Soziologie zur Digitalisierung und das was folgt …

Der Zettelkasten – Legende Luhmann

Welche Rolle spielen soziologische Ansätze und Theorien, wie einflussreich sind sie ausserhalb eines wissenschaftlichen Kontextes, welche Deutungsmacht kommt ihnen zu? Spätestens mit Corona haben sich Diskussionen verschoben. Gesellschaftliche Interaktions- und wirtschaftliche Wertschöpfungsketten wurden unterbrochen. Die Zukunft erscheint nicht mehr allein als Fortsetzung der Gegenwart – und steht damit offener zur Debatte als vordem.  Digitalisierung hat neue Infrastrukturen geschaffen, schreitet weiter voran, ist aber nicht mehr allein vorrangiges Thema. Ein kleiner Überblick, der sich aus (meinen) Themen der letzen Jahre ergibt:

Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist wohl eines der einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Theoriegebäude überhaupt.  Sehr verkürzt: Funktionale Differenzierung der Gesellschaft in einzelne soziale Subsysteme (autopoietische Systeme). Moderne Gesellschaften sind  in operativ geschlossene Funktionssysteme differenziert,  die jeweils nach ganz eigenen Logiken funktionieren (Kühl, 2015).
Luhmann verstand Systemtheorie als Möglichkeit die Struktur sämtlicher Bereiche der Gesellschaft offen zu legen, ohne normativ zu sein: Recht, Liebe, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Bildung, Religion etc. Es geht darum, wie sich in den komplexen Gesellschaften der Moderne Ordnungen erklären lassen.  Zur Legende wurde Luhmanns Werkzeug, der Zettelkasten, eine Art Zweitgedächtnis, in dem er Notizen so ablegte, dass die aufgezeichneten Gedanken neue Sinnzusammenhänge hervorbrachten.
Systemisches Management, systemische Beratung, systemisches Coaching –  im ausserwissenschaftlichen Umfeld sind Bezüge zur Systemtheorie immer wieder präsent. Soziologische Systemtheorie wird als Leittheorie von Prozessberatern bezeichnet, Begriffe wie Störung, Katastrophe (eines Systems) kamen in diesem Sinne in Umlauf. In einem sehr lesenswerten Text zeigt der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl (2015) die unkontrollierte Ausdehnung, Popularisierung bis Trivialisierung der Systemtheorie – die oft zu einem Instrument der Kompetenzdarstellung gerät. Was  als systemisches Management, Beratung, Coaching angeboten wird, ist nur lose an die Systemtheorie  gekoppelt (Kühl, 2015).

In den Digitalisierungsdebatten der vergangenen Jahre stehen Dirk Baecker und Armin Nassehi mit den Veröffentlichungen 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt und Muster – \\\Theorie/// der digitalen Gesellschaft im Rahmen der Systemtheorie.
Baecker teilt die Geschichte in Epochen, von der tribalen Gesellschaft über die Antike und die Moderne zur nächsten Gesellschaft. Auslöser von Epochenwechseln ist jeweils eine Innovation von Verbreitungsmedien –  so begann die Antike mit der Schrift, die Moderne mit dem Buchdruck, die nächste Gesellschaft mit den digitalen Medien.  Innerhalb der Epochen werden die Spielräume der einzelnen Teilsysteme beschrieben. Merken sollte man sich den Sinnüberschuss, der jeweils mit neuen Medien/Techniken einhergeht. Die Lücke, die der Rechner lässt (im Titel) ist schliesslich das Mass an Gestaltbarkeit, das bleibt.
Armin Nassehi verfolgt einen funktionalistischen Ansatz, setzt weder Problem noch Lösung als gegeben voraus, stellt einige rhetorische Fragen an den Anfang: Für welches Problem ist Digitalisierung die Lösung? Dazu die,  warum Techniken sich nur dann durchsetzen können, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen. Digitalisierung sei die Lösung für ein Problem, das sich in modernen Gesellschaften seit jeher stellt: Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch wir selbst mit unsichtbaren Mustern um? Es finden sich viele erhellende Einzelheiten, ob man das Buch als allgemeingültige Theorie der digitalen Gesellschaft annimmt, muss man selber entscheiden.
Beide Bücher vermitteln, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, das Gefühl, eine unsichtbare Hand, eine Macht der strukturellen Muster ordne. Es geht oft mehr um eine gedachte, als die reale Gesellschaft, in der wir leben.

Kultur der Digitalität (Felix Stalder) meint die von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägte Lebens- und Arbeitswelt. Digitalität ist das Muster, die Ordnung, die diese Prozesse angenommen haben. Sie ist keine einseitige Folge technischer Innovationen, die neuen Technologien trafen auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. 

Mit Digitalisierung hat das Werk von Norbert Elias (1897-1990) überhaupt nichts zu tun – es geht um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese. Neuerdings stösst man anderswo auch auf Technogenese, gemeint ist eine Co-Evolution von Technik und Gesellschaft. Es ist diese Ausrichtung auf die Evolution des Habitus verbunden mit der Struktur von Gesellschaft, die Elias’ Perspektive dauerhaft interessant macht. Stützte sich Elias u.a. auf Tischsitten und andere aufgezeichnete Verhaltensregeln, um solche Wandlungsprozesse zu beschreiben, sind es heute wohl die Popularkulturen, nicht nur Musik und Mode, genauso das Essen, Reisen, Konsumpräferenzen, Haltungen etc. an denen diese Wandlungsprozesse deutlich gemacht werden können.

Die aktuell wohl umfassendsten Gesellschaftsanalysen zu den letzten Dekaden stammen von Andreas Reckwitz, mit der ausdrücklichen Absicht für politische Überlegungen anschlussfähig zu sein (Die Zeit, 12. 08. 2020). Es geht nicht allein um Digitalisierung, sondern um ein Gesamtpanorama der Transformation von einer industriellen zu einer postindustriellen Ökonomie mit all seinen Ursachen und Folgen. Wie so viele soziologische Texte sind die von Reckwitz oft etwas sperrig zu lesen, aber anschlussfähig an andere Autoren. Eine Kernthese ist das Ende des einige Jahrzehnte währenden “Dynamisierungsliberalismus“. Nicht nur Digitalisierung (und jetzt Corona) hat die letzten Jahrzehnte geprägt, ebenso Globalisierung, eine Bildungsexpansion hat stattgefunden, Macht und Bedeutung stabilisierender Organisationen ist geschwunden und in diesen Prozessen gibt es Gewinner und Verlierer.

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung – mit diesem Satz  leitet Hartmut Rosa Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung ein. Durch das ganze Buch zieht sich eine grundsätzliche Kulturkritik, die sich an ein gestörtes Weltverhältnis richtet, dabei steht der digitale Raum oft in besonderer Kritik. Auch der lange Zeit kaum gebrauchte Begriff Entfremdung ist als Verstummung von Weltbeziehungen bei Rosa ein Merkmal unserer Moderne. Wege zu einer besseren Welt werden mit Resonanzachsen  beschrieben werden
Begriff und Konzept der Resonanz selber sind plausibel und verständlich. Die Bedeutung eines Ja oder Nein von Resonanz, ihr Gewicht von simpler Aufmerksamkeit bis zum Auslöser von Neuem ist den meisten Menschen mehr und mehr bewusst, ganz besonders in den Digitalen Medien. Aber ganz so hat es der Autor wohl nicht gemeint.

Stefan Kühl: Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis. Von der Gefahr des systemischen Ansatzes sich in Beliebigkeit zu verlieren (2015). David B. Clear: Zettelkasten — Wie ein Deutscher Gelehrter so unglaublich produktiv war (2020).  Vgl. Rezensionen auf diesem Blog:  Armin Nassehi: Muster – \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft; Dirk Baecker: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt; Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten & Das Ende der Illusionen . Interview in der Zeit, 12.08.20  Felix Stalder: Kultur der Digitalität; Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung.  Interview in der Badischen Zeitung 22.09.20



Inside Facebook (Rez.)

Gegenüber dem nüchterneren Original Facebook – The Inside Story klingt der deutsche Titel Facebook- Weltmacht am Abgrund reisserisch, hält manche wohl eher vom Kauf ab. Das Buch erschien  im Februar 2020, kurz vor der Corona- Krise. Autor Stephen Levy ist Technik-Redakteur, Kolumnist und Senior Editor (Wired, Newsweek).
Das Buch (688 S.) beruht v.a. auf über 300 Interviews, die Levy mit aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern von Facebook geführt hat, darunter sieben mit CEO Mark Zuckerberg – aber auch mit Wettbewerbern, Gesetzgebern, Kritikern etc. Der weitreichende Zugang zu Interna wurde ihm in der amerikanischen Rezeption vorgehalten:  In short, don’t believe everything you read—especially when written by journalists who boast about years of access to billionaires and their accomplices. Access journalism isn’t journalism, it’s corporate propaganda, and this is sadly no different (so FB- Kritiker Aaron Greenspan).  Genauso das Gegenteil: Levy cannot write for more than a few pages without hurling insults at Facebook, Zuck, or any of its many employees. Seriously – open up and read any few pages at random to see for yourself. There’s nothing objective about this writing; a smear campaign, at best (anon./amazon)

Tatsächlich liest sich das Buch als kritisch- analytische Geschichte des – oft aggressiven- Wachstums vom StartUp im Universitäts- Umfeld zum global agierenden so-gut-wie Monopolisten. Dass ein solcher Aufstieg nicht ohne Konflikte, Skandale und ein beträchtliches Macht- und Sendungsbewusstsein gelingt, versteht sich.
Von Beginn an war für die Entwickler klar, dass FB eine Anwendung ist, die für jeden Menschen auf der Welt infrage käme. Allerdings galt dies grundsätzlich für die Möglichkeiten des Web 2.0 – FB ist es gelungen, sie zu bündeln, Konkurrenten auszuspielen und kommerziell zu verwerten. FB wurde zum globalen Gebilde, zum Netz im Netz. Nutzer brauchten kaum mehr technische Kenntnisse, um daran teilzunehmen.

Grossen Raum nehmen die Jahre des Aufstiegs und des unbedingten Willens zum Wachstum bis ca. 2012/13 ein. Move fast and break things ist das Motto dieser Jahre,  die Arbeitshaltung wird als The Hacker- Way beschrieben.  Hacker im Sinne davon, Dinge möglichst schnell auf den Markt zu bringen, um sie später zu verbessern. Liessen sich Konkurrenten nicht kaufen, kopierte man die Funktionen.
Offene Registrierung und der persönliche Newsfeed – mit einem möglichst stetigen Stream von Ereignissen – waren von Beginn an charakteristische Kennzeichen. Einige Merkmale kamen hinzu: der Like- Button, der schnell zum weltbekannten Logo wurde, die Vorschlagsliste people you may know (PYMK) – und damit verbunden die Sammlung von Informationen zu Nicht- Nutzern, sog. Schattenprofile. Hinweise darauf, dass FB mehr Informationen sammelt, als wissentlich mitgeteilt werden.
Wer nicht zahlt, wird selber zum Produkt – ein oft wiederholter Satz. Wahrscheinlich lässt sich das Geschäftsmodell FB am besten als Dreiecksgeschäft beschreiben: je mehr FB von seinen Nutzern weiss, desto besser lässt sich personalisierte Werbung verkaufen. Ohne Mehrwert für Nutzer funktioniert das Geschäft aber nicht. Der Mehrwert ist v..a. Convenience – die einfache Nutzung der Möglichkeiten des Social Web: eine Gruppe anzulegen und Diskussionen anzustossen, Veranstaltungen zu bewerben, live streamen, der Zugang zu (Teil-) Öffentlichkeiten ohne weiteren Aufwand u.v.m – Social Web unter einem Dach.  Werbetreibende Unternehmen kaufen genau diese Zugänge zu klar umrissenen Zielgruppen ein. Darüber wurde  FB- Marketing zu einer neuen (Teil-) Branche des Marketing.

In den frühen Jahren des Social Web standen die demokratischen Effekte der Vernetzung im Vordergrund der Wahrnehmung. So wurde FB als ein Motor des arabischen Frühlings gefeiert. Das Bild änderte sich. Die Marketingmaschine FB kann genauso gut politische Propaganda zielgenau auf ein empfängliches Publikum richten – bei der Trump- Wahl 2016 konnte  dessen Team die Möglichkeiten perfekt nutzen. Die Teilöffentlichkeiten  des Netzwerks sind nicht nur Orte des Austauschs mit Respekt: Hasskommentare, Desinformation/Fake News, simple vulgäre Pöbelei treten immer wieder hervor. Die Datenskandale, v.a. Cambridge Analytica – werden im Buch ausführlich behandelt.
Zu FB gehören der als App ausgelagerte Messenger und die Zukäufe instagram und What’s App, die sich in den letzten Jahren beide besser als die Mutterfirma entwickelt haben. Alle sind sie Teil der Alltags – bzw. Popularkultur geworden.  Instagram  blieb bis jetzt relativ eigenständig, soll in Zukunft stärker integrierte werden. What’s App läuft meist unter dem Radar  und spielt eine enorme Rolle in der Alltagskommunikation und als Treiber von digitalem Tribalismus. In der Kritik steht v.a. das Auslesen der Kontaktlisten von Nutzern.

Facebook ist das jüngste der GAFAM*-Imperien und Mark Zuckerberg der jüngste im Kreise ihrer Herrscher, der einzige aus der Generation, die selber mit dem Computer aufgewachsen ist. FB ging als The winner takes it all des Web 2.0 hervor, 3 Milliarden Menschen nutzen täglich die Dienste des Konzerns zum Kommunikationsaustausch. Macht und Einfluss von FB beruhen auf der Adressierbarkeit von Personen und Zielgruppen im Rahmen der Struktur, die FB bietet.
Thema des Schlusskapitels ist die im März  2019 verkündete Strategie The Next Facebook als Paradigmenwechsel  zu A Privacy Focused Vision for Social Networking. Levy sieht sie zumindest kritisch. Dahinter steht sicher die Frage, wie Unternehmen, die sich in  einer Medienrevolution rasend schnell entwickelten, ihre Bedeutung in einer Welt halten,. die ja nicht  aufhört, sich zu verändern.

Das Buch liest sich flüssig, ist detailreich recherchiert und soweit anekdotisch, dass Personen und Atmosphäre vorstellbar werden. Als ein erzählendes Sachbuch steht es irgendwo zwischen Unternehmensbiographie, Langzeitreportage aus Silicon Valley und einer Kulturgeschichte der Gegenwart zum Medienwandel. Personell tritt neben Zuckerberg v.a. Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg hervor.
Die umfangreichen Quellenangaben,  Sach- und Personenregister  machen es einfach im analog gedruckten Text zu navigieren.

Stephen Levy:  Facebook. Weltmacht am Abgrund    Droemer Knaur, München 2020.  687 S.  26,- € – Orig.: Facebook: The Inside Story,   GAFAM = Google/Alphabet, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft

 



Postdigital – wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen … (Rezension)

Wie können intelligente Menschen intelligente Maschinen auf intelligente Weise nutzen? – so das Motto auf der Rückseite.  postdigital  (mit dem langen Untertitel “wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen ohne uns von ihr bevormunden zu lassen”) – ist das dritte Buch von brandeins – Autor Thomas Ramge zum Themenfeld KI in den letzten drei Jahren.  Im Oktober 2017 war Das Digital erschienen, kurz darauf der Reclam- Band Mensch und Maschine.
Postdigital geht zurück auf ästhetische Diskurse zu elektronischer Musik und Medienkunst, wurde bereits 1998 von  Nicholas Negroponte in der Kolumne The Digital Revolution is Over (Wired) im heutigen Sinne verwendet – und bedeutet, dass digitale Technik in ihrer Selbstverständlichkeit nur noch durch ihre Abwesenheit auffällt (155). Ramge verbindet damit eine optimistische Zielvorstellung – in dem Sinne ist Digital das neue Banal – und es kommt darauf an, sie möglichst sinnvoll, nützlich und unauffällig in die Lebenswirklichkeit einzubauen. Digitale Techniken sollen das Leben besser bzw. einfacher machen.

Bis zu dieser Zielvorstellung geht es darum,  wie KI – oder sagt man doch besser “aus Daten lernende Systeme”? – technisch funktioniert und sozial wirkt. Das Wesen von KI ist die Automatisierung von Entscheidungen, die in ganz unterschiedlichen Bereichen (29-32) umgesetzt wird, immer wieder geht es um das Erkennen von Mustern in grossen Mengen an Daten:  automatisiertes Fahren, Dating- Apps gleichen Profile nach möglichen Matchings ab, in Medizin/Public Health z.B. in der Computertomografie, im Finanzsektor, in der Online- Suche führt sie uns personalisierte Werbung zu – aber auch automatisierte Waffen (so etwa bewaffnete Drohnen) basieren darauf.
KI – darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Techniken – wird ebenso zum Machtausbau – kommerziell wie politisch – genutzt:
Zur Monopolisierung von  Daten, um Renditen zu sichern, zur Manipulation von Individuen, bishin zum strategischen politischen Einsatz zur Absicherung autokratischer Regimes. 

Zweimal werden Szenarien als Erzählungen entworfen. Zum einen ein dystopisches Gedankenspiel (80-83) mit Überwachungs- und Scoringprogrammen incl. der  Incentivierung von Wohlverhalten, wie sie irgendwo auf der Welt heute im Einsatz sind – nicht nur in China.
Im optimistischen Szenario geht es um den Alltag mit einem fiktiven persönlichen KI- Assistenten (129 ff). MyAI, so heisst der fiktionale Assistent im kostenpflichtigen Monats- Abo, stellt Nutzer- vor Anbieterinteressen, integriert die vielen kleinen Alltagsentscheidungen in die grundsätzlichen Lebensentscheidungnden – eine Perspektive unterstützter Selbstoptimierung bzw. KI Nudging, incl. medizinischer Notfall- Kontrolle. 
Ausserdem gibt es den Entwurf einer 2030- Perspektive, beruhend auf den Ergebnissen eines Delphi- Panels mit 28 Thesen zu KI zum Jahre 2030 (102-128). Leser können das Expertenpanel nachspielen, die Thesen sind im Anhang abgedruckt. Nebenbei: eine Software die dabei konstellatorisches Denken fördert, gibt es noch nicht.
Die Ambivalenz von KI und der Bedarf an Regelsetzung (so in Sachen Fairness und Nichtdiskriminierung)  wird thematisiert, dabei fällt u.a. das Wort eines KI – TÜV bzw. einer spezifischen Stiftung, die absichern sollten, dass Nutzer- vor Anbieterinteressen gehen.
Eine bisher wenig beachtete Perspektive tritt hervor: Der Gegensatz von lovely und lousy – zwischen den agilen und kooperativen Jobs mit der Chance der Befreiung von starren Hierarchien, oft remote, in der die Früchte von KI Anwendungen genossen werden, und den ausführenden Servicedienstleistern, die sie als Kontrolle spüren.

Manches kehrt wieder, was in den beiden letzten Büchern bereits vorkam  – so zum Polanyi- Paradox oder der Kitty Hawk Moment im minimalistischen Reclam- Bändchen Mensch und Maschine. Jetzt aber in grosser Schrift und fettem Druck. Die neueste Auflage wurde um ein Update zur Corona- Krise ergänzt. Mit der Krise tauchen neue sinnvolle Einsatzmöglichkeiten auf. Wie nutzen wir den Datenreichtum zu ihrer Bewältigung?

Das  Buch ist flüssig und durchaus kurzweilig geschrieben, oft anekdotisch angereichert, es knüpft an aktuelle Diskurse an und nutzt einige male das Stilmittel der fiktionalen Erzählung. Es liest sich wie ein guter  Artikel in einem Magazin,  longread.  Am besten auf einer längeren Zugfahrt ….  dank des Schriftbildes bequem lesbar für alle Altersgruppen.
Gespannt bin ich auf das nächste Buch, das im Herbst erscheinen soll “Machtmaschinen – Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen“. 

Thomas Ramge: postdigital. wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen ohne uns von ihr bevormunden zu lassen. Murmann Verlag, Hamburg 2020, 163 S. + Anm. u. Quellen.; 20 €, ISBN: 978-3-86774-646-5



Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne (Rezension)

Das Ende der Illusionen –  gemeint ist damit das Ende einer von Fortschrittsoptimismus geprägten liberalen Grundhaltung, die seit 1989 dreissig Jahre lang bestimmend war. Auch der Prozess der Digitalisierung als prägende technologische Entwicklung reiht sich in dieser Sicht  in das Fortschrittsnarrativ ein.
Andreas Reckwitz’ Thema ist der Wandel in der Sozialstruktur und der sie tragenden kulturellen Modelle –  von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne zu einer Dominanz des Liberalismus in beiderlei Gestalt: dem gesellschaftspolitischen Linksliberalismus und dem Marktliberalismus der Wirtschaft. Der doppelte Liberalismus führt  schliesslich in eine neue Drei-Klassengesellschaft (so der Titel des zweiten Kapitels, 63-133). Trägergruppe des Liberalismus ist ein Neuer Mittelstand, der oft mit Wissensökonomie und Kreativwirtschaft assoziiert wird.
Vor zwei Jahren (10/2017) war bereits Die Gesellschaft der Singularitäten erschienen, wo Reckwitz die These der Singularisierung und der kulturellen Valorisierung der Lebensformen aufstellte. Eine Kernthese war der Bedeutungsverlust des Allgemeinen (d.h. auch des Konformen und Konventionellen) gegenüber dem Besonderen – von einer Gesellschaft der Gleichen zu einer der Singularitäten (Besonderheiten).
Der Band setzt sich aus fünf einzelnen Essays zusammen, die  sich unabhängig voneinander lesen und verstehen lassen, zusammen ergeben sie eine Zeitdiagnose der Spätmoderne. Reckwitz deutet die Epoche als kulturellen Kapitalismus, in dem sich eine kulturelle Öffnung der Lebensformen durchgesetzt hat.

Zwischendurch hatte ich das Buch aus der Hand gelegt – mitten in die Lektüre  rollte die Corona– Krise. Und damit ein neuer, anderer Blick auf gesellschaftliche und kulturelle Transformationen. Manche Sätze und Formulierungen springen jetzt ins Auge: Der Umschlag der öffentlichen Debatte vom unbeirrbaren Fortschrittsoptimismus in Dystopie (und Nostalgie.., 15) ist uns jetzt tatsächlich vertraut geworden. Dass die Welt  grundsätzlich offen steht – war noch vor kurzem ein scheinbar unverrückbares Lebensgefühl (10) – und weckt derzeit Wehmut und stösst an das perplexe Gefühl geschlossener Grenzen. Müssen wir von dieser Selbstverständlichkeit Abschied nehmen? Das Buch schliesst mit Aussichten auf die Gesellschaftsentwicklung des 21.Jahrhunderts, die Verlusterfahrungen mit sich bringt, die sich nicht ohne weiteres kurieren lassen (304). Manchmal hat man tatsächlich den Eindruck, dass Buch wäre auf eine Krise wie Corona hin geschrieben worden.

Reckwitz zeichnet das Bild einer bereits desillusionierten Gesellschaft. Das Buch beginnt mit dem historischen Bruch der Trump- Wahl als Teil einer  internationalen populistischen Revolte.
Es sind gesellschaftliche Spaltungslinien, wie sie seit – wie lange eigentlich schon? –  immer wieder genannt werden: auf der einen Seite urbane, liberale Kosmopoliten, auf der anderen Seite stagnierende, zumeist ländliche Mittelschichten,  unten ein aus dem System herausfallendes Prekariat.  Die Trennlinie wird kulturell markiert, um die Gegensätze Hyperkultur und Kulturessenzialismus. Kulturalisierung in diesen beiden Formen spielt bei  Reckwitz eine überragende Rolle. Hyperkultur bedeutet eine Überkultur, eine auf Diversität ausgerichtete Einbeziehung und Verschränkung kultureller Elemente unterschiedlichster Herkunft – für nach Selbstentfaltung strebende Individuen ein Paradies der Möglichkeiten, die auf Aneignung warten (39).  In der Ausformung als Konsumkultur ein Kennzeichen des kognitiven Kapitalismus.
Kulturessenzialismus umfasst die Fundamentalismen, Populismen und Nationalismen etc., die allesamt an echte und vermeintliche Gruppenidentitäten  anknüpfen, ob es sich um Religion, Nation, oder andere Gemeinschaftsversprechen handelt.

Drei- Klassen- Modell in den Sinus- Milieus (S.124) erscheint nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seite

Reckwitz’ Modell einer Drei- Klassen- Gesellschaft orientiert sich an den Sinus- Milieus. Vier dieser Milieus (s. Abb.re.) fasst er zur Neuen Mittelklasse (steigt auf) zusammen – jeweils dreieinhalb zur alten Mittelklasse (stagniert) und zur neuen Unterklasse (steigt ab), ganz obenauf die kleine Oberschicht, die ganz frei von materiellen Einschränkungen   lebt.
Fragt sich,  wie weitgehend  man sich mit diesem Modell anfreunden kann: Sinus-Milieus wurden zur Markt- und Konsumforschung entwickelt, sie bilden Lebensstile und davon bestimmte Konsummuster ab. Es gibt sie für viele  nationale Märkte,  in Grundversionen für Established und Emerging Markets.
Beide “Kulturalisierungsregimes” spielen eine bedeutende Rolle, aber wie einheitlich sind die “Klassen” überhaupt intern, was verbindet sie? Reckwitz blendet die materiellen Unterschiede innerhalb der Klassen weitgehend aus. Gemeinsam ist der Anspruch auf kulturelle Deutungshoheit, ein kulturelles Kapital, das  Zugang zu und ein Gewicht in den Diskursen gewährt, aber nicht kongruent mit ökonomischem Kapital verbreitet ist.  In der Rezeption führte die Zusammenlegung zu einigen seltsamen Schlüssen, wenn diese Neue Mittelklasse zur Elite umgedeutet wird, die sich selber als Speerspitze des Fortschritts sieht (vgl. Wer sind die “Neuen Eliten”?).
Und: umfasst der Rahmen der Hyperkultur denn nur einen akademisch gebildeten Mittelstand? Ist nicht das ganze weite Feld der zeitgenössischen Popularkultur mit den digitalen Netzen, Videospielen, Moden, den Sportarten, dem Streetfood und den Popsongs, den Urlaubszielen oder auch den valorisierten Sneakern (183/84), bis hin zu Trash- und Bildungs- TV von ihr durchdrungen? Prekarität ist eine ökonomische Lage, die auch Mittelschichtler treffen kann, nicht allein das Problem sog. Abgehängter.

Die interessantesten der fünf Essays sind wohl 3. Polarisierter Postindustrialismus und kognitiv-kultureller Kapitalismus (135-201) und evtl. 4. Erschöpfte Selbstverwirklichung. Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien seiner Emotionskultur (203-238). Es geht um die Ausformung des kulturellen Kapitalismus auf gesellschaftlicher und individueller Ebene; Werte der Selbstverwirklichung, die sich bis dahin in Sub- bzw. Alternativkulturen entwickelt hatten, verbreiteten sich in der Neuen Mittelklasse.  Polarisierter Postindustrialismus meint das Auseinanderklaffen zwischen Wissensarbeit und Service- Dienstleistungen. Den kognitiv-kulturellen Kapitalismus begreift Reckwitz als Kern der neuen Ökonomie. Globalisierung, Neoliberalisierung und Finanzialisierung stellen die Rahmenbedingungen. Güter werden zu kognitiven Gütern durch  immaterielles Kapital/intangible Assets (141): so etwa Patente, Urheberrechte, Humankapital, Netzwerke, Datenbestände. Was auf dem Markt erfolgreich sein soll, muss im kulturellen Kapitalismus über die reine Funktion hinaus einen symbolischen Wert haben (142).

Reckwitz’ Ausführungen erscheinen fast schon als Rückblick auf eine gerade zu Ende gehende – wie nennt man sie am besten?  – Epoche  (die des doppelten Liberalismus? – oder doch die neoliberale?), eine Epoche in der Selbstverwirklichung mit Selbstmarketing erreicht wird, in der Konsumkritik zwar allgegenwärtig ist, aber sich eine hochdifferenzierte  Konsumkultur entwickelte. Es ist die Zeitspanne der Generation, die mit Francis Fukuyama (Das Ende der Geschichte, 1992) Liberalismus als alternativlos erlebte und als Neue Mittelklasse die Früchte des wirtschaftlichen wie des gesellschaftlichen Liberalismus genoss und ihre Distinktionsbedürfnisse im singularisierten Konsum auslebt(e).
Das letzte Kapitel „Die Krise des Liberalismus und die Suche nach dem neuen Paradigma: Vom apertistischen (öffnend wirkenden) zum einbettenden (bzw. regulativen) Liberalismus“ (239-304) soll den Weg in eine mögliche Zukunft weisen.
Eine These bleibt hervorzuheben: die eines lagerübergreifenden  politischen Paradigmas (241), das über mehrere Jahrzehnte im politischen Diskurs (nannte man das nicht mal Zeitgeist?) und Regierungshandeln prägt.  Ist dessen Problemlösungsfähigkeit erschöpft, wird es von einem anderen politischen Paradigma abgelöst. Mittlerweile bestimmen die Debatten darüber, wie der enthemmte Neoliberalismus die Stabilität gefährdet und soziale Ungleichheiten fördert, immer mehr die öffentliche Diskussion. Das Unbehagen an der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, Klimawandel, Themen wie Overtourismus vs Reisefreiheit treten hervor.

Zwar kommt Elias nicht, und Bourdieu nur am Rande vor, Reckwitz’ Ausführungen sind aber vereinbar mit deren Modellen zur langfristigen Sozio- und Psychogenese und zur Ausbildung des Habitus.  Der Habitus der spätmodernen Mittelklasse hat seine Wurzeln u.a. in den Gegen- und Alternativkulturen der 70er und 80er Jahre, die sich über Studentenszenen, Bohème, Pop- und auch Nerdkultur verbreiteten und die sich später mit der ökonomischen Verwertungslogik verbanden. Konzepte wie Coolness, die zunächst eine Haltung bezeichneten, dienten schliesslich dem Selbstmarketing, mit dem (auch) Selbstverwirklichung betrieben wird.

Leider gibt es weder Register noch Literaturangaben, allerdings ein ausführliches Inhaltverzeichnis. Das erleichtert zumindest die Orientierung und  ermöglicht immer wieder den Quereinstieg.

Andreas Reckwitz:; Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S.  vgl.: Andreas Reckwitz:  Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus. Die Spätmoderne im Widerstreit zweier Kulturalisierungsregimes (2016)



SideMenu