Das Verschwinden der Bürgerlichen Mitte

Die neuen Sinus- Milieus,   jetzt ohne Bürgerliche Mitte – nach Klick in voller Auflösung . Sinus- Institut, Heidelberg / Berlin, 01.10.2021

Bürgerliche Mitte meint  zumeist eine Schicht, die sich auch selber als Mitte der Gesellschaft versteht:  man entspricht den Standards,  orientiert sich an  Imperativen  die soziale Anerkennung  versprechen, aber setzt man auch die Standards?
In der kürzlich (10/21) vorgestellten neuen Auflage der Sinus- Milieus kommt sie nicht mehr vor: Das Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten. Erodiert in auseinander strebende Bestandteile: aufstrebend ins konservativ- etablierte Milieu, absteigend in einen nostalgisch-bewahrenden Mindset, so wird es beschrieben. Die freiwerdende Lücke in der Mitte der Gesellschaft füllt ein moderner Mainstream mit dem Bindestrich- Namen Adaptiv- Pragmatisch aus – flexible Pragmatiker, die sich an einem sich wandelnden Status-Quo orientieren – wenn man damit eine Vorstellung verbindet.
Sicherlich lässt sich  eine Bürgerliche Mitte auch anders verstehen, als ein Milieu, das sich v.a. als normal verstanden hatte, von dem kaum Impulse ausgingen und dessen Lebenswelt langfristig aufgerieben wird.  Der Wegfall markiert aber einen Einschnitt, der sich auch anderswo beobachten lässt. Nachhaltigkeit, Resilienz und Diversity etablieren sich als neue  Leitwerte. Der Wandel von Werten, eine kulturelle Öffnung der Lebensformen erfasst nicht alle Milieus, als Reaktion breiten sich in manchen Kreisen Ressentiments aus. Ein vormals normativ- dominanter Habitus verschwindet.

Sinus- Milieus 2010 – noch mit Bürgerlicher Mitte

Sinus- Milieus wurden seit Beginn der 80er Jahre vom gleichnamigen Institut ausgearbeitet und bislang zu Beginn jeder Dekade neu aufgelegt. Selber bezeichnet man sich selbstbewusst als  Goldstandard der  Zielgruppensegmentation – im weiteren Umfeld sind sie als Kartoffelgraphik bekannt.
Ihre Attraktivität beziehen die Sinus-Milieus aus ihrer Anschaulichkeit. Beobachtungen aus dem Alltag lassen sich oft nachvollziehen, sie sind nah an den Lebenswelten bis hin zu den Foto- Präsentationen originaler Wohnzimmereinrichtungen. Zugrunde liegen umfangreiche qualitative und quantitative Befragungen, ethnographische Beobachtungen von Alltagsmilieus u.v.m   Es gibt wenige andere Studien, für die  ein solcher Umfang an Datenerhebung betrieben werden kann. Grundlegende Wertorientierungen gehen dabei ebenso in die Analyse ein wie Alltagseinstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum (vgl. Pressemitteilung).
Verbreitung und Bedeutung der Sinus- Milieus lassen sich kaum überschätzen. Grundsätzlich ein Modell zur Visualisierung von Zielgruppen für die Marktforschung, werden sie darüber hinaus von zahllosen Organisationen,  Unternehmen, Kirchen und Parteien, auch von Poltik und Verwaltung  zur Kommunikationsplanung mit ihrer jeweiligen Klientel genutzt. Sinus- Milieus wurden für Migranten, als Digitale Milieus und auf Stadtebene (Berlin) erstellt. In Verbindung mit Geo- Daten (s. MBM- Micromarketing) werden sie  heruntergebochen bis auf Gebäudekomplexe (vgl. Düsseldorf, Berlin), verbinden Wohnadressen mit Sinus-Milieu-Wahrscheinlichkeiten. Sie lassen sich geradezu im Stadtbild besichtigen incl. der zugehörigen Geschäfte und Gastronomie. Bilder, die die Gesellschaft von sich selber hat, stimmen oft damit überein.

Sinus- Milieus als Grundlage der Gesellschaftsanalyse

Bemerkenswert ist die Entwicklung von einem Modell zur Visualisierung von Zielgruppen für die Marktforschung zu einer Kartographie der Gesellschaft.  Andreas Reckwitz Analysen zur postindustriellen Gesellschaft, insbes. einer Neuen Mittelklasse basieren auf den Kategorien der Sinus- Milieus. Reckwitz’ Neue Mittelschicht sind die  von Sinus definierten Leitmilieus – noch nicht an die Neuversion angepasst (vgl. Ende der Illusionen).  Daran ist vieles plausibel, die Herkunft der Einteilung zeigt sich aber an Kriterien wie dem valorisierten Konsum, der Ästhetisierung des Alltags, dem sich im Konsumverhalten zeigenden  „expressiven Individualismus“. Sinus-Milieus wurden letztlich zur Markt- und Konsumforschung entwickelt, sie bilden Lebensstile und davon bestimmte Konsummuster ab. Diese Neue Mittelklasse- immerhin ca. ein Drittel der Bevölkerung – gilt als kulturell, ökonomisch und politisch einflussreichste Gruppe der spätmodernen Gesellschaft. In den folgenden Diskussionen wurden sie öfters mit Neuen Eliten gleichgesetzt, mit manchen kuriosen Schlussfolgerungen.
Soziale Ungleichheit wird in den Sinus Milieus nur am Rande gestreift. Zwar fassen sie Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen, die Zugehörigkeit  bedeutet längst nicht die Abwesenheit  sozialer Ungleichheiten.  So stellt sich die Frage, bis wohin Modelle zur Zielgruppenanalyse geeignet sind, eine gesamte Gesellschaft abzubilden, oder ob sich damit doch eher einige Klischees verfestigen.

Zwei weitere Details stechen hervor: Zum einen das Verschwinden der  Subkulturen bzw. einer sich selbst so verstehenden Gegenkultur/ Counter culture. Subkulturen hatten sich in Ablehnung einer als repressiv verstandenen Mehrheitskultur abgespalten und immer wieder neu konstituiert – hatten oft eine entscheidende Wirkung in der Erneuerung der Mehrheitsgesellschaft.
Nicht alle Milieus der neuen Mittelschicht sehen sich Werten der Nachhaltigkeit  verpflichtet, so verstehen sich  Konsumhedonisten als Teil der Neuen Mitte und als Bollwerk gegen einen übertriebenen Nachhaltigkeits-Hype.

„Deutschland im Umbruch . SINUS -Institut stellt aktuelles Gesellschaftsmodell vor: Die Sinus -Milieus® 2021“ (01.10.2021) Heidelberg / Berlin
Nils C. Kumkar & Uwe Schimank: Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Diagnose der »Spätmoderne« Leviathan, 49. Jg., S. 7-32, 2021. Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig, Norbert Schäuble, Manfred Tautscher: Praxis der Sinus-Milieus®: Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. 2018



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