Corona, PhysicalDistancing und die Digitale Öffentlichkeit

Steht im Mittelpunkt: Das Corona- Virus; Bild: unsplash.com

Fast noch mehr als das Virus selber hat #Corona als Medienthema innerhalb weniger Wochen  die Öffentlichkeit überrollt. Zuerst die Bilder aus dem fernen China, dann aus dem nahen Italien. Bilder von der Abriegelung ganzer Regionen, dann die von überlasteter  medizinischer Versorgung. Schliesslich wurde #Corona/ #Covid-19 zu dem Thema, neben dem alles andere in der öffentlichen Kommunikation verschwindet.
Ansteckende Krankheiten zählten immer zu den Geisseln der Menschheit, waren einer der Apokalyptischen Reiter – und sie leiteten immer wieder gesellschaftliche Veränderungen und Umwälzungen ein. Aber jetzt ist es weniger die Furcht vor der Krankheit selber, sondern die vor den Grenzen der Beherrschbarkeit, konkret der Überlastung der medizinischen Versorgung. Das Risikomanagement ist darauf angelegt, die Verbreitungsgeschwindigkeit, den Anstieg der Kurve, zu verringern,  #flattenthecurve.  Die möglichen Übertragungswege, also die physischen Kontakte, sollen so massiv reduziert werden, dass das Virus durch deren Stillegung eingedämmt wird. Solange kein Impfstoff oder wirksame Medikamente entwickelt sind, kann aber diese Kurve immer wieder anwachsen.
Es begann mit Empfehlungen zur Handhygiene, Absagen von Grossveranstaltungen, von  immer mehr Schliessungen der Gastronomie, von Schulen, Sportstätten – allen Orten, an denen Menschen zusammentreffen,  bis schliesslich zu nie dagewesenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Grundrechten auf Bewegungsfreiheit, dem Lockdown einer ganzen Gesellschaft und Volkswirtschaft unter dem harschen Regime eines #SocialDistancing.  Der politisch durchgesetzte Begriff ist eigentlich falsch – es geht um die  rein physische, nicht die soziale Distanz – #PhysicalDistancing. Gäbe es keine Digitale Öffentlichkeit, wäre es tatsächlich Social Distancing.

#Corona wird zum Top- Thema: Twitter (D) Febr/März 2020

Scenarios und Einschätzungen zum weiteren Verlauf, für die Zeit danach und die Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen gibt es mittlerweile zuhauf und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven  – und sicher geht es auch darum, auf dem Markt der Deutungen Präsenz zu zeigen. Man stellt sich auf für Forschungsprojekte und Beratungsangebote.
Welche gesellschaftlichen Verwerfungen Covid-19 und der Lockdown mit sich bringt, ist längst nicht abzusehen. Da ist die Pandemie selber, dann die Folgen und die Reaktionen auf den Lockout. Die wirtschaftliche Perspektive einer tiefen Rezession, dazu die Bedrohung zahlloser einzelner Existenzen. Was bedeutet es für eine Öffentlichkeit, wenn ihre physischen Schauplätze, Bildungseinrichtungen, Kulturbetriebe, Gastronomie, Läden, oft selbst der Park und Ausflugsziele  auf unbestimmte Zeit geschlossen sind? Wie kann das öffentliche Leben nach einem solchen “Winterschlaf” wieder Fahrt aufnehmen?
Einen Einschnitt bedeutet Corona und der Lockdown wohl überall. Die grosse unbekannte Variable ist ein medizinischer Grosser Wurf, der dem ganzen ein Ende macht.

Home Office wird zur Selbstverständlichkeit; Bild: Gunnar Sohn

Kann es überhaupt eine Situation geben, in der sich digitale Medien mehr bewähren können als unter den Bedingungen einer physischen Kontaktsperre? Nur mit digitalen Medien bleibt eine öffentliche Sphäre erhalten. Der Lockdown, beschleunigt zudem die Durchsetzung digitaler Kommunikation und Organisation in der Arbeitswelt  – Home office/Remote Work ist zunächst die einzige Möglichkeit, einen Workflow aufrecht zu erhalten. Was bis jetzt v.a. bei Soloselbständigen üblich war, wird jetzt vermehrt in Unternehmen und Behörden, sogar Ministerien akzeptiert – weil es die einzige praktikable Lösung ist. Videokonferenzen anstelle von Meetings. Ein gut ausgestattetes Home Office wird zum Standard und dem Fenster zur Welt. Ein Icon des Lockdown ist die Webcam, Zoom die Software der Stunde.

Gerade jetzt kann man drei Stufen digitaler Medien unterscheiden, die zumeist über dieselben Bildschirme übertragen werden: die grossen redaktionellen Sender- zu- Empfänger- Medien, öffentlich- rechtliche Sender und die überregionale Presse, von  ihnen wird gesicherte Berichterstattung und die Darstellung unterschiedlicher Positionen erwartet. Onlineauftritte sind längst nicht mehr ein begleitendes Zusatzangebot, mit den Zugriffen zu Mediatheken, auch Bezahl- Abos, sind sie zumindest gleichwertig zu Sende- und Printausgaben.
Dann die Ebene der Community- Medien, die eine neue Blüte erleben: Live- Schaltungen improvisierter Konzerte und anderer Kulturveranstaltungen, Diskussionen, improvisierte Radio- Programme, Bildungsangebote,  etc. – ein Exil für den vakanten öffentlichen Raum. Dieser Raum organisiert sich stärker nach dem Muster der Tribes – Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen verbinden sich darüber.
Schliesslich  die abgeschlossenere, mehr private Nutzung digitaler Medien wie sie mittlerweile flächendeckend verbreitet ist. Eine Nutzung, die aus der Telephonie herausgewachsen ist: Skype, Whats App und andere Messenger. Auch hier gibt es  Gruppenkommunikation von Menschen gleicher Interessen, – es besteht aber weder Anspruch noch Wille, Öffentlichkeit zu sein.
Von der Macht der Plattformen, die lange im Zentrum der Diskussion stand,  ist derzeit kaum die Rede – sie werden zur Adressierung genutzt.  Live- Streamings, Chats haben dort ihre Andockstellen, gewählt werden die, die beim jeweiligen Publikum am populärsten sind.

Bis jetzt (29.3.) kann man den Lockdown als gesellschaftlichen Konsens betrachten.  Reizthemen und Bruchstellen sind aber erkennbar, spürbar an Begriffen wie Ausgangssperre und der Rigidität der Einschränkungen. Wenn Polizeiwagen durch Wohnviertel patrouil­lie­ren und Bürger dazu aufrufen zu Hause zu bleiben, dann applaudieren manche dem starken Staat, andere beobachten es erstaunt, und für viele ist es einfach provokant und übergriffig. Gerade am Wochenende vor der Verschärfung der Massnahmen waren Social Media, v.a. Twitter, voller Postings mit lautstarken Forderungen zu Ausgangssperren,  geradezu einer Einheitsmeinung – manchmal hatte man den Eindruck konzertierter Propaganda. Gab es denn tatsächlich so viele sog. Corona- Parties (und was für welche), wie sie zur Begründung der Einschränkungen herangezogen wurden?
Eine andere Konfliktlinie wird im Falle Adidas deutlich – wenn von der ganzen Bevölkerung maximale Einschränkungen aus Solidarität eingefordert werden, ein milliardenschwerer Konzern sein Gewinninteresse durchsetzt – weckt es nachhaltige Ressentiments. Grundsätzliche Haltungen zur Gesellschaft  werden deutlich.

Die Verbreitungswege, die Spur der Pandemie, folgt oft den Spuren des  internationalen Tourismus, globalen Geschäftsverbindungen und Events wie Fussballmatches, die Reflexe von Rückholung und Risikomanagement sind dagegen national. Europa kommt kaum vor – Appelle richten sich an nationale Gemeinschaften der Solidarität und des Portemonnaies. Eh man sich umsah, waren Grenzen geschlossen. Was helfen dem auch offene Grenzen, der das Haus nicht verlassen  kann? Vorerst beendet ist die beschleunigte Welt der tausend Optionen, der Blick ist auf engere Fenster gerichtet.

Was auffällt:  Die eigene Gefährdung durch das Virus wird selten thematisiert, die Bedrohung eher statistisch erlebt, sie scheint mehr den Alten und ohnehin schon Kranken zu gelten. Anscheinend sieht sich kaum jemand in der digitalen Öffentlichkeit als Teil der Risikogruppe – und wenn, verlässt man sich auf die >80% mit mildem Verlauf und hofft insgeheim auf die Herdenimmunität.

Vgl. u.a.: Andreas Häckermann: Soziologisches zur Pandemie. Eine Sammlung aktueller Wortmeldungen- Soziopolis – gedankenstrich.org: Coronia- Krise und Soziologie. Blog von Jan- Felix Schrape. Yuval Harari: „Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn die Krise vorbei ist“, Handelsblatt, 28.3.; Was die Corona Virus-Krise für Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, Zukunftsinstitut.de.  Sondergutachten 2020: Die Gesamtwirtschaftliche Lage angesichts der Corona- Pandemie . auf Youtube: Wer #RemoteWork sagt, muss auch #NewWork sagen



Wer sind die “Neuen Eliten”?

Sehen so Eliten aus? Bild: Gisa / photocase.de

Wer sind überhaupt diese kosmopolitischen liberalen Eliten, von denen immer wieder die Rede ist? Seit dem Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen,  spätestens der Trump- Wahl kommt der Begriff in mehreren Varianten immer wieder vor – und dient dabei als Gegenpol,  Grenzen zwischen gesellschaftlichen und politischen Lagern zu markieren. In sozialwissenschaftlicher Forschung  ist  der Begriff  der Eliten grundsätzlich klar: gemeint sind Macht- und Führungspositionen v.a. in der Wirtschaft, dazu Politik, Wissenschaft, Justiz, Medien – diese Elite ist klein und reich (vgl. Hartmann, 2018). Dagegen tauchen zu den Neuen Eliten ganz andere Bestimmungen und Grössenordnungen auf.
Spätestens in der global vernetzten Ökonomie ist ein kosmopolitischer Habitus kulturelle Voraussetzung – und so prägt das iconische  Bild der gut ausgebildeten, kosmopolitisch orientierten Leute aus der Wissens-/ Kreativ-/ Digitalökonomie und auch der Finanzwirtschaft die Vorstellung.  Aber sind sie deshalb gleich alle Elite – und überhaupt als soziale Formation erkennbar?

Elite kann als Auszeichnung verstanden werden, genauso mit Stereotypen von Dünkel, Überheblichkeit und Arroganz belastet sein, oder auch ironisch, sarkastisch bis belustigt verwendet werden, wenn die vermeintliche Elite  sich nur als solche inszeniert.
Zieht man Bourdieu heran, dann macht erst symbolisches und kulturelles Kapital eine Elite aus: Prestige, soziale Anerkennung, Stil und Souverainität im Auftritt. Eliten entwickeln einen Habitus mit Vorbildcharakter, inszenieren sich in einem bestimmten Stil mit erkennbaren Codes, oft dezent mit Understatement und feinen Unterschieden. Liberale Eliten stehen für eine Öffnung des Systems von Privilegien und dem Zugang dazu, konservative für dessen Bewahrung (revolutionäre für die Zerschlagung).

In den USA sind liberale Eliten ein fester Topos, geographisch an den Küsten verortet: Ostküsten-Establishment steht für klassische liberale Eliten, urbane Intellektuelle, die Elite- Universitäten der Ivy League. Mit der Westcoast verbindet man v.a. Hollywood und seit einigen Jahrzehnten Silicon Valley – wo sich ein ganz neuer Habitus von Eliten herausbildet.
Eine sichtlich ungebrochene Vorstellung von Eliten gibt es in Großbritannien und Frankreich. In beiden Ländern hat sich ein ausgeprägter Eliten- Habitus herausgebildet, der in Elite- Einrichtungen weitergegeben wird: Oxford, Cambridge, Grandes écoles.
Im wirtschaftsstolzen Nachkriegsdeutschland traten Eliten kaum durch einen kulturell bestimmten Habitus hervor (was sich auf pers. Ebene sicher überschneiden kann). Zumindest ergab sich daraus ein Freiraum, der zum Teil von einer sich als progressiv verstehenden Kulturszene besetzt wurde.

Andreas Reckwitz schreibt in Gesellschaft der Singularitäten (2017) von einer vom Kulturkosmopolitismus geprägten Neuen Mittelklasse,  in der sich das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, durchgesetzt hat. Der Begriff Elite wird offensichtlich vermieden, erscheint bei ihm erst im folgenden Buch Das Ende der Illusionen (2019) als Fremdzuschreibung seitens des Gegenpols, den kulturessentialistischen Strömungen.  Letztlich treffen Merkmale dieser Neuen Mittelklasse  auf ca. 1/3 der Bevölkerung zu.
Genau diese Neue Mittelklasse scheint in den Diskussionen mit einer liberalen Elite durcheinander zu geraten. Ganz unschuldig ist Reckwitz daran nicht. Der Rahmen der Neuen Mittelklasse ist zunächst sehr weit gezogen und  schliesst  die kleine vermögende  Oberschicht ebenso ein, wie  diejenigen, die mehr oder weniger mit dem Risiko der Prekarität, des Sich-Durchwurschtelns (Muddling through), leben. Erst im Folgeband setzt er die vermögende Oberschicht, die einer klassischen Elite entspricht, deutlich von der Neuen Mittelklasse deutlich ab.

Im Blog Ruhrbarone stellt Stefan Laurin in dem Longread  Die neuen Eliten: Der Dinkelbrötchen kauende Dünkel die Frage, wer und wieviele die liberalen Eliten sind – was sie dazu macht und warum sie als solche angesehen werden. Eine Antwort darauf findet er nicht, schwadroniert dann darüber, wieso auf einmal Lehrer, Sozialarbeiter oder prekär lebenden Kreative zur Elite zählen sollen, und findet dann die Anstifter: “Ein kleiner, ökologisch und kosmopolitisch gesonnener Teil der alten, wohlhabenden Elite hat es geschafft, durch sein Lebensmodell etlichen Menschen in der Kreativwirtschaft, dem Öffentlichen Dienst und den Geisteswissenschaften zum Vorbild zu werden”. Auf dem Kieker hat er v.a. Die Zeit (die Wochenzeitung), die ihre Leserschaft mit Traktaten ökologisch korrekter Lebensweise versorgt, im Merchandising dann Kreuzfahrten und überteuerte Luxusuhren verhökert.
Bei Alexander Grau So weltoffen, so borniert! (Tagesspiegel 26.11.19),  reichen bereits Laptop und Rennrad in einem minimalistischen Raum (Parkett oder Laminat?) um die Lebenswelt einer neuen, globalen Elite zu illustrieren. Grau bezieht sich wohl auf Reckwitz, spricht dann aber nicht von einer Mittelklasse, sondern gleich von einer Elite, deren Status auf kulturellem Kapital beruht und die sich selber als Speerspitze des Fortschritts sieht. Der Elitenanspruch wird  vor allem über Werte, Normen und Lifestyle definiert, so kann auch jener sich als Angehöriger der neuen globalen Klasse fühlen, der sich mit prekären Jobs durchs Leben schlägt. Es geht um die kulturelle Deutungshoheit.
Seine besondere Kritik, eigentlich die besondere Abneigung, gilt der Moral dieser Klasse. Eine Moral, die penetrant nach aussen getragen wird und sich für alternativlos hält. Konkrete Beispiele dieser Moral nennt er nicht, aber die Werte auf denen sie beruht – und diese entstammen geradezu einer Mésaillance von Kapitalismus  und linken Emanzipationsbewegungen: Diversität, Flexibilität, Identitätstransformation, Offenheit, Buntheit, Begeisterungsfähigkeit etc.  Diese werden von CEOs, Consultants und Business-Schools ebenso wie von linksliberalen Medien verbreitet  Sicher gibt es Konvergenzen.  Die Thesen wirken allerdings arg konstruiert (dazu auch die Aufzeichnung eines Vortrags)Rechtskonservatives Dandytum fiel mir spontan ein.

Passend zu den Statements von Grau betont Cornelia Koppetsch in Die Gesellschaft des Zorns (das Buch wurde mittlerweile aus dem Handel zurückgezogen), dass die rechtspopulistische Opposition sich nicht gegen die kleine Elite der Superreichen, sondern die kulturelle Vorherrschaft einer relativ breiten akademisch-kosmopolitischen Ober- und Mittelschicht (121) richtet. Gezeigt wird diese Gegnerschaft weniger in ausformulierter Kritik, als in Herabwürdigung und Belustigung von Symbolen kosmopolitischer Gesinnung. An anderer Stelle attestiert Koppetsch Rechtspopulisten einen anti- elitären Impuls.

Carlo Strenger, kürzlich verstorbener israelisch- schweizerischer Philosoph und Psychoanalytiker,  erzählt exemplarische Geschichten aus seiner therapeutischen Praxis.  Das ergibt ein lebensnäheres Bild. Es geht um Menschen aus der gebildeten oberen Mittelschicht, die aus psychologischer Notwendigkeit den Lebenswelten, in denen sie hineingeboren wurden  entfliehen und sich ihre Lebensweise selber erarbeiten.  Sie wollen angesehene und geschätzte Mitglieder von Gruppen sein, deren übrige Mitglieder sie achten und auf deren Urteil sie wert legen (129).

Richard Florida wird immer wieder als Stichwortgeber herangezogen. Auf ihn geht das so wirkungsmächtige Konzept der Creative Class (2002) ebenso zurück, wie deren breite  Auslegung auf 20- 30% der Bevölkerung. Zahllose Wirtschaftsförderungsprogramme, die Städte für die Cluster der Kreativwirtschaft attraktiv machen sollten, haben sich daran orientiert. Mag es damals sinnvoll gewesen sein, Bedeutung und Besonderheiten dieses Clusters zu betonen, werden so nach heutigen Maßstäben sehr inhomogene Welten zusammengefasst.  Ökonomische  Ungleichheiten werden ignoriert. Aus statistischen Gründen umfasst die Creative Class auch Finanz- und Rechtsdienstleistungen, vgl. The New Urban Crisis (2017).

Tummelplatz Neuer Eliten? re:publica in Berlin

Die Beiträge um Neue/liberale Eliten spiegeln die mittlerweile geläufige, oft stereotype,  Erzählung der gesellschaftlichen und politischen Bruchlinie zwischen Progressisten und kulturessentialistischen  Traditionalisten bzw.  Globalisierungs- und Digitalisierungsgewinnern vs. Abgehängte.  Inwieweit diese Grenzziehung berechtigt ist, ist eine weitere Frage – die Wirklichkeit ist unübersichtlicher. Wortführer letzterer entstammen oft konservativen Eliten – oder sind selber global agierende Unternehmer. Knackpunkt aller Diskussionen zum Thema ist die Frage nach den Konvergenzen  beider Liberalismen, des emanzipatorischen Kultur-/Bürgerrechts- und des Wirtschaftsliberalismus. Sind die wirtschaftlich erfolgreichen gleichzeitig auch Träger von Werten, die ihnen vorgehalten werden? Niemand will von Privilegierten auch noch Ratschläge zur richtigen Lebensführung hören.
Das Labeling “Neue Eliten” und seine Erweiterung auf eine Grundgesamtheit mit kulturellem Kapital wirkt schon fast bizarr, ist aber als Teil einer Umdeutung von Begriffen zu verstehen – es geht darum, anti- elitäre Impulse in eine Richtung zu lenken. Kulturelles Kapital bedeutet heute v.a. den Zugang zu Öffentlichkeiten. 

Werte und Haltungen erwachsen aus Grundüberzeugungen. Eine davon ist, dass jedem Menschen die gleichen Rechte zustehen. Nicht nur aus vor dem Gesetz, genauso in den Entwicklungsmöglichkeiten, dem eingeforderten Respekt. Wahrscheinlich wird erst jetzt das ganze Versprechen demokratischer Verfassungen allen bewusst.

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017; Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S.   Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten: Wer sie sind und warum wir sie brauchen (edition suhrkamp) 5/2019; Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.    Transcript Verlag, Bielefeld 2019.; Alexander Grau: So weltoffen, so borniert! Tagesspiegel. 26.11.2019. Stefan Laurin: Die neuen Eliten: Der Dinkelbrötchen kauende Dünkel. Ruhrbarone. 3.02.2020,; vgl.: Michael Hartmann: Die Abgehobenen: Wie die Eliten die Demokratie gefährden, 8/2018



Overtourism – eine (kleine) Netnographie

Overtourismus ist Buzzword und war in den letzten Jahren immer wieder Nachrichtenthema – man verbindet damit Bilder gigantischer Kreuzfahrtschiffe vor zerbrechlichen Altstadtkulissen, Proteste in Barcelona, Schlange stehen beim Aufstieg nach Machu Picchu und zum Gipfel des Mount Everest, Bierbikes in Innenstädten oder > 15.000 Airbnbs allein in Lissabon.
Overtourismus ist eine Antithese zu nachhaltigem Reisen. “An excessive number of tourist visits to a popular destination or attraction, resulting in damage to the local environment and historical sites and in poorer quality of life for residents(Oxford English Dictionary) kann als Definition dienen.  Es  beinhaltet die Überlastung natürlicher wie kultureller und sozialer Ressourcen. Für Bewohner bedeutet Overtourismus eine Disruption, die Übernahme der Infrastruktur, in Folge oft des Immobilienmarktes durch touristische Bewirtschaftung (manchmal auch Touristifizierung genannt), in Naturgebieten die Störung des oft fragilen ökologischen Gleichgewichts.
Wie wird über Overtourismus im Netz gesprochen, wie umfangreich ist die Diskussion zum Thema, welche Aspekte und welche Standpunkte  treten hervor – und welche Öffentlichkeit wird angesprochen?

Verteilung der Quellen im ausgewählten Zeitraum (erscheint nach Klick in voller Auflösung) Quelle: Radarly, linkfluence

Ein Werkzeug dazu ist Radarly die Monitoring- bzw. Listening Software von linkfluence. Ausgewählt wurde ein Zeitraum von einem Monat zum Begriff #overtourism, ohne sprachliche Einschränkung  – das heisst v.a. auf Englisch. Die Graphik rechts gibt einen Überblick zur Verteilung. Deutschsprachige Quellen mit dieser Schreibweise kamen v.a. aus der Schweiz. Ergänzt wurden die mehr oder weniger eingedeutschten Varianten Overtourismus und Übertourismus, dazu eine Suche bei youtube nach denselben Stichworten. Im wesentlichen sind es Textbeiträge aus Blogs und redaktionellen Medien, auch der Grossteil der Nennungen bei Twitter und Facebook sind Verweise zu längeren Textbeiträgen – (oft sind diese Beiträge etwas älter als der gewählte Zeitraum). Zum einen sind es Sites,  die sich an eine breitere Öffentlichkeit wenden (z.B. National Geographic, CNN, Süddeutsche, NYT),  zum anderen Reiseblogs als Teil einer Travel- Community. In den deutschsprachigen Reiseblogs wird Overtourismus weniger thematisiert, es gibt allerdings eine Liste der Unfluencerungeschminkte Reiseblogs, die davor warnen, wenn denn ein Ort zu touristisch wird.
In den kurzen Formen der Social Media Kommunikation kommt #overtourism überraschend selten vor, das gilt etwa auch für das deutschsprachige TripAdvisor.

Einige Destinationen werden immer wieder genannt: europäische Altstädte, wie Venedig, Dubrovnik, Prag, Amsterdam (vgl. die Entwicklung von Airbnb in Amsterdam 09-19), Barcelona, die Ägäis- Insel Santorini, Plätze an der norwegischen Fjordküste, im deutschsprachigen Raum das österreichische Hallstatt und oft auch Berlin. Ausserhalb Europas klassische Sehnsuchtsorte der Ferne: Bali, Inseln und Strände in Thailand, Angkor Vat, Machu Picchù in Peru, Galapagos, die Osterinsel, Uluru/Ayers Rock in Australien, neu dabei ist Neuseeland; in den USA einige Nationalparks, Big Sur und Lake Tahoe. Dazu manche Orte, die bisher für Zivilisationsferne schlechthin standen, wie Island und der Mount Everest.
Die Reihe lässt sich ausweiten. Die Anziehung von Reisezielen beruht nicht allein auf besonderen Attraktionen, sondern auf ihrem Vibe – den Bildern und Geschichten, die sie bekannt gemacht haben und weiter verbreitet werden. Alle diese Orte haben eine Geschichte, im historischen Sinne oder dem einer Story – das macht sie unverwechselbar, singulär. Städtereisen stellen singuläre Erlebniswerte hervor: Kunstevents, Kulinarik, Nachtleben, Shopping. Berlin steht etwa für the Right to Party: …”the German capital subsists on the debaucherous reputation of clubs like the notorious Berghain” (insider.com). Brooklyn wird als the hippest of hip neighborhoods vermarktet.
Drehorte erfolgreicher Filme und Serien (z.B. Game of Thrones in Dubrovnik und Island) sind ein weiterer Magnet – und auch der begehrte  Unesco- zertifizierte Titel Weltkultur- bzw. -naturerbe treibt Besucherzahlen in die Höhe, setzt eine Roadmap. Oft stehen sie auf einer persönlichen bucket- list von Orten, die man einmal im Leben gesehen haben sollte. Ganz aktuell (5.12.) wurde im Business Insider  eine Liste von 22 destinations that were ruined by tourists over the past decade veröffentlicht. Overtourism wird dort beklagt, wo er die besondere Aura, ein kulturelles Biotop zerstört (s. auch Overtourism.map unten).

Kreuzfahrtschiff in Venedig

Kreuzfahrtschiffe stehen ganz oben in der Kritik. Zum einen wegen der übermässigen Belastung von Umwelt, Klima und Gesundheit mit Abgasen und Abwässern. Ein einziges Kreuzfahrtschiff stösst am Tag so viel CO2 aus wie fast 84.000 Autos, so viel Stickoxide wie etwa 421.00 Autos, so viel Feinstaub wie etwa über 1 Million Autos und so viel Schwefeldioxid wie gut 376 Millionen Autos (vgl. Nabu).
Vor wenigen Jahren und für viele immer noch Traumschiff, sind  die gigantischen Schiffe für andere nur noch Monster der Meere. Städte auf dem Meer, die bei einem Landgang >5.000 Passagiere in die aufgesuchten Stadtzentren entlassen. Kreuzfahrtouristen reisen all inclusive und  lassen nur einen geringen Teil ihrer Ausgaben vor Ort.

Instagramability: hotspot Trolltunga überm Fjord. Bild: hpmoellers / photocase.de

Bücher, Filme (+TV-Serien), Fotos haben schon immer die Lust am Reisen beflügelt.  Iconische Bilder, die früher von der Touristikwerbung  bereitgestellt wurden, werden heute über Social Media und ganz besonders instagram global verbreitet. Instagramability bedeutet die wirksame Inszenierung auf der Plattform- promotional power – oft sind es ganz spezifische Orte, die bereits einem geringeren Ansturm kaum gewachsen sind. Nicht nur instagram, auch andere Plattformen sind voll von iconischen Bildern von Stränden, Stadtsilhouetten und anderen Attraktionen. Reisen werden dokumentiert.
Von Beginn an waren Social Media mit Tourismus bzw. Reisen verbunden. Auch entlegene Orte wurden damit in einen übergreifenden Kommunikationsraum einbezogen. Der Einfluss auf das Reiseverhalten ist doppelseitig. Zum einen verbreiten sich darüber Trends, verstärken sie den Hype und damit Druck auf singuläre Reiseziele, zum anderen bieten sie die umfangreichsten Möglichkeiten zu Information und Planung – gerade auch während der Reise. Sie ermöglichen auch kleineren Akteuren auf dem touristischen Markt die gezielte Kommunikation mit ihrem Klientel – Tribes.  Social Media einen neuen Rahmen der Öffentlichkeit für alle Stakeholder (vgl. Gretzel: The Role of Social Media in Creating and Addressing Overtourism, 2019) 

Golden Age of Budget Tourism heisst es in einem britischen Blog (6/19). Reisen war niemals so einfach, günstig und gefahrlos, so zugänglich für  breite Schichten. Offene Grenzen (für Touristen), die Möglichkeit der Verständigung auf Englisch, evtl. Spanisch. Billige Flüge, günstige Bus- und Zugverbindungen und ein Angebot an Unterkünften jeder Art und jeder Preiskategorie – alles bequem online, oft per App zu buchen. Der Aufwand etwa auf die Kanaren zu reisen, ist nicht grösser als die friesischen Inseln zu erreichen. Kaum ein Ort der Erde, der nicht auf sein touristisches Potential abgeklopft ist.
Fernreisen und Wochenendtrips zählen zum Lebensstil der  Mittelschichten. Ein halbes Jahr Südamerika, Südostasien oder Australien nach Schulabschuss ist keine Seltenheit. Und es sind weltweit mehr geworden, denen dies möglich ist.  1,4 Mrd.  Ankünfte von Touristen weltweit nennt die World Tourism Organization für 2018,  Tendenz steigend um weitere 4 – 6%  pro Jahr.  und international. Wachstum bringt insbesondere der asiatische Markt.

Kritik am Massentourismus gibt es solange es ihn gibt. Massentourismus folgt der Logik der Massenproduktion und ist möglichst effizient organisiert. Massentourismus lenkt die Besucherströme in meist eigens dazu geschaffene Umgebungen abseits gewachsener Strukturen. Der Standort ist oft nur Kulisse, Architektur und Angebot meist austauschbar, örtliche Kultur bestenfalls Folklore – Fake.  Auffallend ist aber, dass in der Diskussion zu #overtourism, abgesehen von Mallorca (+ Ibiza) und evtl. Mykonos kaum klassische Zentren des Massentourismus genannt werden. Orte, die ausschliesslich touristischen Zwecken dienen, kommen in der Kritik nicht vor: There is no overtourism in Las Vegas. Im Falle Mallorca geht es auch eher um die vollständige Inanspruchnahme der Lebenswelt von ca. 880.000 Einwohnern durch touristische Verwertung.
Individualtourismus verstand sich oft als Gegenbewegung zum Massentourismus. Backpacker und Bildungsreisende suchen v.a. authentische Erfahrungen:  Act like the locals. Individualtouristen werden meist lieber Reisende bzw. Traveller genannt und wollen ihre Erfahrungen und Bilder davon selber machen.
Overtourism wird meist mit Mainstream verbunden: Popularisiert von early adopter Travelern, meiden dieselben Kreise allzu populär gewordene Ziele und ziehen weiter, zum next place to be. Spricht man mit Bourdieu geht es um kulturelles Kapital, um Coolness. Öfters wird Overtourism asiatischen Touristen, der neuen Grösse im Tourismus, zugeschoben. Manchmal mit einem rassistischen Unterton:   Es tut mir leid es so formulieren zu müssen aber die Massen von Asiaten, die als große Gruppen über Busse und Schiffe zu den Orten gebracht und dann von ihren Reiseführern durch die Attraktionen gepeitscht werden sind ein(!) großes Problem (anonymer O- Ton). Stimmt das? Einige Studien sehen das Reiseverhalten von Asiaten nicht grundsätzlich verschieden, als das von Europäern und Nordamerikanern.

In der englischsprachigen digitalen Öffentlichkeit ist Overtourism seit längerem ein geläufiger Terminus. Die Diskussion im Deutschen folgt zumeist noch den spektakulären Erscheinungen. Im Alpenraum geht es dazu um eine weitere Erschliessung von Skigebieten.
Was wird empfohlen? Lokal kann wohl einiges eingedämmt werden, manche singuläre Attraktion wird nicht mehr so einfach erreichbar sein. Manchmal heisst es simpel “ein paar Strassen” weiter oder nicht in der Hochsaison, Ausweichziele werden genannt, etwa Valencia statt Barcelona, Linz statt Wien. Das ändert nichts am Druck, der auf attraktiven Zielen lastet. Ähnlich wie Gentrification den Druck auf attraktive Wohngebiete bezeichnet.  Die Abgrenzung von Massen- und Individualtourismus ist immer weniger zeitgemäss. Infrastrukturen werden von allen genutzt, entscheidend sind billige Flüge und schnelles Internet. Tourismus verteilt sich nach kleinteiligen digitalen Mustern. Dabei entstehen neue Lebensstile, wie neomadische Tribes. Die Diskussion zum Tourismus berührt die zu Mobilität und Migration.

Unten die Overtourism map, auf der Orte von Berichten zu Overtourism zusammengetragen sind. Die Auswahl beruht u.a. auf Fallstudien einer Studie des Europäischen Parlamentes. So ist die deutsche Vertretung ausgerechnet die Nordseeinsel Juist.

Vgl. u.a.: Ulrike Gretzel: The role of Social Media in creating and adressing overtourism. In: Overtourism: Issues, realities and solutions (De Gruyter Studies in Tourism, Band 1), München 2019.  250 S.  Karlheinz Wöhler: Overtourism . In: Bauwelt 13., 2019  S. 22 – 25.; ‘Overtourism’? Understanding and Managing Urban Tourism Growth beyond Perceptions. Executive Summary. www.unwto.org; Zukunft des Tourismus #NEO19x



Netnography 3.Ed. (Review)

Vor einigen Wochen erschien bei Sage Publ. die 3. Ed. zu Netnographie als Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research. Vorausgegangen waren 2010 Netnography. Doing Ethnographic Research Online und  2015 Netnography. Redifined.
Netnographie wurde seit den 90er Jahren von Autor Robert Kozinets im entstehenden  und sich stetig verändernden Feld der Online-Öffentlichkeiten entwickelt. Mit dem ersten Buch 2010 wurden methodisch-programmatische Standards zusammengefasst, mit dem Anspruch in allen sozialwissenschaftlichen und verwandten Fächern zu gelten. 2015 folgte die Anpassung an Social  Media. Grundsätzlich ist Netnographie weniger eine singuläre Forschungsmethode, als ein Forschungsprogramm, das eine Vielzahl einzelner Forschungstechniken einbezieht und sie pragmatisch anwendet.
Definiert wird das Forschungsfeld Social Media als applications, websites, and other online technologies that enable their users to engage in a variety of different content creation, circulation, annotation, and association activities. Netnography is a way to study social media that maintains the complexities of its experimential and cultural qualities. (4)
Die aktuelle 3. Edition erscheint mit neuem Cover und hundert Seiten mehr  – der Untertitel setzt selbstbewusst den Anspruch als Standard qualitativer Forschung in Social Media, eine Art Handbuch.  Kozinets versteht diese 3. Ed. als near total reboot (5). Aus 11 Kapiteln wurden 15, manche überschneiden sich mit denen aus der 2. Ed., andere wurden ergänzt bzw. neu zusammengefasst. Wie gehabt gibt es zu jedem Kapitel abschliessend eine Chapter Summary + eine Übersicht der Key Readings, dazu vorausgehend ein Chapter Overview. Neu ist u.a ein Kapitel Social Media History, deutliches Zeichen, dass Social Media längst nicht mehr so neu sind.

Social Media 2019/20 sind ein ganz anderes Feld als das Internet der 90er und frühen 2000er Jahre. Virtual Communities waren damals der vorherrschende Begriff: sich um gemeinsame Interessen und Leidenschaften bildende Vergemeinschaftungen – oft Fankulturen, wie zu Star Trek, Straight Edge, oder auch Genussmitteln wie Kaffee oder CraftBeer, Selbsthilfegruppen, Special interest groups etc.  Fühlte sich damals alles eher subkulturell an, sind die Pfade im Netz von heute gepflastert: They paved communities, put up a server farm (124). Aus Mitgliedern wurden User, aus Peers Follower. Kommerzielle Strukturen, wie Werbung, Direkt- und Content Marketing, Messungen und Ausdeutungen des User- Verhaltens haben Rückwirkungen. Soziale und kommerzielle Beziehungen überschneiden sich. Grenzen zwischen Massenmedien bis hin zur Gelegenheitskommunikation verwischen oft.

What we share; Bild: greycoast / photocase.de

Einige Kapitel näher betrachtet: In Socialities: All the Ways we Connect(4) geht es um Konzepte von Sozialität bzw. sozialer Strukturierung, von denen einige in diesem Blog bereits erläutert und thematisiert wurden:  Consociality, Networked Individualism (bzw. Vernetzter Individualismus– vgl. auch die 12 Principles dazu), Technogenese.
Technogenese meint das Prinzip einer Co-Evolution von Technik und Gesellschaft, geht zurück auf den franz. Medientheoretiker Bernard Stigler, mit sehr deutlichen Anklängen an die in Norbert Elias Zivilisationstheorie wesentlichen Begriffe Sozio- und Psychogenese. 
Consociality  hat meines Erachtens ein besonderes Potential:  What we share als ein Prinzip der Vergemeinschaftung. Aus dieser Perspektive erscheinen Social Media weniger als Umgebung fixe Institutionen denn als momentäre Konstruktionen, die Individuen miteinander verbinden – man könnte auch sagen matchen. Online- Plattformen, die Matches vermitteln (das ist nicht Dating)  haben einen  hohen Grad an Consociality.

Figure 5.2 The six procedural movements of Netnography (139) — erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Das anschliessende Kapitel (5) Introducing Practises and Data Operations führt in die Planung konkreter Forschungsprojekte ein. Alleinstellungsmerkmale, die zusammen den Ansatz Netnographie von anderen Methoden unterscheiden:  kulturelle Ausrichtung, Data aus Social Media, immersives Engagement (eine Art reflexiver persönlicher Beteiligung) und “netnographische Praxis” (deutlich gemacht an sich verschiebenden Begriffen zu “trad. Ethnographie” (136) – im weiteren die in der Graphik rechts gezeigten Handlungsschritte.

Kapitel  6 gilt der Forschungsethik: Ethics: Prozeduren and Flowcharts, Updates and Rules. Sind Interaktionen privat oder öffentlich?  Dazu u.a.  eine umfassende  Übersicht  (179) zu Handlungsschritten und deren Bedarf an Informed Consent (Einwilligung nach erfolgter Aufklärung)
Chap. 8 – Investigating: Five Steps to Social Media Data Collection ist eine Art Leitfaden. Wer nach Anwendungsbeispielen sucht, wird an vielen Stellen fündig.

Netnography 3 Ed. macht deutlich, dass Netnographie kein Buzzword ist, sondern ein vom Autor ambitioniert  vorangetriebener Ansatz, der die stetige Veränderung des Feldes berücksichtigt.
Netnography 3 Ed. ist v.a. ein umfangreiches, sehr systematisches Handbuch zu qualitativer Online- Forschung: anregend zur Konzeption,  praktisch zum Nachschlagen, viel Stoff zum Durcharbeiten, allein die jeweilige Aufstellung der Key Readings mit theoretischen Bezügen, wie auch praktischen Beispielen, ist eine Fundgrube. Qualitative Online- Forschung bedeutet ein Verständnis jenseits der Big Data Ausdeutungen – für nicht- kommerzielle Projekte, wie für kommerzielle Auftragsforschung. Social Media nach der obigen Definition ist zwar zu einem weiten Teil in den Händen eines Oligopols,  aber doch in stetigem Wandel – in den Formaten, wie in den Plattformen. Live- Streaming  ist ein starker Trend  und schafft neue Öffentlichkeiten.

Netnography entstammt der angloamerikan. Kulturanthropologie, in der ethnographische Forschung seit jeher einen herausragenden Platz hat. Ein echtes Pendant von Gewicht gibt es nicht im deutschen Sprachraum: Europäische Ethnologie (ehemals Volkskunde) ist eher ein Orchideenfach, in der Soziologie zählt der theoretische Entwurf, in der Marketingforschung die KPI, die Marktforschung ist auftragsbezogen. Lebensweltforschung, Konsumsoziologie stehen in der zweiten Reihe, es dominiert die Einordnung in Sinus- Milieus. Cultural Studies waren v.a.  in den 90er und 0er Jahren auch im deutschen Sprachraum verbreitet.

Kozinets, Robert V.: Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research.. Third Edition 2020, SAGE Publications Ltd; ISBN: 978-1-5264-4470-7, 447 S., £ 25

 

 



Klaus Janowitz (klausmjan)

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