Im letzten Beitrag zur Aktualisierung des Netnographie– Ansatzes hatte ich die Unterscheidung Community – vs. Consociality– based Netnography thematisiert.
Beide Begriffe bezeichnen Vorstellungen von Sozialität. Der eine Begriff – Community – ist weit verbreitet, allerdings oft überstrapaziert, mit einer breiten Bedeutungsstreuung. Consociality ist wenig geläufig und erklärungsbedürftig.
Die Gegenüberstellung beider Konzepte öffnet den Blick auf Entwicklungen digitaler Sozialität, über den engeren Kontext hinaus. Es gibt Parallelen zu Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft (1887), doch sind die Konzepte des 19. Jh. so nicht übertragbar – dazu abschliessend mehr.
Community bedeutet grundsätzlich eine freiwillige Vergemeinschaftung auf der Basis identitätsbestimmender Merkmale, gemeinsamer Interessen, Ziele etc – entscheidend ist ein Gefühl von Zu- und Zusammengehörigkeit. Mittlerweile im deutschen gebräuchlich, liegt die Bedeutung in etwa zwischen Gemeinde und Gemeinschaft.
Es ist eines der ältesten Konzepte in den Sozialwissenschaften. Als soziale und kulturelle Wesen leben Menschen in Gemeinschaften. Sie bedeuten das interaktive Umfeld aus dem sich Identität und Selbstverständnis der Einzelnen ableiten.
Der Community– Begriff im heutigen Sinne verbreitete sich mit den Cultural Studies von ethnisch definierten Communities (Ethnicity), wie z. B. black/ aboriginal/ migration diaspora Community über solche, die sich abseits der Mehrheitsgesellschaft sahen (wie gay/ deaf– Community), zu einer Vielzahl subkulturell definierter Gemeinschaften, die sich in Popular- und Jugendkulturen herausbildeten. Manche davon als Fankulturen, bis hin zu den Fans von Marken/ Brands- oft nach sehr vagen Kriterien: Style constitutes a group of identity ( Barker & Jane, 559).
Mit dem Konzept der Tribes gibt es Überschneidungen – so v.a. die gefühlte Gemeinsamkeit. Communities weisen aber ein gewisses Mass an Organisiertheit auf.
Digital Communities waren von Beginn an ein zentrales Konzept digitaler Sozialität. Oft herausgewachsen aus bereits bestehenden Sub- und Fankulturen, wie etwa zu Star Trek, im Gaming und im Tech- Umfeld, zu erlebnis- intensiven Sportarten, als Selbsthilfe, zur Verbindung mit Gleichgesinnten u.v.m. Identitäten abseits des Mainstream nahmen sich ihren Platz. Oft genug wurden Digital Communities zu einem wichtigen Teil des Lebens ihrer Mitglieder.
Allein die Möglichkeit der translokalen Vernetzung brachte Interessengruppen jeder Art zusammen. Community passte zum basisdemokratischen Aufbruchsgefühl des Web 2.0: Freie, nicht- hierarchische Assoziation auf der Grundlage gemeinsamer Interessen. Die digitale Öffentlichkeit als Ganzes wurde oft als Netzgemeinde angesprochen. Das geschieht heute kaum mehr – hingegen hat sich die Ansprache als Community in vielen Branchen und ihrem Umfeld verbreitet.
Moderierte bzw. gemanagete Communities stellen eine besondere Ausformung dar. Meist werden sie von Organisationen, Medien, Sendern und anderen Unternehmen betrieben – entscheidend ist aber auch hier ein Gefühl von Verbundenheit, die Entwicklung einer Beziehung untereinander über die Plattform hinaus. So gibt es Bezüge zur Unternehmenskommunikation, evtl. CoCreation, die Moderation hält v.a. einen Fixpunkt und einen Standard digitaler Öffentlichkeit in manchmal schwierigen Feldern aufrecht. (vgl die Links zu Definitionen von Online- Communities unten)
Die Frage ist immer, was eine Community zusammengebracht hat – bzw. was sie zusammenhält.
So weit es auch gefasst ist, deckt das Konzept Community nur einen Teil digitaler Sozialität ab. Wie weit reichen Konzepte wie Gemeinschaft, Kultur, Identität in digitalen Umgebungen? Die tatsächlichen Erfahrungen sind oft von instabilen Kontexten bestimmt.
Consociality, wurde als Consociation zuerst in The trouble with community (Amit/ Rapport, 2002) thematisiert. Gemeint waren kontextuelle Gruppierungen, meist abhängig von bestimmten Aktivitäten, in denen sich aber kaum kollektives Bewusstsein entwickelt. Es ist die Vielzahl oft alltäglicher und instrumenteller oder beiläufiger sozialer Ereignisse, die vormals oft keine Rolle gespielt haben – unter den Bedingungen von Social Media aber eine eigene Bedeutung erlangen.
In einem älteren Beitrag hatte ich dafür das Bild des #Hashtag gewählt: Soziale Verortung mit einzelnen Attributen. Menschen mit gleichen bzw. kompatiblen Interessen – oder auch nur Impulsen und Affekten – werden so zusammengeführt. Contextual fellowship bedeutet noch keine Gemeinschaft – erhält aber auf den Plattformen Bedeutung.
Consociality bezieht sich auf die physische und/oder virtuelle Kopräsenz sozialer Akteure in einem Netzwerk, die eine Möglichkeit zur sozialen Interaktion zwischen ihnen bietet. Übereinstimmungen, Kompatibilitäten, Ansichten, Impulse werden so relevant und bieten sowohl Möglichkeiten der Kooperation – wie sie sich auch einfach summieren und aufschaukeln können.
Mittlerweile ist ein grosser Teil des Alltags mit dem Internet verbunden. Digitale Sozialität wird massgeblich durch die Plattformen strukturiert. Aktionen und Verhalten richten sich oft strategisch danach aus.
Ein endloser Strom von Nachrichten – echt und fake – Bildern, Video- Clips, Eindrücken, unterschiedlichster Provenienz setzt oft neue, manche noch in ihrer Konsequenz unbekannte Dynamiken in Gang.
Themen wie Online- Kultur, Communities, posttraditionale Vergemeinschaftungen etc. wurden bis vor ca. 10 Jahren in grösserem Umfang diskutiert. Damals waren sie oft mit positiven Zukunftsvorstellungen belegt – wahrscheinlich wurden einige davon auch verwirklicht und werden heute als selbstverständlich wahrgenommen. Andere Entwicklungen werden als problematisch wahrgenommen, als eine Verwahrlosung der digitalen Öffentlichkeit – in den USA Enshittification – thematisiert.
Ein Rückbezug zu Tönnies: Grundsätzlich kann man eine Polarität Gemeinschaft/ Gesellschaft als allgemeingültig annehmen: Hier die Ebene der Verbundenheit – dort die formalisierte Gesellschaft. Man braucht aber nur daran zu erinnern, dass die Grenzen der Gemeinschaft zu Tönnies’ Zeiten für die meisten Menschen einengend waren.
Community ist ein mit Werten verbundener Begriff (was nicht immer stimmen muss) – Consociality/ Consozialität kann ein Konzept sein, mit dem die Realität digitaler Sozialität besser beschrieben werden kann.
We are all interrelated beings in an interdependent world …
Vered Amit, Nigel Rapport: The trouble with community: anthropological reflections on movement, identity and collectivity. Pluto Press, London 2002, 192 S. Hanell, F. & Jonsson Severson, P.: Netnography: Two Methodological Issues and the Consequences for Teaching and Practice. The 6th Digital Humanities in the Nordic and Baltic Countries Conference, Uppsala, Sweden, 3/ 2022 Kozinets, Robert V.: Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research.. 3d Edition 2019, SAGE Publications Ltd. 460 S. ., Ronald Hitzler, Anne Honer, Michaela Pfadenhauer: Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, 2009 358 S. – Chris Barker & Emma A. Jane: Cultural Studies. Theory and Practice, Sage Publ. 2016, 760 S.
Definitionen von Online- Communities: Tanja Laub 3/21 auf Community-Management.de – Vivian Pein 9/23 auf –socialmediamanager.de – auch: Tom Klein: Manipulative Kommunikation…. kurz und knapp erklärt .. Whitepaper 2024