigen Forschungslandschaft nicht. Der Name weckt Erwartungen auf einfache Art Consumer Insights zu gewinnen – eine eher technische, instrumentelle Sichtweise. Die Unterscheidung zum Monitoring, heute meist Listening genannt, fällt in der Praxis oft schwer, obwohl Monitoring auf datenbasierte Sammlung abzielt und Netnographie auf kulturelle Analyse.
Netnographie entstammt der Kulturanthropologie– ethnographic fieldwork im digitalen Raum. Mit einer Verankerung in den Diskursen der Consumer Culture Theory bzw. der Cultural Studies. Im deutschsprachigen Raum fehlt dieser Kontext oft.
Netnographie fällt so etwas zwischen die Stühle: Zu weich für datengetriebene Marktforschung, zu anwendungsorientiert für reine Kulturwissenschaft, zu anthropologisch für die deutsche Soziologie.
Die Entwicklung von Netnographie verfolge ich weiter, der aktuelle Stand ist nachzulesen.

Bild: Getty Images- unsplash+ +

Digitaler Wandel  und Digitale Transformation werden oft gleichgesetzt, bezeichnen aber Unterschiedliches. Wandel ist der allgemeinere Begriff für Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit vollziehen. Transformation hingegen meint tiefgreifende, strukturelle Umbrüche, bei denen Systeme, Institutionen und Praktiken neu gestaltet werden. Beide Begriffe markieren Leitlinien der Zeitgeschichte, in der technologischer, medialer und gesellschaftlich-kultureller Wandel eng miteinander verflochten sind.

Schübe der Digitalisierung wurden nicht erst mit dem Internet spürbar.  Bereits  Desktop- Publishing (etwa um 1990) war ein Schlüsselimpuls der digitalen Revolution im Medienbereich. Der Cyberspace, wie man damals das Internet nannte, wurde als experimenteller  Raum erlebt.
Zumindest zeitweise setzte sich das freie Internet der offenen Standards gegenüber einem Internet der Konzerne (damals das Netz der Portale) durch. Es blieb prägend für eine Kultur der Digitalität, in der sich die  Vorstellung eines gemeinsamen, dezentralen gesellschaftlichen Projektes herausbildete.  Das Web 2.0 war mit einer basisdemokratischen Aufbruchsstimmung verbunden, auf die bis heute immer wieder bezug genommen wird.

Seitdem haben eine ganze Reihe technischer Innovationen die digitale Entwicklung angetrieben, Das mobile Internet veränderte die Alltagskommunikation massiv, und ist heute kaum noch wegzudenken. Social Media kanalisierte die online- Kommunikation, machte  sie auslesbar.
Das Metaverse (2021/22) wurde v.a. von Konzernen angetrieben, fand aber letztlich in dieser Form keine ausreichende Resonanz. Der Entwurf eines räumlichen Internet setzt sich aber im Spatial Computíng fort. KI ist seit dem Start von ChatGPT Ende 2022 ein dominierendes Thema –  mit  noch nicht überschaubaren Wirkungen und Folgeerscheinungen.

Die Pandemie 2020/ 21  bedeutete einen grossen Einschnitt.  Unter welchen Bedingungen konnten sich digitale Medien mehr bewähren, als unter denen einer physischen Kontaktsperre? Ohne digitale Medien, wie Videochats, Live- Streaming etc. hätte sich kaum eine öffentliche Sphäre aufrecht erhalten lassen. Der kurzlebige Hype um Clubhouse im Corona- Winter 2021 verdeutlichte um so mehr eine Sehnsucht nach Austausch und Vernetzung, gerade in medienaffinen Branchen.

Der wahrscheinlich entscheidendste Einschnitt der letzten 15 Jahre war aber nicht Corona, auch nicht KI und sicher nicht das Metaverse, sondern die Landnahme der Plattformen, (sehr gut beschrieben von Michael Seemann in  Die Macht der Plattformen).  Sie bedeutete den Wechsel von einer offenen, dezentralen Innovationslogik (bottom-up) hin zu einer stärker kontrollierten, durchplanten und von wenigen zentralen Akteuren dominierten Struktur (top-down).
Es entstand ein – eingeschränkt – globaler Informationsraum mit zentraler Infrastruktur. Plattformen agieren darin als Intermediäre – sie vermitteln zwischen Nutzern und Anbietern und regulieren Zugang, Sichtbarkeit und Interaktion. Diesen Intermediären – den Big Tech-Giganten ebenso wie zunehmend den großen KI-Systemen – kommt faktisch eine Ordnungsmacht zu. Entscheidend ist die umfassende Erhebung, Auswertung und algorithmische Verarbeitung aller verfügbaren Daten.

Der Wandel bedeutet nicht den Übergang in einen neuen, stabilen Zustand, sondern verläuft kontinuierlich weiter – mit neuen Chancen und neuen Konfliktlinien. Wenig vorhersehbar in seinen konkreten Ausprägungen, aber in seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen erklärbar.

Der Begriff Transformation geht zurück auf Karl Polanyis Konzept der Großen Transformation (1944) in dem  gesellschaftliche Umbrüche nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische und kulturelle Prozesse verstanden werden Diese kontinuierliche Transformation ist durch die Verzahnung technischer, kultureller und politischer Entwicklungen gekennzeichnet.  Polanyi wie auch Norbert EliasProzesssoziologie  können als fruchtbare Ansätze dienen, die sich auf aktuelle Entwicklungen übertragen lassen. Sie zeigen, wie sich in langfristigen Prozessen technologische Innovationen, ökonomische Interessen und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse wechselseitig bedingen.

Mit der Prozesssoziologie von Norbert Elias hatte ich mich  seit dem Studium befasst, immer wieder fasziniert von dem Gedanken, sie auf laufende Entwicklungen zu beziehen. Neben die bei Elias herausgestellten Prozesse der Sozio- und Psychogenese – der Herausbildung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen lässt sich Technogenese hinzufügen – die wechselseitige Prägung von Technik und Kultur. Technische Infrastruktur/ Technokultur haben heute eine ganz andere Bedeutung für die gesellschaftliche Binnenstruktur als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Diese Prozesshaftigkeit – nicht die Wirkung einzelner Technologien, sondern ihre gesellschaftliche Einbettung – ist das eigentliche Über- Thema dieses Blogs. 

Die Relevanz soziologischer Theorien für das Verständnis der digitalen  Gegenwart habe ich in einem (verlinkten) Beitrag zusammengestellt. Darunter  auch  solche, die sich auf die Luhmannsche Systemtheorie beziehen, sowie die  Arbeiten von Andreas Reckwitz. Hinzuzufügen wäre noch die Bedeutung von Michel Maffesoli für das Konzept der Online- Tribes

Im letzten Jahr dominierten zwei Themen: KI/ AI und  die politischen Verwerfungen seit November 2024. Bei letzteren verweise ich auf meine Rezension zum Cyberlibertarismus und den  ausführlichen Text Tech- Faschismus – Ein Mash-Up als Machtsystem.

KI ist  seit knapp 3 Jahren ein geradezu epochales Thema. KI wird in der Breite genutzt, wahrscheinlich von vielen mehr, als offen zugegeben wird., Gleichzeitig ist sie ein boomendes Feld der Beratungs- und Fortbildungswirtschaft, steht aber auch in der Kritik als Piraterie des Wissens, Vermüllung des Internet und als Instrument neo- autoritativer Herrschaft. Im Unterschied zum Internet, das sich, zumindest zeitweise, bottom- up verbreitete, ging KI  von vornherein von einzelnen, grossen Konzernen aus. Die Perspektive der Anwender und Betroffenen – eine Sicht von unten– findet in der Debatte wenig Raum.
Das Buch von Frank Witt vermittelte mir mit dem markanten Bild der Sozialisation von Maschinen eine neue Sichtweise auf KI.  Mit dem Autor konnten wir kürzlich eine Buchvorstellung im Kölner Startplatz veranstalten, an die sich möglicherweise eine weitere Zusammenarbeit anschließen kann.

In meiner eigenen Arbeit habe ich zwei Begriffe zugespitzt:  Automatisierte Singularisierung soll die Paradoxie fassen, wie KI-Systeme massenhaft die gewünschten Einmaligkeiten produzieren – angelehnt an die Theorie der Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz. Gemeint ist die gezielte Erzeugung individueller Produkte und Erlebnisse auf Basis von Verhaltensdaten und Präferenzen. In eine ähnliche Richtung geht die derzeit viel diskutierte Erzeugung synthetischer Daten in der Marktforschung.
Der Begriff Consociality/ dt. Consozialität  stammt nicht von mir, aber ich habe ihn gern aufgegriffen. Gemeint ist etwas, was es schon immer gab, aber erst in der digitalen Sozialität  zentrale Bedeutung erlangt: Die Verbindung einzelner Menschen über punktuelle Übereinstimmungen und Interessen – situative digitale Ko-Präsenz jenseits stabiler Gemeinschaften. Ein Kollege nannte es  scherzhaft #Hashtag Soziologie, als ich das Konzept damit erläuterte. 

Soziologie löst keine Probleme, legt aber Zusammenhänge offen und macht so gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Entwicklungen erklärbar.
Genau darin liegt ihr Nutzen: Entwicklungen der Zeitgeschichte erklärbar zu machen, Aha-Erlebnisse zu erzeugen und zum Weiterdenken anzuregen – nicht durch Vereinfachungen, sondern durch begriffliche Schärfung. Gefreut hat mich, dass 2x Beiträge aus dem Blog den Weg in Schulbücher fanden – nicht für Sozialwissenschaften, sondern für Deutsch in der Oberstufe – eine Anerkennung der sprachlichen Qualität.

Die selbstverständliche Nutzung von Blogs zur Diskussion hat nachgelassen. Sie ist längst abgewandert in Social Media, v.a. zu LinkedIn. Deshalb hier mein Account: https://www.linkedin.com/in/kjanowitz/
Der Titel Netnographie & Digitaler Wandel war anfangs eine pragmatische Benennung – ob er bleibt oder sich ändert, hängt davon ab, welcher Begriff künftig am besten  trifft



Automatisierte Singularisierung – KI und die Herstellung von Einmaligkeit

Singularität:In der Soziologie eine kulturell entstandene Einmaligkeit   – Technologisch ein hypothetischer Punkt, an dem KI die menschliche Intelligenz übertrifft und sich selbst verbessert – bishin zu einem “Point of no Return” Bild: Midjourney

Singularisierung ist ein Konzept aus der Soziologie, das mit Andreas Reckwitz und seinem (Haupt-) werk Die Gesellschaft der Singularitäten  (2017) verbreitet wurde. Vorweg: Der soziologischer Begriff Singularität unterscheidet sich von dem in der KI – Technologie – (s.u. und vgl. die Bildunterschrift re.).

Reckwitz beschrieb die Transformation moderner Gesellschaften von der industriellen Moderne zur  Spätmoderne.
Er spricht von einem kulturellen Kapitalismus, in dem sich eine Öffnung der Lebensformen mit wachsender Bedeutung symbolischer Güter und individueller Selbstentwürfe verbindet.
Historischer Rahmen ist der Wandel der von Massenproduktion geprägten industriellen Gesellschaft zur postindustriellen Ökonomie, in der sich nicht nur die Arbeitswelt transformiert.
Märkte differenzieren sich zunehmend entlang von Lebensstilen, Geschmack,  kulturellen Präferenzen und den entsprechenden Zielgruppen.
Insbesondere in den innovationsgetriebenen Branchen (Wissens- u. Kulturökonomie, Digitales) treten Projektstrukturen und Netzwerke an die Stelle der hierarchisch- arbeitsteiligen Matrix.
Die Technik und die Organisation der Industriegesellschaft wirkt standardisierend, die digitale Technologie der Spätmoderne singularisierend.

Massenproduktion, Vereinheitlichung, Normierung, das Streben nach Effizienz bestimmt die Logik der Standardisierung in der Industriegesellschaft.  Individuelle Präferenzen werden an das verfügbare Angebot angepasst, nicht umgekehrt. Auf individueller Ebene gilt Anpassungsdruck mit entsprechenden Verhaltenserwartungen.

In der Logik der Singularisierung werden Einzigartigkeit, Authentizität und individuelle Bedeutung zu zentralen Werten. Aber erst die Digitalisierung schafft die technischen Voraussetzungen für ihre massenhafte Verbreitung – dazu im weiteren mehr. Produkte, Erlebnisse und Identitäten werden mit symbolischer Bedeutung aufgeladen und in Narrative eingebunden – Storytelling wird etwa zum typischen Marketing-Element.
Diese Logik wirkt auf vielen gesellschaftlichen Ebenen: Sie zeigt sich im individualisierten Konsum- und Reiseverhalten, aber auch im Wandel sozialer Strukturen, wie sie sich z.B. im langsamen Verschwinden klassischer Milieus, bis hin zu dem der Bürgerlichen Mitte Reckwitz bezieht sich dabei immer wieder auf die Sinus- Milieus.
Ein anderes, einfaches Beispiel sind ehemals kollektive Medienerlebnisse, nicht nur Fussball WM und Mondlandungen, auch Serien und TV- Shows waren in vergangenen Jahrzehnten oft Strassenfeger, die einen Grossteil der Gesellschaft an einem, oft so genannten Lagerfeuer vereinten.
Heute kommen solche kollektiven Gemeinschaftserlebnisse evtl. noch bei grossen Fussballmatches vor. Medienöffentlichkeiten sind ansonsten
weitgehend fragmentiert. Verbindende Momente finden sich eher in spezifischen, meist wenig beständigen Interessensgruppen (vgl. Tribes).

Reckwitz’ Gesellschaftsanalyse, ihre längerfristige Gültigkeit und Anschlussfähigkeit an andere Theorien soll jetzt nicht weiter vertieft werden (vgl. dazu die Verweise unten). Es geht um das Konzept der Singularitäten und die Wirksamkeit ihrer Logik in den Zeiten von KI. Wie entsteht Einmaligkeit unter diesen Voraussetzungen, wie wird sie erlebt, wie wird sie hergestellt und wie wirkt sie?
Der Begriff Serielle Singularitäten benennt diese Spannung zwischen Masse und Einzigartigkeit  präzise. Reckwitz erwähnt ihn zwar kurz (S. 135 – tatsächlich im Zusammenhang mit Serien wie Downton Abbey oder Breaking Bad),– führt ihn aber nicht weiter aus. In einem Podcast von 2021 Digitalisierung und Singularisierung thematisiert er den Zusammenhang,  seither hat sich das Phänomen jedoch erheblich ausdifferenziert – und es stellt sich die Frage, ob KI-basierte Systeme neue Formen automatisierter Einmaligkeit erzeugen.

Singularisierung kann sich auf Dinge/ Produkte, Prozesse und Personen, auch auf Erlebnisse beziehen. Entscheidend ist das Erlebnis der Einmaligkeit (**vgl. die Definition unten).
Singularität in ihrer traditionellen Form bleibt allerdings personalintensiv und damit teuer – sei es als handwerklich erzeugtes Unikat, in Form individuell zugeschnittener Beratungsleistungen etc.  Sie ist nur begrenzt verfügbar und wird oft als besonderes Privileg wahrgenommen.
Singularitäten sind nicht zwangsläufig mit Status verbunden. Vielmehr geht es um die symbolische Aufladung von Objekten oder Prozessen – die Valorisierung in den Augen des Einzelnen und seiner sozialen Umgebung. Nach Bourdieu gesehen, zeigt sich so die Dimension des kulturellen Kapitals –das nicht mit Statusgütern identisch ist, sich aber mit ihnen überschneiden kann.
Anschauliche Beispiele für ein Revival handwerklich erzeugter singulärer Produkte finden sich als Craft Beer- Brauereien,  Kaffeeröstereien, Bäckereien, die sich auf wenige ausgewählte Produkte beschränken etc. –  manchmal werden sie als einer Hipster Kultur zugehörig zusammengefasst.
Singularisierung zeigt sich nicht nur in diesen Nischenmärkten sondern auch in der Differenzierung von Massenprodukten.

Automatisierte Singularisierung koppelt die soziologische Gesellschaftsdiagnose mit den technischen Möglichkeiten der digitalen bzw. der KI- Ära. Erst Digitalisierung bietet die technischen Voraussetzungen für die massenhafte Verbreitung der Singularisierungslogik – ohne die digitale Vermessung der Welt ist sie nicht denkbar.
Digitalisierung macht das Einzigartige messbar und verwertbar. Die Einmaligkeiten/ Besonderheiten  einzelner Menschen werden adressierbar. Aus jeder individuellen Präferenz, aus jedem besondere Verhalten werden Daten generiert, die wiederum neue Formen von Singularisierung ermöglichen. Der digitale Fußabdruck wird selbst zum Marker der Einzigartigkeit.
In der digitalen Ökonomie wird Singularisierung zur Geschäftsgrundlage: Daten über individuelle Präferenzen ermöglichen zielgerichtete Werbung und die Vermarktung einzigartiger Erlebnisse. Digitalisierung macht Singularisierung skalierbar und eröffnet neue Geschäftsfelder – genauso ermöglicht sie neue Gestaltungen.  Die Weiterentwicklung ist eine politische Frage.
Während die bislang vorherrschenden Plattformen hauptsächlich auf gesammelte Daten reagieren, schaffen KI-gestützte Tools hochgradig personalisierte Erlebnisse durch Datenanalyse und das Lernen aus  Nutzerverhalten. KI kann Präferenzen antizipieren, bevor diese bewusst geäußert werden – ein standardisiertes System, das auf Millionen von Parametern basiert.

KI-Systeme haben sich das Wissen der Welt einverleibt. Bild: unsplash unlimited-  Gustavo Reyes

Nirgends kommt man dem Konzept der automatisierten Singularisierung näher, als in einem Chat- oder Gesprächsverlauf mit KI. Jede Antwort entsteht neu, basierend auf einem spezifischen Input: die Nuancen der Fragen, die Denkweise des Nutzers – all das fließt in die Antworten ein und schafft eine individuell zugeschnittene, singuläre Interaktion.

In der Aufmerksamkeitsökonomie  treten Singularitäten miteinander in den Wettbewerb.  Es kommt darauf an, jedem Nutzer das Gefühl zu geben, besonders adressiert zu werden.  KI-basierte Anwendungen ermöglichen es, spezifische Prozesse zu automatisieren, indem sie individuell angepasste Lösungen bieten, die gezielt auf die Präferenzen und Verhaltensmuster der Nutzer eingehen. So entsteht die Wahrnehmung einer  einzigartigen Ansprache – eine Verstärkung der Singularisierungslogik durch die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung. Social Media Plattformen werden zu Bühnen  des Personal Brandings und des Storytelling.

Lange Zeit war Digitalisierung in den Zukunftsdebatten eindeutig positiv besetzt. Die Vorstellung, dass Technologie und ihre Gestaltung das Leben verbessert und alle Menschen daran gleichberechtigt teilhaben können, dominierte die Diskussion.

Heute  überwiegt ein skeptischerer Blick. Das hat sicherlich mit Machtballungen – Stichwort BigTech – und den politischen Verwerfungen v. a. des letzten Jahres zu tun. Es sind aber zwei Verhalte: Die technisch/ gesellschaftlichen Möglichkeiten und ihre Aneignung.
Automatisierte Singularisierung ist kein neutraler technischer Prozess, sondern ein politisch umkämpftes Feld. Die Frage ist nicht, ob sie stattfindet, sondern wer sie kontrolliert und zu welchen Zwecken sie eingesetzt wird. Das macht die gesellschaftspolitische Dimension des Konzepts deutlich.

Automatisierte Singularisierung oder Singularisierte Automatisierung? Der Begriff lässt sich drehen – und damit gelangen differenzierte Bedeutungen in den Vordergrund. In der Variante Singularisierte Automatisierung, geht es um die Anpassung bestehender Prozesse,  in denen Automatisierungsprozesse individuell und singulär gestaltet werden.  Automatisierung wird nicht mehr als Massenphänomen verstanden, sondern als eine individuell zugeschnittene, unverwechselbare Lösung.
Automatisierte Singularisierung beschreibt hingegen eine neue Qualität, in der mit technischen Systeme aktiv Singularitäten generiert werden. Diese Form der Automatisierung schafft nicht nur maßgeschneiderte Prozesse, sondern stellt die Produktion von Einmaligkeit selbst in den Mittelpunkt.

Letztlich bietet Automatisierte Singularisierung eine größere analytische Reichweite für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Gemeint ist hier, dass das technische System aktiv Einzigartigkeit stiftet, also gesellschaftliche, kulturelle oder individuelle Besonderheit algorithmisch hervorbringt.

Zur Übersicht: Eine KI-generierte Gegenüberstellung von automatisierter Singularisierung und standardisierter Automatisierung als ihrem Gegenmodell:

Mass Customization, ein Schlüsselkonzept der Industrie 4.0, ähnelt auf den ersten Blick der Logik der Singularisierung – bleibt jedoch auf der Produktebene und im Rahmen standardisierter Prozesse.
Bekannt ist das Prinzip etwa von Websites mit Konfiguratoren: Nutzer:innen können Produkte nach individuellen Vorlieben anpassen – etwa Regalsysteme, Küchenzeilen, Sneakers mit variabler Sohle, Schnürung und Farbgebung oder der individuelle Mix zur Haartönung. Auch passgenaue Versicherungsangebote oder modular zusammensetzbare Reisepakete folgen diesem Muster.
Im Zentrum steht die automatisierte Kombination vorgegebener Module: eine wunschgemäße Rekombination vordefinierter Bestandteile bzw. flexibler Tarifstrukturen.

Singuläre Erlebnisse in VR? Bild: unsplashed+

Lässt sich das Konzept Automatisierte Singularisierung auch auf  VR- Realitäten  anwenden? Singuläre Erlebnisse müssen mehr leisten als nur das automatisierte Bereitstellen vordefinierter Inhalte oder vorstrukturierter Programme. VR kann über die bisherige Personalisierung hinausgehen, indem es nicht nur Inhalte individualisiert, sondern ganze Erfahrungsräume. Die narrative Aufladung ist zentral: VR ermöglicht es, dass Nutzer nicht nur passive Empfänger sind, sondern aktiv Bedeutung schaffen.  Entscheidungen im virtuellen Raum werden zu persönlichen Erzählungen.
Moderne VR-Systeme können tatsächlich biometrische Daten wie Herzschlag, Augenbewegungen oder Stresslevel in Echtzeit erfassen und die virtuelle Erfahrung darauf anpassen.
Das stellt eine besonders fortgeschrittene Form der automatisierten Singularisierung dar – eine, die nicht nur Vorlieben oder Profile, sondern unmittelbare emotionale Zustände berücksichtigt. Der Nutzer kann so vom Konsumenten zum Gestalter seiner eigenen, einzigartigen Geschichte werden. Letztlich zählt auch hier am Ende das Erlebnis.

Automatisierte Singularisierung öffnet als Begriff neue und kompakte Einsichten.  Er verbindet soziologische Gesellschaftsanalyse mit aktuellen Diskursen zu Technologie  und KI.  Er macht komplexe gesellschaftliche Transformationen in einem Konzept greifbar. Statt vage von Individualisierung oder Personalisierung zu sprechen, präzisiert er den spezifisch technologischen Charakter der Entstehung von Singularität. Automatisiert macht den Unterschied zu früheren Formen der Individualisierung deutlich.

Rezensionen zu Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (2017), Das Ende der Illusionen (2019)  und Soziologie im Duett – Reckwitz & Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? – Eine Kurzfassung der Gesellschaft der Singularitäten ist im  Journal für politische Bildung 1/2019 nachzulesen.
**Singularisierung kann sich auf Dinge, Prozesse und Personen beziehen, die nicht mehr nicht mehr als austauschbare Exemplare einer Kategorie behandelt werden, sondern als einzigartige Entitäten, die innerhalb sozialer Praktiken als besonders wahrgenommen und bewertet werden. (vgl. Reckwitz, 2017)
Nils Kumkar und Uwe Schimank: Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Diagnose der »Spätmoderne«
Diagnose der »Spätmoderne« Leviathan, 49. Jg., S. 7-32, 2021 und Researchgate.



Bloggen im Netz der Plattformen

So stellt sich Chat GPT ein Bloggercamp vor

Kürzlich (29.11.) war ich bei der Bloggerkonferenz, einem Mini-Online-Barcamp, das dann  so mini gar nicht war:  >60 TeilnehmerInnen hatten sich eingeloggt – die meisten davon aktive Blogger, darunter eine ganze Reihe bekannter Gesichter. Trotz aller Wendungen eine markant resiliente Szene.

Im Netz der Plattformen bilden Blogs eine winzige Nische, die oft mit rückläufigen Besucherzahlen und oft schwieriger Sichtbarkeit in Suchergebnissen zu kämpfen hat.
Andererseits bedeuten sie die Unabhängigkeit, Themen frei zu setzen, eine Personenmarke aufzubauen.

Es gab eine Zeit, in der Blogs und ihre Betreiber auf breites gesellschaftliches Interesse stießen. Blogs waren eine der ersten Möglichkeiten für Einzelpersonen, ohne allzu großen technischen Aufwand Inhalte im Internet zu veröffentlichen und zu teilen, Publikation in Eigenregie – ohne Gatekeeper.
Blogger waren Pioniere einer neuen, digitalen  Öffentlichkeit. Netzgemeinschaft war die Selbstwahrnehmung, man verstand sich als Bewegung. Damit verbunden waren Vorstellungen einer partizipatorischen Kultur und eine Utopie der vernetzten Gesellschaft mit freiem Zugang zu Wissen für alle.
Der Begriff Blogosphäre klingt heute befremdlich  – zeitweise wurde der entstehende vernetzte Raum so genannt, bis sich der zugkräftige Begriff  Web 2.0 durchsetzte.

Inhaltlich waren die frühen Blogs oft unspezifisch, eine Mischung aus persönlichem Tagebuch und Experimentierfeld für digitale Kommunikation. Es ging um Sichtbarkeit, Vernetzung und das Verstehen von Mechanismen öffentlicher Präsenz im virtuellen Raum.
Blogger erwarben Vorsprungswissen: Sie lernten, wie Reichweiten erzielt werden, was es braucht Reputation aufzubauen, wie man digitale  Öffentlichkeiten aufrecht erhält. Kein Wunder, dass aus Blogs PR- und Online-Kommunikationsberatungen hervorgingen. Andere Themenfelder waren solche mit hohem Unterhaltungswert: Reisen, Essen & Trinken,  Mode, Sportarten.  Genau die Themen mit höchst individuellem Konsumverhalten.

Von einer Netzkultur sprach man noch ziemlich lange. Plattformen wurden zunächst als Erweiterungen von Reichweite und Vernetzungsmöglichkeiten begrüsst, ganz besonders wurde #Twitter als Turbo von Reichweiten und thematischer Bündelung erlebt. Irgendwann ging  diese Utopie verloren.

Was ist die Zukunft des Bloggens und hat Bloggen eine Zukunft? –  war das Motto des Vormittags – und soll sich darüber hinaus fortsetzen.
So mikroskopisch gering der Anteil von Blogs am gesamten Online- Traffic ist, so sehr verkörpern sie die Ideen, den Spirit des Social Web:  Vernetzung, Begegnung im digitalen Raum. Blogs sind das Autoren- Medium schlechthin. Sie bieten die Möglichkeit des Aufbaus einer Personenmarke – eine Monetarisierung des Engagements auf Umwegen.

Erfahrungen überschneiden sich oft: Vernetzung und Sichtbarkeit bleiben zentrale Anliegen – im Netz der Plattformen herrschen andere Bedingungen, als sie es einmal waren. Dennoch bleiben Möglichkeiten des Social Web bestehen, die sich nutzen lassen! Einfach mal Blogposts kommentieren, zitieren, Gedanken aufnehmen und weiter entwickeln!

Verteilung des Online- Traffic 2023 – Andrée S. 250

Vorab gab es Impulsbeiträge, zwei davon von Autoren aktuell diskutierter, sehr eindringlicher Bücher zum Thema:  Martin Andrées Big Tech muss weg ist mittlerweile Pflichtlektüre, wenn es um die Medienmacht von BigTech geht, auch in diesem Blog nachzulesen.
Die Graphik rechts zeigt etwas vereinfacht die Verteilung des Online- Traffic: Der allergrösste Teil  davon entfällt auf die wenigen dominierenden Plattformen.

Das Ende von Social Media wurde schon des öfteren proklamiert. So gibt es seit einiger Zeit die These des Auseinanderfallens in zwei verschiedene Funktionslogiken:  Soziale Interaktion, die zunehmend in geschlossenen digitalen Räumen stattfindet und massenmediale Kommunikation.  Letztere ist das Hauptgeschäft im Netz der Plattformen.

Vernetzte Öffentlichkeit – Graphik erstellt mit Touchgraph (2012)

Dominik Ruisinger ist Autor von Das Ende von Social Media – ein Buch, das  noch auf meiner Leseliste steht. Gemeint ist der Verlust der sozialen Ebene: Social meinte eine vernetzte Öffentlichkeit.  Social Media waren gedacht, Menschen an digitalen Orten zusammenzubringen. Die Idee des aktiven Austausches ist erodiert durch algorithmische Filter, durch KI-Content, durch passives Entertainment, durch polarisierende Inhalte (Ruisinger). Der InterestGraph hat den Social Graph abgelöst. Social Graph meint das Netzwerk von Beziehungen und Verbindungen zwischen Personen und Objekten innerhalb von sozialen Netzwerken

Social Media haben tatsächlich die Welt verändert. Die Geschichte des Internet und der digitalen Öffentlichkeit ist Kulturgeschichte des 21. Jahrhunderts. Blogs spielten dabei als ein Basismedium digitaler Öffentlichkeit eine Rolle- nicht als einzelne, sondern als Publikationsform in einem partizipatorischen Netz.
Die digitale Öffentlichkeit wuchs zu der für aktuelle Gesellschaften entscheidenden Öffentlichkeit heran. Die Hoheit über darüber ist ein wesentlicher Machtfaktor. Zunächst war sie als vernetzt, hierarchie- frei, divers gedacht. 
Heute ist das Netz der Plattformen die dominante Massenkultur des 21. Jahrhunderts, so wie es TV von den 60ern bis in die 90er Jahre war, das Radio in der Zeit davor. Eine Massenkultur mit ihren eigenen Möglichkeiten von Machtkonzentration und  Manipulationen. Machtkonzentration in der digitalen Öffentlichkeit wird  vielfach  als Gefahr für die Demokratie gesehen.
In dem – etwas wenig beachteten –  Buch Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen   (Gebauer & Rücker, 2019) ist von  individualisierten Massen  die Rede – genau das hat sich im Netz der Plattformen verwirklicht. Serviert wird jedem Teilnehmer ein ganz eigenes – algorithmisch gesteuertes – Programm.

Menschen an einem digitalen Ort zusammen zu bringen bedeutet Begegnung – so lässt sich eine Brücke schlagen zum Konzept Demokratie braucht Begegnung Digitale Räume sind sicher nicht dasselbe wie realweltliche Räume, aber sie haben das Potenzial, Orte von Begegnung zu sein,  Demokratie zu stärken. Ob sie das sind, hängt von ihrer jeweiligen Beschaffenheit und dem Engagement ab. Im (Blogger-) Barcamp wurde auch das Verschwinden lokaler Öffentlichkeiten thematisiert – eine weitere Parallele.

Stellt man Bloggen in einen weiteren Rahmen, lassen sich Zusammenhänge zu einer breiteren Bewegung zum Rückgewinn Digitaler Souveränität erkennen. Über die Graphik rechts ist der Zugang zu einer Roadmap Reclaiming Digital Sovereignty verlinkt.  Für sich allein genommen, sind Blogs fast schon digitale Folklore – in einem grösseren Bild Teil einer demokratischen digitalen Öffentlichkeit. Blogs bleiben  weiterhin ein Medium im digitalen DiskursDemokratie  erfordert dauerhaften Einsatz – der aktuell besonders erfordert scheint.

Veranstaltet wurde das Mini-Online-Barcamp von Daniela Sprung und Thomas Riedel. In näherer Zukunft vorgesehen sind ein Termin auf der re: publica (5/25). Bis dahin besteht auf folgenden (nicht- spezifischen)  Barcamps die Möglichkeit zum Austausch. Ansonsten: Die Funktionen des Social Web gibt es noch, und sie lassen sich nutzen ;-).

vgl..: Martin Andree: BIG TECH muss weg. Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft. Wir werden sie stoppen. Campus Verlag. 2023.  Vortrag–zum Download: Wie digitale Monopole den Journalismus zerstören und die Demokratie bedrohen.   Dominik Ruisinger: Das Ende von Social Media. Warum wir digitale Netzwerke neu denken müssen. 4/2024.
Zum Bloggercamp: Thomas Riedel „Zukunft Bloggen!?“ – Ein Mini-BarCamp – Johannes Mirus: Aus dem Leben.  Barcamp Zukunft Bloggen – Martin Andrée – Vortrag (Video)   Markus Pflugbeil: https://www.pflugblatt.de/zukunft-bloggen-barcamp/
Gunter Gebauer & Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. DVA, München 2019.  345 S. (Rezension)

 

 



Code & Vorurteil – KI und die Nebenwirkungen

KI ist im zweiten Jahr des Hype, mit einer gewissen Verzögerung  auf dem Buchmarkt.
In Code & Vorurteil über künstliche Intelligenz, Rassismus und Antisemitismus geht es um Nebenwirkungen der KI. Ein Sammelband mit 18 Einzelbeiträgen + Glossar. Mit Schwerpunkten zum Verhältnis KI zu  strukturellen Ungleichheiten, Fake & Unfake, Kontrolle. Herausgeber ist die Bildungsstätte Anne Frank, ein Bildungszentrum gegen Gewalt und Diskriminierung mit historisch-politischer Bildungsarbeit mit Sitz in Frankfurt (ganz in der Nähe des Geburtshauses von Anne Frank) und Kassel.

Die Verbreitung von KI wird oft mit anderen technologischen Innovationszyklen verglichen, zumeist älteren Stufen der digitalen Revolution- manchmal aber auch mit früheren folgeträchtigen Innovationen, wie der Elektrizität.
Unter KI wurden immer wieder ziemlich unterschiedliche Dinge verstanden, der Begriff hat sich aber durchgesetzt. Auch hier geht es v.a. um generative KI, die auf der Grundlage von Trainingsdaten, nach Anweisung/ Promptings neue Texte, Bilder, Videos – und noch einiges mehr generieren kann.  Auf Nachfrage einer treffenden Selbstbezeichnung nennt sich ChatGPT selber sprachgesteuertes maschinelles Lernmodell.
 Werden mit KI gesellschaftliche Ungleichheiten fortgeschrieben?,  Wer hat den Nutzen von der gewonnenen Effizienz?, Kann KI unter den bestehenden Umständen zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen?, Wie gerecht sind automatisierte Entscheidungssysteme? Es geht um die Detektion antisemitischer und rassistischer Codes, daran anschliessend die strategische Frage, ob KI- Systeme Verbündete im Kampf gegen Ungleichheit sein können?
Zusammengefasst als die Frage, die die Herausgeber bewegt: Wie können Politische Bildung und kritische Zivilgesellschaft einen guten Umgang mit den neuen KI-Tools und ihren Auswirkungen finden? oder auch: Können technische Systeme Probleme lösen, die im Kern sozial und politisch sind? – Um diese Dimension der KI- Diskussion geht es in den  Beiträgen.

Einige der Autoren sind mir von anderen Quellen  bekannt:
Jürgen GeuterPseudonym @tante, hat sich einen Namen als Kritiker, als Gegensprecher von Hypes gemacht – man kann auch sagen als markanter De- Bullshitifyer. Im Falle Web3 lieferte er die letztendlich entscheidenden Argumente, zusammengefasst als das Internet, das es zu verhindern gilt, einen antipolitischen Raum zur Kapitalakkumulation.
Auch in den Diskussionen zu Metaverse und KI nimmt @tante die Rolle des Kritikers ein. Daten beschreiben die hegemoniale Sicht auf die Welt und ihre Strukturen (81) – ist in etwa seine hier vertretene Grundansicht. Generative KI kennt nur die gelernten Daten und zwängt alles in bekannte Muster ´– reduziert so Diversität und verstärkt einen digitalen Mainstream. Generative KI  ist demnach strukturkonservativ, die alte Welt, die es zu überwinden gilt, steckt zu tief in ihren Knochen (88).

Metaverse ist zwar out of Hype, dennoch eine sich weiter entwickelnde Umgebung.  Matthias Quent, Soziologie- Professor in Magdeburg, war mir von einem Essay zum Rechtsruck bis in die Mitte der Gesellschaft bekannt.
Hier (101 – 113) schreibt er aus der Perspektive des Forschungsprojekts Immersive Demokratie über KI im Industrial und im sozialen Consumer Metaverse. Mit Hilfe von KI können komplexe Immersive Virtuelle Umgebungen (IVU, 105) konstruiert und gesteuert werden, wie wir es bereits von Texten, Bildern und nun auch Videos kennen.
KI kann darin vielfältig eingesetzt werden. Dazu, Gesetze und Regeln einzuhalten, Gemeinschaftsstandards und erwünschte Verhaltensweisen zu regulieren, Diskussionen zu moderieren. Genauso wie massenhaft manipulative und propagandistische Inhalte generiert werden können. Quent thematisiert Scenarios demokratie-gefährdender Radikalisierung. Das kann einzelne Personen, Gruppen, Bewegungen, virtuelle Räume und digitale Netzwerke umfassen. Als lernendes System ist auch maschinelles Lernen radikalisierungsfähig (104).

Eva Berendsen (115-124) thematisiert den Einsatz von KI durch rechtsextreme Aktivisten.  Zu deren Werkzeugkasten, speziell zur  Illustration politischer Meinung gehören KI- Bildgeneratoren.  Zu erwarten wäre eine Ausbreitung von Fake- Bildern, die Emotionen, Ängste, Desinformation schüren. Sicher kann KI eine Schneise sein, durch die sich solche Trigger verbreiten. Chat GPT selber gilt als woke AI – und sagt von sich selber, dass es trainiert sei, respektvoll und höflich zu sein, eine politisch korrekte Sprache zu verwenden und sich dabei an allgemein akzeptierte soziale Normen zu halten. 
Eine mögliche Perspektive politisch- historischer Bildung entwirft Deborah Schnabel in Frag doch das Hologramm (145 – 153) mit der Vision KI- gesteuerter Hologramme historischer Personen.

Das Fazit überrascht kaum: Ein verantwortungsvoller Umgang mit KI braucht eine starke Zivilgesellschaft (198). Demokratische Kultur muss auch in digitalen Räumen konsequent gelebt werden. KI kann, wie jede Technologie, für sozialen Fortschritt wie für sein Gegenteil, benutzt werden. Sie reproduziert das, was in der Gesellschaft ist. Letztlich geht es um das gesellschaftliche Verständnis davon, wie Wahrheit erzeugt und richtige Entscheidungen getroffen werden  (80).
Man kann es auch zivilgesellschaftliche Wachheit nennen – genau das bedeutet Wokeness.  Gegenspielern einer demokratischen Öffentlichkeit sind Bedenken fremd, Techniken für ihre Zwecke zu nutzen.
Eine Frage wird nicht thematisiert, das ist der zu erwartende Machtüberhang einiger weniger Plattformen und Unternehmen – BIG AI – so wie wir es aus dem Social Web kennen.

Bei aller geäusserten Skepsis und Besorgnis bleibt doch klar, dass generative KI ein Publikumserfolg ist. So wie das Internet bei seiner Einführung, wie das SmartPhone – und auch wie Social Media. Die Möglichkeiten werden auf allen Seiten ausgetestet – in der Bildung, in der  Marktforschung, im Journalismus – um nur die zu nennen, in denen ich in den letzten Tagen praktische Beispiele gesehen habe.
Parallel zur Re: Publica in Berlin Ende Mai gibt es eine offene Vernastltung zur Prompting Culture. Ein Hinweis auf die Popularität der Anwendung generativer KI.

Folgt man dem Konzept der Technogenese, das die Co- Evolution, eine parallele Entwicklung  von Technik und Gesellschaft bedeutet, ist die laufende Diskussion ein Teil der Aushandlung über die gesellschaftliche Einbettung von KI – und dieses Buch ein lesenswerter Beitrag dazu.

Praktisch ist das Glossar (>20 S.) mit kompakten Definitionen der verwendeten Begriffe und einiger mehr.

Marie- Sophie Adeoso, Eva Berendsen, Loe Fischer, Deborah Schnabel: : Code & Vorurteil  – Über künstliche Intelligenz, Rassismus und Antisemitismus. Edition Bildungsstätte Anne Frank. Verbrecher Verlag, Berlin 2024.   Financial Times . Amba Kaka, Sarah Myers & Meredith Whittaker: Make no mistake—AI is owned by Big Tech – MIT Technology Review 5.12.2023 —
AI NOW. – 2023 Landscape – Confronting tech power



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