Zivilisation und Habitus in der Digitalen Consumer Culture

Vor einigen Wochen (27.09.) habe ich gemeinsam mit dem Zeithistoriker Massimiliano Livi ein von uns provisorisch so genanntes Mini-Online-Symposium zum Thema Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – Wandel in Technologie, Gesellschaft und dem individuellem Habitus – veranstaltet.
Sinn und Ziel der Veranstaltung war es, die auf Norbert Elias zurückgehende Zivilisationstheorie in aktuelle Diskussionen einzubringen und so Entwicklungen der letzten Jahrzehnte + der kommenden Jahre zu beleuchten. Wie sind der Wandel in Technologie, Gesellschaft und individuellem Habitus miteinander verbunden? – eine Fragestellung mit Belang für Zeitgeschichte, Zukunfts- und Transformationsdiskussion, Konsum- und Trendforschung u.v.m. In einem zweiten Beitrag ging es um die Frage, wie soziale Ordnung in der fragmentierten digitalen Gesellschaft des XXI. Jahrhunderts möglich ist.  Sind neu entstehende soziale Formationen tragfähig genug?
Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener, evolutionärer Prozess. Ungesteuert, aber doch von erkennbaren Faktoren beeinflusst und angetrieben. Bei Elias ging es um Wandlungsprozesse – heute würde man von Transformationen sprechen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese, die langfristige Entwicklung von Gesellschaften.
Technogenese, die Co- Evolution von Technik und Gesellschaft, ist als Begriff ziemlich neu, tauchte erst seit 2012 auf. Technologische Innovationen sind keine isolierten Ereignisse, sie entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Auf Armin Nassehi geht die Aussage, dass sich Techniken nur dann durchsetzen, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen, zurück (vgl. Nassehi, 2019). Eine These, die ich seit längerem beobachte –  bisher nicht falsifiziert. Eine Frage ist, ob die erfolgreichen disruptiven Innovationen zwar ihre ökonomischen Vorgänger schnell verdrängen – aber eben deshalb erfolgreich sind, weil sie an neuere Dispositionen in der Gesellschaft anknüpfen?
Neue Technologien treffen oft auf laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Sie werden (weiter-) entwickelt., wenn bereits eine Vorstellung davon vorhanden ist, was mit ihnen möglich ist (vgl. Stalder 2016, 21 ff). Warum hat sich das mobile Internet mit dem SmartPhone in kürzester Zeit weltweit verbreitet? Und warum wird es das Metaverse – zumindest in der Form, in der es gepusht wird, wahrscheinlich nicht – obschon  immersive Technologien sich stetig verbreiten?

Auf Elias, mehr aber noch auf Pierre Bourdieu (1930 – 2002; La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, dt, Die feinen Unterschiede, 1984) geht auch das Konzept des Habitus zurück. Im jeweils spezifischen Habitus spiegelt sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, erkennbar in Lebensstil, Kleidung, Sprache, Konsum, Auftreten und Verhalten. Elias beschrieb die Herausbildung des Habitus als Zivilisierung in den Oberschichten bis zum 19.Jh., Bourdieu seine Inkorporierung im franz. Bürgertum der 60er/70er Jahre und führte dabei Begriffe wie kulturelles und soziales Kapital ein. Beide beschreiben Prozesse und Muster mit exemplarischem Anspruch, deren empirischer Bezug aber schon länger zurückliegt.
Das “Mini- Symposium” – online- Seminare sind mittlerweile ein eingeführtes Format und einfach zu organisieren – war als erster Einstieg in eine Diskussion gedacht, eine Einladung an  Interessierte, wie die Konzepte von Elias und Bourdieu auf Wandel in aktuellen Gesellschaften angewendet werden können – als eine Art theoretisches Dach.

Eine Aktualisierung des Zivilisationsprozesses hatte zuerst der Amsterdamer Soziologe Cas Wouters seit den 70er Jahren  mit der Informalisierungsthese  formuliert. Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, die flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt.
Der damals offensichtlich werdende Wandel fiel in die Spätzeit der Ära, die von Massenproduktion, Vollbeschäftigung, wachsender Teilhabe am Wohlstand geprägt war. In den Niederlanden kannte man das Modell der Verzuiling, im Deutschland der Sozialen Marktwirtschaft sprach man mitunter vom Nivellierten Mittelstand.  Grosse, stabile Organisationen prägten Wirtschaft und Gesellschaft. Medien waren v.a Massenmedien, Massentourismus hatte sich verbreitet. Diversity war noch kein Thema.

Wandel im Habitus: Verbreitung der Maxime Coolness

Der Wandel ging von den Rändern aus – Subkulturen, Counterculture, alternative Szenen. Die Wirtschaft öffnete sich zur sog. Künstlerkritik an der Entfremdung durch gleichförmige Tätigkeit. Werbung und Marketing vereinnahmten das Prinzip Coolness und Popkultur. Nicht mehr nur die legitime (Hoch-) kultur, wie bei Bourdieu, auch Popularkulturen bedeuteten kulturelles Kapital. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, Selbstkontrolle wird mehr und mehr zum Selbstmanagement.

Entwicklungen, die sich über die letzten Jahrzehnte und Generationen hinzogen, bis sie die Gesellschaft durchdrungen haben. Etwas grob zusammengefasst, gingen Märkte und Selbstverwirklichungskultur eine Symbiose ein.  Das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums entstand, ein expressives Selbst, das nicht einfach Konventionen folgt – aber innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens bleibt,  und – im Idealfalle – die  ökonomische Eigenverantwortung annimmt. Kreativität wurde als Ressource von Innovation und Fortschritt aufgewertet.

Consumer Culture wurde in den 90er und 0er Jahren formuliert: Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets² – eine Beschreibung von 2005, die wohl auch heute noch gültig ist, ergänzt als digital Consumer Culture in einer von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägten Lebens- und Arbeitswelt. Zwar stehen in den Diskussionen oft Nachhaltigkeit, das Maß persönlicher Autonomie und Kreativität am Arbeitsplatz, die Wahlmöglichkeiten der Lebensführung im Vordergrund – letztlich entscheidend bleiben die Märkte (auch Aufmerksamkeitsmärkte).

Allerdings kann Zivilisation auch einen Dreh nehmen: Gesamtheit der im Entwicklungsprozess erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten, die es der Gesellschaft ermöglicht, in der je spezifischen Art und Weise ihre Probleme zu lösen  – so lautet eine Definition von Zivilisation³, die Entscheidungen einbezieht – aber kaum verordnet werden kann, sondern überzeugt gelebt werden muss.

Ein entscheidender Wandel  liegt im Modell der Digitalität: Digital können Verknüpfungen viel einfacher  hergestellt werden, als in einer hierarchischen Pyramide. Digitalität ermöglicht Anschlussfähigkeit durch Adressierbarkeit, ein vielfältiges Matching. Warum nahm die sog. digitale Landnahme ausgerechnet ihren Ausgangspunkt in der Musikwirtschaft, über das Wissen  über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt? (vgl. Michael Seemann. Die Macht der Plattformen)
Soweit jetzt, Zivilisationsprozess und das Konzept des Habitus ermöglichen eine breite Sicht auf Zukunft, Wandel, Märkte und Konsum. Ich freue mich auf Feedback und eine Weiterführung der Diskussion..

Blogbeiträge mit Bezug zur Zivilisationstheorie:  Über den Prozess der Digitalisierung  – Machtbalance und Figuration Digitale Figurationen   Die grosse Transformation. Polanyi und die Digitalisierung, Digitaler Habitus, Was treibt die Zukunft an, Zivilisationsprozess continued, Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – ein Mini- Symposium
¹als Künstlerkritik wird die Kritik am Kapitalismus bezeichnet, die sich gegen Entfremdung im fordistischen Kapitalismus richtete, Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und Spaß einfordert; daneben steht die Sozialkritik, die sich auf Solidarität, Sicherheit und Gleichheit gründet und diese einfordert
² Eric J. Arnould, Craig J. Thompson 
In: Journal of Consumer Research, Volume 31, Issue 4, March 2005, Pages 868–882, ³ aus Lexikon der Soziologie 4. Auflage 2007

vgl.: Norbert Elias  Über den  Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen,  1938 u. 1969. Band 1 u. 2.  .Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, . dt: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1984  Cas Wouters: Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990. Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus. 1998 Thomas Frank: the conquest of cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. 1997. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 1991/2007  Felix Stalder: Kultur der Digitalität. 2016



Metaverse – Szenarios

Zugang zur neuen medialen Infrastruktur – Quelle: Martin Sanchez; unsplash.com

Seit einem Jahr (10/21) ist das Metaverse als Hype in der Welt. Corporate driven, ausgelöst von Meta/Facebook. Weniger spektakulär, aber ebenso engagiert ist Microsoft. Apple verfolgt eigene  Ziele. Im weiteren sind  der chinesische Online- Gigant Tencent und Grössen  aus Unterhaltung und Consumer- Lifestyles  wie Disney, Nike + einige Modemarken dabei.

In erster Linie ist das Metaverse ein Entwurf, eine Vorstellung von Zukunft, anknüpfend an Erzählungen aus Science Fiction und der Frühgeschichte des Web, angetrieben von den sich voraussichtlich weiter entwickelnden technischen Möglichkeiten. Den Hype entfachen dann Investments: Gewinne aus dem Social Web (2.0) fliessen in den Ausbau neuer Entwicklungsstufen des Netzes, gleich ob diese nun Web3, Metaverse oder schlicht das nächste Internet genannt werden.
Futures Appropriation¹ – übersetzbar als angeeignete Zukunft – meint eine taktische  Positionierung bzw. das narrative framing eines ausgewählten  Zukunftsszenarios als das exklusiv folgerichtige und wünschenswerte- zumeist ein von Investoren vorgezeichnetes Modell. Andere potentielle Zukünfte werden so in den Hintergrund gestellt.
Das Metaversum wird unsere Gesellschaft so prägen wie heute das Internet – und in wenigen Jahren dürfte es losgehen – meint Matthew Ball, Autor des grundsätzlich sehr lesenswerten Buches zum Metaverse (Rezension), in einem Interview mit der NZZ. Demnach eine zwangsläufige Entwicklung, der man sich stellen und anpassen muss. Das echte Metaversum basiert auf einem komplexen Netzwerk an Protokollen und Technologien, die es möglich machen, dass verschiedene virtuelle Welten miteinander kommunizieren. Diese volle Version eines Metaversums, eine angereicherte Umgebung, in die wir in Echtzeit völlig eintauchen und die wir gemeinsam erleben wie heute ein Konzert – das ist vermutlich noch ein Jahrzehnt entfernt (NZZ  21.09.22).
Zu unterscheiden ist immer zwischen den Techniken, die ein zukünftiges Metaversum möglich machen und diesem selbst.

Auf dem letzten Metaverse MeetUp Köln (4.10) wurde eine aktuelle Studie zur Entwicklung der XR/Extended Reality Branche in Deutschland vorgestellt. XR/Extended Reality (Oberbegriff zu AR/VR/Mixed Reality) ist Voraussetzung für das Metaverse. Techniken, die erst die immersiven Möglichkeiten schaffen, die ein Metaverse ausmachen. In Nordrhein- Westfalen ist es eine aufstrebende Branche  mit einer ganzen Reihe sich weiterentwickelnder Anwendungsfelder.
Aufschlussreich ist eine Übersicht als Zielmarkt-Content-Matrix (27)  mit Geschäftsfeldern und Zielmärkten. Erwartungsgemäss sind Gaming-Inhalte Killer-Applikationen im B2C-Segment. Vieles lässt sich mit Infotainment übertiteln: Anwendungen für Museen, Freizeitparks etc, Produktpräsentationen, Architekturmodelle, Simulationen zu Trainingsanwendungen, darunter auch in der Physiotherapie, das multisensorische Feedback wird therapeutisch genutzt. Schliesslich virtuelle Konferenzräume und kollaborative Arbeitsumgebungen, wie wir sie heute u.a. von Zoom kennen – mit weitaus mehr Möglichkeiten. Im wesentlichen sind es massgefertigte Auftragsproduktionen, zunächst  insulare Anwendungen.

Dass sich immersive Technologien verbreiten,  keinerlei Zweifel – aber es geht (noch) nicht um eine neue mediale Infrastruktur.  Der Hype hat die Branche und ihr ganzes Umfeld, das Ecosystem gestärkt. Frage ist, ob und wie sie zusammenwachsen. Es fehlen die wirklich attraktiven Anwendungen.  Die Technik verbessert sich, einst klobige Headsets wurden leichter, Meta/Facebooks Oculus ist derzeit der Stand. Eine bedeutsame Entwicklung ist seit Juni 2022 das Metaverse Standards Forum, in dem zukünftige Standards vereinbart werden sollen, ähnlich dem Internet.
Ein Thema wird kaum diskutiert: der zu erwartende Energieverbrauch bei Echtzeit- Rendering in ungeahntem Ausmass.  Gelegentlich wird Nachhaltigkeit erwähnt, etwa Einsparungen durch de- materialisierte Technik, aber wenig überzeugend.

Das Metaverse wird aber erst dann zu dem Metaverse, that will revolutionize everything, wenn es zu der weltweiten medialen Infrastruktur geworden ist, wie es das heutige Internet ist. Entscheidend ist die Durchlässigkeit, das Zusammenwachsen der einzelnen immersiven Umgebungen –  entsprechend etwa dem Bild der Begehbarkeit eines virtuellen öffentlichen Raumes. Das beinhaltet nichts weniger als das Entstehen einer neuen Form von Öffentlichkeit, die noch völlig unerprobt ist.
Ein simples Beispiel: Im Spiegel² war neulich ein Artikel über eine südkoreanische Designerin zu lesen, die  Kleider, Frisuren und Schmuck für Avatare entwirft. Mode braucht Öffentlichkeit, einen Common Meeting Ground an dem ausgehandelt wird, was schön, was wichtig ist,  Mode ist auf Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit angewiesen. Bilden sich neue Formen heraus?  Öffentlichkeit ist mehr als eine Gaming- Community, die von Spielregeln geleitet wird. Wie verhalten sich mit Sensoren nversehene Avatare zueinander?
Ball spricht davon, dass sich problematische Erscheinungen gegenüber dem heutigen Internet nochmals verstärken werden: Beschimpfungen, Schikane, der Einfluss von Algorithmen auf unser Leben, Radikalisierung, Verschwörungstheorien. Verbreiten sich agressive Handlungen, sexuelle Belästigung? Entwickeln sich neue Formen von Kriminalität? Menschliches Verhalten wird erst in Aushandlungsprozessen zivilisiert.
In den 90er Jahren sprach man von virtuellen sozialen Beziehungen im Cyberspace, wie es damals hiess. Die Basis der Vergemeinschaftung bildete verschriftliche gesprochene Sprache.

Die Foresight Company Z.punkt stellte kürzlich das unten stehende Modell von 4 Szenarios vor. Wie sich ein Real Metaverse tatsächlich einmal ausgestaltet, ist wohl eine Frage technisch/ gesellschaftlicher Evolution – Technogenese, aber auch politischer Entscheidungen. Wahrscheinlich wird es letztlich sehr verschieden von dem sein, was wir uns heute vorstellen bzw.  uns vorgesteltl wird.
Walledverses wären von den grossen Technikkonzernen (GAFAM), in Kooperation mit Firmen wie Disney, Nike etc. aufgebaute immersive Erlebniswelten. 3D- Welten  im Geiste von Flagship Stores, man könnte sagen virtuelle Kathedralen des Konsumkapitalismus.
Gaming ist eine Schlüsselbranche, in der sich hohe Investitionen am ehesten amortisieren. Gaming hat zudem enormes popularkulturelles Potential – über verbreiten sich Moden, Haltungen etc., wie es lange Zeit in der Popkultur geschah.
Nicheverse(s) ist Sammelbegriff für in sich abgeschlossene, oft kurzlebige  immersive Welten. Sie werden  von/ für einzelne Communities betrieben. Sie verschwinden oft wieder schnell – können aber prinzipiell Keimzelle neuer Infrastrukturen  werden.

Metaverse- Scenarios von Z- Punkt – The Foresight Company 9/22 – wird nach Klick in voller Grösse auf neuer Seite angezeigt

 

 

Christian Zabel. Gernot Heisenberg, Daniel O’Brien: Extended/Cross Reality (XR in Deutschland 2022. Studie im Auftrag von Mediennetzwerk NRW. Stand 4.07.2022; 98 S.  (Download). Graphik von Z.Punkt. The Foresight Company. Metaverse- Meeting Köln. 1.09.2022- Interview mit Matthew Ball, NZZ , Marie-Astrid Langer 21.09.2022. – ¹ den Begriff Futures Appropriation habe ich von Dirk Songuer (Fieldnotes from the Metaverse) übernommen.;¹von: gartner.com   L. M. Sacasas: Notes From the Metaverse. The Convivial Society: Vol. 2, No. 16: Thomas Riedel: Metaverse-Podcast² von Katharina Graça Peters 31/2022:

 



Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft – ein Mini- Symposium

Bildquelle: @jamesponddotco /unsplash.com

Von Wandel wird viel gesprochen, von technologischem Wandel, von gesellschaftlichem Wandel, vom Wandel der Arbeit und vom Wandel zur Nachhaltigkeit.  Dabei geht es sehr oft um Innovation, Technologie, Megatrends etc.
Konzepte vom Wandel bzw. der Evolution technologischer, gesellschaftlcher und  kultureller Zivilisation kommen seltener zur Sprache.
Bei einer Diskussion, die aus einer Blogparade zu New Work hervorgegangen war, war ich schon vor einigen Jahren mit Massimiliano Livi, italienisch/ deutscher Zeithistoriker (Münster und Trier) ins Gespräch gekommen. Es ging u.a um Formen von Vergemeinschaftung, die auf Individualisierung folgen, so etwa Neotribalismus.
Herausgekommen ist nun ein Termin zu einer Art Online- Mini- Symposium  zum Thema Zivilisations/-prozess in der digitalen Gesellschaft (vgl. Zivilisationsprozess continued). Wie sind der Wandel in Technologie, Gesellschaft und individuellem Habitus miteinander verbunden? Gibt es einen Zivilisationsprozess zur digitalen Consumer Culture des Social Web und weiter? Der Entwurf einer Perspektive.

Es gibt zwei Impulsbeiträge. Im ersten geht es um einen weiten Bogen von Norbert Elias und Pierre Bourdieu bis hin zur digitalen Consumer Culture unserer Tage. Lässt sich ein Zívilisationsprozess erkennen und beschreiben, in dem sich die Entwicklung von Gesellschaft, individuellem Habitus und technischer Zivilisation gegenseitig durchdringen? Begriffe und Konzepte wie Habitus, Informalisierung,  digitale Landnahme und einige mehr tauchen auf. Wie hilfreich ist ein solcher Blickwinkel, sozialen und technologischen Wandel zu verstehen?

Im zweiten Beitrag geht es darum, wie soziale Ordnung in der fragmentierten digitalen Gesellschaft des XXI. Jahrhunderts möglich ist? Ist das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft für immer überholt? Greifen Klasse, Soziales Kapital und die normative Kraft sozialer Strukturen wirklich nicht mehr zu?

Termin ist Dienstag, der 27.09. 2022, 16.00. Anmeldung auf LinkedIn.

Zugangslink (Klick auf das Icon): 

Kurzer Rückblick (2.10.):
Zwar war die Zahl der Teilnehmer nicht allzu gross (ca. 15) und viele davon  waren zunächst Zuhörer mit “verdecktem Visier” (Video deaktiviert). Doch entwickelte sich dann eine angeregte Diskussion + einige spätere Feedbacks. Online- Konferenzen sind spätestens seit Corona Standard –  zur Beteiligung an offenen Diskussionsrunden nach dem Modell der Futures Lounge, muss aber wohl ausdrücklich aufgefordert werden.
Unser Interesse war, das auf Norbert Elias zurückgehende Konzept des Zivilisationsprozesses in aktuelle Diskussionen einzubringen und dabei wesentliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu beleuchten. Technogenese – die parallele Entwicklung von gesellschaftlicher und technologischer Entwicklung – wurde  als ein weiterer Bestandteil des Zivilisationsprozesses genannt. Zivilisation ist wohl so vielschichtig wie Kultur, der Gebrauch beider Begriffe  überschneidet sich vielfach. Um Wandel und Transformation geht es in aktuellen Diskussionen immer wieder – und ich bin der Überzeugung, dass das Modell des Zivilisationsprozesses dabei eine sehr sinnvolle Perspektive bietet.
Ebenso ging es um die Effekte, die mit der Auflösung bestehender Ordnungen einhergehen. Sind neu entstehende soziale Formationen tragfähig genug?  Viele Themenfelder werden damit angesprochen. So taucht die Frage auf, wie weit ein Interesse an einer Fortsetzung des Diskussionsformates besteht. Feedback ist willkommen!

 

Eine Definition von Zivilsation: “… Gesamtheit der im Entwicklungsprozess erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten, die es der Gesellschaft ermöglicht, in der je spezifischen Art und Weise ihre Probleme zu lösen…” (Lexikon zur Soziologie, 2007)

Impulsbeiträge: Klaus Janowitz, Soziologe, Betreiber dieses Blogs; PD Dr. Dr. Massimiliano Livi, SEAL – Forschungs- und Dokumentationsstelle, Fachbereich III – Geschichte – Universität Trier, https://tribes.hypotheses.org, @bes_tr
Profile: https://www.uni-trier.de/index.php?id=60671; https://uni-trier.academia.ed /MassimilianoLivi



Zivilisationsprozess – continued

zivilisierter Auftritt? Bild: unsplash.com

Auf Norbert Elias (1897-1990) und die Zivilisationstheorie bin ich im Blog immer wieder zu sprechen gekommen (s. u.). Seit dem Hauptstudium Soziologie hat mich  immer wieder die Frage beschäftigt, wie man mit der Zivilisationstheorie neuere Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft beschreiben und erklären kann.
Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener Prozess, der ungesteuert, evolutionär, verläuft.  Elias hatte den Zivilisationsprozess als langfristig gerichtet, durch wechselseitige Verflechtungen – Interdependenzen – angetrieben, beschrieben. Dabei gibt es immer wieder auch gegenläufige Tendenzen. Jede Zivilisation orientiert sich an ihren eigenen Werten, Verhaltensstandards setzen den Rahmen für Handeln und Empfinden.

Was das Werk von Elias auszeichnet und über den historischen Prozess hinaus interessant macht, ist die Verbindung und gegenseitige Durchdringung zweier Prozesse: der Herausbildung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen, Sozio- und Psychogenese. Es gibt Überschneidungen zu Karl Polanyi (1886 – 1964), The Great Transformation (1944): beide befassten sich mit langfristigen gesellschaftlichen Prozessen an der Schwelle der Vormoderne  zur Moderne, beide arbeiteten allgemeingültige Regelhaftigkeiten des Wandels heraus. Ging es bei Polanyi um die Durchsetzung des Prinzips der Marktwirtschaft und die Umgestaltung der Gesellschaft unter deren Primat, ging es bei Elias um Wandlungen in den Persönlichkeitsstrukturen hin zu einem gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang.
Eine zentrale Rolle spielt die Ausformung des Habitus, in dem sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, spiegelt – ein Konzept, das ebenso sehr von
Pierre Bourdieu (1930 – 2002; La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979) geprägt wurde. Beide Autoren werden oft in ähnlichen Kontexten zur Erklärung herangezogen, gemeinsam ist beiden eine Sichtweise, die Gesellschaft und Individuum nicht als dichothome Gegensätze beschreibt.
So sinnvoll und allgemeingültig Konzepte und Begriffe von Elias und Bourdieu sind, so wenig aktuell ist die Materialbasis. Der Zivilisationsprozess behandelt die Soziogenese der abendländischen Zívilisation bis zum 19. Jh,  Elias schrieb daran in den 20er und 30er Jahren. In seinem Alterswerk, bis in die 80er Jahre,  befasste er sich v.a. mit den daraus  folgenden methodischen  Schlüssen.
Auch die Datenbasis Bourdieus, an denen er u..a die Konzepte von kulturellem und sozialem Kapital herausarbeitete liegt ca. 50 Jahre zurück. So hat sich etwa die Bedeutung der Vertrautheit mit der legitimen Kultur als kulturellem Kapital seitdem sicherlich verschoben. Legitime Kultur bedeutet den anerkannten Kanon der Hochkultur in seinen jeweiligen nationalen Ausprägungen – im Gegensatz zur populären Kultur, die vom Markt bestimmt ist und zu Gegenkulturen (Counter- Culture), an der sich nicht- etablierte Öffentlichkeiten orientieren.

Der Amsterdamer Soziologe Cas Wouters hatte seit den späten 70er Jahren mit der Informalisierungsthese  eine Richtungsänderung des Zivilisations-prozesses formuliert. Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, die flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, Selbstkontrolle wird zum Selbstmanagement.

Erfolgreiche Landnahme durch das Advertising: the conquest of cool (1997)

Seit den 90er Jahren wurde immer wieder ein erneuerter Kapitalismus beschrieben. In Der neue Geist des Kapitalismus (1999) stellten die Autoren Boltanski & Chiapello einen Kapitalismus dar, der die sog. Künstlerkritik*  aufgegriffen und verarbeitet hat.
Deutlich illustriert der Titel the conquest of cool  eine Vereinnahmung, die Landnahme** des Prinzips Coolness, der  Counterculture durch die Werbewirtschaft. Ähnlich verstehen lässt sich die zeitweilig enorme Popularität der Thesen von Richard Florida zur Creative Class.
Alle diese Thesen sind angreifbar und sie wurden mehrfach deutlich kritisiert – aber es sind jeweils einzelne Diskussionen.  Im Idealfall und etwas übersteigert bedeuten sie die Verbindung der Lebensweise der Bohème mit der materiellen Akkumulation des Kapitalismus.
Sie folgen dem Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, einem  expressiven Selbst, das nicht einfach Konventionen folgt – aber innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens bleibt,  und – im Idealfalle – die  ökonomische Eigenverantwortung annimmt. Auf die verbreitete Wirklichkeit heruntergebrochen sind es Veränderungsprozesse, in denen das Maß persönlicher Autonomie und Kreativität am Arbeitsplatz, die Wahlmöglichkeiten der Lebensführung zugenommen hat – letztlich die Aufwertung von Kreativität als Ressource von Innovation und Fortschritt.

Hochkultur findet weiterhin Beachtung, aber die Vertrautheit mit ihr dient nur noch selten als legitime Kultur der Distinktion.  Vertrautheit mit der populären Kultur nimmt zu bzw. wird häufiger kommuniziert. Popsongs, Filme, Serien, Comics,  aber auch Produktdesign etc.  werden referenziert, wenn es um die Vermittlung von Eindrücken, Stimmungen etc.  geht. Auffallend ist weiterhin ein oft weitreichendes Produktwissen.

Korrektheit im 21. Jahrhundert. Bild: pexels-elevate-digital

Wo stehen wir heute? Wahrscheinlich passt das Etikett Consumer Culture*** immer noch am besten, wenn auch in der (digitalen) Spätphase. Ein Kennzeichen ist die Verfügbarkeit bzw. Zugänglichkeit von  Ressourcen jeglicher Herkunft, die über den Markt geregelt wird. Der Habitus – das persönliche Erscheinungsbild – ist zumindest reflektiert, wird oft sorgsam gepflegt. Zugehörigkeiten bleiben wohl erkennbar, klassische Milieus verblassen aber mehr und mehr.  Der Begriff Informalisierung passt immer seltener, oft scheint sie inszeniert. Kompetenz und Professionalität, die Marktfähigkeit der eigenen Person werden auf eine oft sehr subtile Weise kommuniziert.  Coaching zu ihrer Pflege  wurde zur Dienstleistung.
Soziale Ungleichheit ist selten Thema, Verstösse gegen Gleichheitsgrundsätze umso mehr, vgl. politische Korrektheit.
Cultural Appropriation/Kulturelle Aneignung gehört zum Wesen der Consumer Culture – kein Stil, keine Tradition, die nicht auf ihre Adaption oder Marktfähigkeit  abgeklopft, nicht in irgendeiner Weise verwertet wird – sei es aus dem ethnischen Fundus (hier insbes. kulinarisch), sei es aus dem der Popularkulturen. Einerseits ist grösstmögliche Authentizität gefragt und wird geschätzt, andererseits ist Fusion, Crossover, MashUp die sichtbarste Eigenleistung in Küche, Musik und Mode. Gelegentlich treten medienwirksame Konflikte zur Urheberschaft auf, als ob kollektive Urheberrechte eingefordert werden sollen.

Was folgt? Meine Einschätzung: Wahrscheinlich wird die Dringlichkeit gemeinschaftlich zu lösender Probleme ein Treiber des Zivilisationsprozesses sein, an dem sich Ausformungen des Habitus, von Verhaltensstandards, kulturelles Kapital,  herausbilden. Ausprägungen von Lebensstilen,  Werden soziale Ungleichheiten grossen Ausmasses dauerhaft akzeptiert? Hin zu einer metamodernen Welt?
Elias ging es  um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Sozio- und Psychogenese. Dabei nutzte er damals als ungewöhnlich erachtete Quellen: Aufzeichnungen zu Verhaltensstandards, später auch Manierenbücher. Solche gibt es hier und da noch heute, aber sie spielen kaum noch eine Rolle. Heute wird man eher in der Managementliteratur und in Social Media fündig. In ersterer wohl den zumindest für Teilgruppen geltenden Stand; Social Media spiegeln hingegen die Breite des Verhaltens. Derzeit sind wohl instagram mit einem ausufernden visuellen Selbstmarketing – und verhaltener LinkedIn als Bühne  der Professionalitätsdarstellung am interessantesten. Verweisen möchte ich noch auf das Konzept Technogenese, über das ich in anderen Blogbeiträgen geschrieben habe. Technologische Systeme entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen.

Soweit eine Skizze zu möglichen Fortschreibungen des Zivilisationsprozesses. Bisher nur Bruchstücke – um was es mir geht, ist das Narrativ von der parallelen Entwicklungen von Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen (technische Entwicklung dann auch noch dazu ….)

 

Blogbeiträge mit Bezug zur Zivilisationstheorie:  Über den Prozess der Digitalisierung  – Machtbalance und Figuration Digitale Figurationen   Die grosse Transformation. Polanyi und die Digitalisierung, Digitaler Habitus, Was treibt die Zukunft an
*als Künstlerkritik wird die Kritik am Kapitalismus bezeichnet, die sich gegen Entfremdung im fordistischen Kapitalismus richtete, Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und Spaß einfordert; daneben steht die Sozialkritik, die sich auf Solidarität, Sicherheit und Gleichheit gründet und diese einfordert
** analog zur Digitalen Landnahme der grossen Digitalunternehmen beim Abgreifen von Nutzerdaten (bei Zuboff – Überwachungskapitalismus)
***Consumer Culture:  “Social arrangement in which the relations between lived culture and social resources, between meaningful ways of life and the symbolic and material resources on which they depend, are mediated through markets”   Eric J. Arnould, Craig J. Thompson 
In: Journal of Consumer Research, Volume 31, Issue 4, March 2005, Pages 868–882,

vgl.: Norbert Elias  Über den  Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen,  1938 u. 1969. Band 1 u. 2.  .Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979, . dt: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1984  Cas Wouters: Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990. Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus * . J. Rössel & K. Bromberger “ Strukturiert kulturelles Kapital auch den Konsum von Populärkultur?”  Zeitschrift für Soziologie, Band 38 Heft 6.  S. 494 – 511, 2009. Thomas Frank: the conquest of cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. 1997. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. 1991/2007



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