Wer sind die “Neuen Eliten”?

Sehen so Eliten aus? Bild: Gisa / photocase.de

Wer sind überhaupt diese kosmopolitischen liberalen Eliten, von denen immer wieder die Rede ist? Seit dem Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen,  spätestens der Trump- Wahl kommt der Begriff in mehreren Varianten immer wieder vor – und dient dabei als Gegenpol,  Grenzen zwischen gesellschaftlichen und politischen Lagern zu markieren. In sozialwissenschaftlicher Forschung  ist  der Begriff  der Eliten grundsätzlich klar: gemeint sind Macht- und Führungspositionen v.a. in der Wirtschaft, dazu Politik, Wissenschaft, Justiz, Medien – diese Elite ist klein und reich (vgl. Hartmann, 2018). Dagegen tauchen zu den Neuen Eliten ganz andere Bestimmungen und Grössenordnungen auf.
Spätestens in der global vernetzten Ökonomie ist ein kosmopolitischer Habitus kulturelle Voraussetzung – und so prägt das iconische  Bild der gut ausgebildeten, kosmopolitisch orientierten Leute aus der Wissens-/ Kreativ-/ Digitalökonomie und auch der Finanzwirtschaft die Vorstellung.  Aber sind sie deshalb gleich alle Elite – und überhaupt als soziale Formation erkennbar?

Elite kann als Auszeichnung verstanden werden, genauso mit Stereotypen von Dünkel, Überheblichkeit und Arroganz belastet sein, oder auch ironisch, sarkastisch bis belustigt verwendet werden, wenn die vermeintliche Elite  sich nur als solche inszeniert.
Zieht man Bourdieu heran, dann macht erst symbolisches und kulturelles Kapital eine Elite aus: Prestige, soziale Anerkennung, Stil und Souverainität im Auftritt. Eliten entwickeln einen Habitus mit Vorbildcharakter, inszenieren sich in einem bestimmten Stil mit erkennbaren Codes, oft dezent mit Understatement und feinen Unterschieden. Liberale Eliten stehen für eine Öffnung des Systems von Privilegien und dem Zugang dazu, konservative für dessen Bewahrung (revolutionäre für die Zerschlagung).

In den USA sind liberale Eliten ein fester Topos, geographisch an den Küsten verortet: Ostküsten-Establishment steht für klassische liberale Eliten, urbane Intellektuelle, die Elite- Universitäten der Ivy League. Mit der Westcoast verbindet man v.a. Hollywood und seit einigen Jahrzehnten Silicon Valley – wo sich ein ganz neuer Habitus von Eliten herausbildet.
Eine sichtlich ungebrochene Vorstellung von Eliten gibt es in Großbritannien und Frankreich. In beiden Ländern hat sich ein ausgeprägter Eliten- Habitus herausgebildet, der in Elite- Einrichtungen weitergegeben wird: Oxford, Cambridge, Grandes écoles.
Im wirtschaftsstolzen Nachkriegsdeutschland traten Eliten kaum durch einen kulturell bestimmten Habitus hervor (was sich auf pers. Ebene sicher überschneiden kann). Zumindest ergab sich daraus ein Freiraum, der zum Teil von einer sich als progressiv verstehenden Kulturszene besetzt wurde.

Andreas Reckwitz schreibt in Gesellschaft der Singularitäten (2017) von einer vom Kulturkosmopolitismus geprägten Neuen Mittelklasse,  in der sich das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, durchgesetzt hat. Der Begriff Elite wird offensichtlich vermieden, erscheint bei ihm erst im folgenden Buch Das Ende der Illusionen (2019) als Fremdzuschreibung seitens des Gegenpols, den kulturessentialistischen Strömungen.  Letztlich treffen Merkmale dieser Neuen Mittelklasse  auf ca. 1/3 der Bevölkerung zu.
Genau diese Neue Mittelklasse scheint in den Diskussionen mit einer liberalen Elite durcheinander zu geraten. Ganz unschuldig ist Reckwitz daran nicht. Der Rahmen der Neuen Mittelklasse ist zunächst sehr weit gezogen und  schliesst  die kleine vermögende  Oberschicht ebenso ein, wie  diejenigen, die mehr oder weniger mit dem Risiko der Prekarität, des Sich-Durchwurschtelns (Muddling through), leben. Erst im Folgeband setzt er die vermögende Oberschicht, die einer klassischen Elite entspricht, deutlich von der Neuen Mittelklasse deutlich ab.

Im Blog Ruhrbarone stellt Stefan Laurin in dem Longread  Die neuen Eliten: Der Dinkelbrötchen kauende Dünkel die Frage, wer und wieviele die liberalen Eliten sind – was sie dazu macht und warum sie als solche angesehen werden. Eine Antwort darauf findet er nicht, schwadroniert dann darüber, wieso auf einmal Lehrer, Sozialarbeiter oder prekär lebenden Kreative zur Elite zählen sollen, und findet dann die Anstifter: “Ein kleiner, ökologisch und kosmopolitisch gesonnener Teil der alten, wohlhabenden Elite hat es geschafft, durch sein Lebensmodell etlichen Menschen in der Kreativwirtschaft, dem Öffentlichen Dienst und den Geisteswissenschaften zum Vorbild zu werden”. Auf dem Kieker hat er v.a. Die Zeit (die Wochenzeitung), die ihre Leserschaft mit Traktaten ökologisch korrekter Lebensweise versorgt, im Merchandising dann Kreuzfahrten und überteuerte Luxusuhren verhökert.
Bei Alexander Grau So weltoffen, so borniert! (Tagesspiegel 26.11.19),  reichen bereits Laptop und Rennrad in einem minimalistischen Raum (Parkett oder Laminat?) um die Lebenswelt einer neuen, globalen Elite zu illustrieren. Grau bezieht sich wohl auf Reckwitz, spricht dann aber nicht von einer Mittelklasse, sondern gleich von einer Elite, deren Status auf kulturellem Kapital beruht und die sich selber als Speerspitze des Fortschritts sieht. Der Elitenanspruch wird  vor allem über Werte, Normen und Lifestyle definiert, so kann auch jener sich als Angehöriger der neuen globalen Klasse fühlen, der sich mit prekären Jobs durchs Leben schlägt. Es geht um die kulturelle Deutungshoheit.
Seine besondere Kritik, eigentlich die besondere Abneigung, gilt der Moral dieser Klasse. Eine Moral, die penetrant nach aussen getragen wird und sich für alternativlos hält. Konkrete Beispiele dieser Moral nennt er nicht, aber die Werte auf denen sie beruht – und diese entstammen geradezu einer Mésaillance von Kapitalismus  und linken Emanzipationsbewegungen: Diversität, Flexibilität, Identitätstransformation, Offenheit, Buntheit, Begeisterungsfähigkeit etc.  Diese werden von CEOs, Consultants und Business-Schools ebenso wie von linksliberalen Medien verbreitet  Sicher gibt es Konvergenzen.  Die Thesen wirken allerdings arg konstruiert (dazu auch die Aufzeichnung eines Vortrags)Rechtskonservatives Dandytum fiel mir spontan ein.

Passend zu den Statements von Grau betont Cornelia Koppetsch in Die Gesellschaft des Zorns (das Buch wurde mittlerweile aus dem Handel zurückgezogen), dass die rechtspopulistische Opposition sich nicht gegen die kleine Elite der Superreichen, sondern die kulturelle Vorherrschaft einer relativ breiten akademisch-kosmopolitischen Ober- und Mittelschicht (121) richtet. Gezeigt wird diese Gegnerschaft weniger in ausformulierter Kritik, als in Herabwürdigung und Belustigung von Symbolen kosmopolitischer Gesinnung. An anderer Stelle attestiert Koppetsch Rechtspopulisten einen anti- elitären Impuls.

Carlo Strenger, kürzlich verstorbener israelisch- schweizerischer Philosoph und Psychoanalytiker,  erzählt exemplarische Geschichten aus seiner therapeutischen Praxis.  Das ergibt ein lebensnäheres Bild. Es geht um Menschen aus der gebildeten oberen Mittelschicht, die aus psychologischer Notwendigkeit den Lebenswelten, in denen sie hineingeboren wurden  entfliehen und sich ihre Lebensweise selber erarbeiten.  Sie wollen angesehene und geschätzte Mitglieder von Gruppen sein, deren übrige Mitglieder sie achten und auf deren Urteil sie wert legen (129).

Richard Florida wird immer wieder als Stichwortgeber herangezogen. Auf ihn geht das so wirkungsmächtige Konzept der Creative Class (2002) ebenso zurück, wie deren breite  Auslegung auf 20- 30% der Bevölkerung. Zahllose Wirtschaftsförderungsprogramme, die Städte für die Cluster der Kreativwirtschaft attraktiv machen sollten, haben sich daran orientiert. Mag es damals sinnvoll gewesen sein, Bedeutung und Besonderheiten dieses Clusters zu betonen, werden so nach heutigen Maßstäben sehr inhomogene Welten zusammengefasst.  Ökonomische  Ungleichheiten werden ignoriert. Aus statistischen Gründen umfasst die Creative Class auch Finanz- und Rechtsdienstleistungen, vgl. The New Urban Crisis (2017).

Tummelplatz Neuer Eliten? re:publica in Berlin

Die Beiträge um Neue/liberale Eliten spiegeln die mittlerweile geläufige, oft stereotype,  Erzählung der gesellschaftlichen und politischen Bruchlinie zwischen Progressisten und kulturessentialistischen  Traditionalisten bzw.  Globalisierungs- und Digitalisierungsgewinnern vs. Abgehängte.  Inwieweit diese Grenzziehung berechtigt ist, ist eine weitere Frage – die Wirklichkeit ist unübersichtlicher. Wortführer letzterer entstammen oft konservativen Eliten – oder sind selber global agierende Unternehmer. Knackpunkt aller Diskussionen zum Thema ist die Frage nach den Konvergenzen  beider Liberalismen, des emanzipatorischen Kultur-/Bürgerrechts- und des Wirtschaftsliberalismus. Sind die wirtschaftlich erfolgreichen gleichzeitig auch Träger von Werten, die ihnen vorgehalten werden? Niemand will von Privilegierten auch noch Ratschläge zur richtigen Lebensführung hören.
Das Labeling “Neue Eliten” und seine Erweiterung auf eine Grundgesamtheit mit kulturellem Kapital wirkt schon fast bizarr, ist aber als Teil einer Umdeutung von Begriffen zu verstehen – es geht darum, anti- elitäre Impulse in eine Richtung zu lenken. Kulturelles Kapital bedeutet heute v.a. den Zugang zu Öffentlichkeiten. 

Werte und Haltungen erwachsen aus Grundüberzeugungen. Eine davon ist, dass jedem Menschen die gleichen Rechte zustehen. Nicht nur aus vor dem Gesetz, genauso in den Entwicklungsmöglichkeiten, dem eingeforderten Respekt. Wahrscheinlich wird erst jetzt das ganze Versprechen demokratischer Verfassungen allen bewusst.

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017; Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S.   Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten: Wer sie sind und warum wir sie brauchen (edition suhrkamp) 5/2019; Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.    Transcript Verlag, Bielefeld 2019.; Alexander Grau: So weltoffen, so borniert! Tagesspiegel. 26.11.2019. Stefan Laurin: Die neuen Eliten: Der Dinkelbrötchen kauende Dünkel. Ruhrbarone. 3.02.2020,; vgl.: Michael Hartmann: Die Abgehobenen: Wie die Eliten die Demokratie gefährden, 8/2018



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