Absolute Disruption: Zwischen Machtergreifung und Freak-Show

Musk & Millei auf der CPAC* – 20.02.15

Was derzeit in den USA geschieht, hat historische Dimensionen. Nennt man es Machtergreifung – oder ist es eine Freak- Show die vorbeizieht?

Die Brüche sind da. Im Inneren der Beginn der deconstruction of the administrative state (Steve Bannon) – nach dem Muster von Hugo Chávez (Venezuela) oder Viktor Orbán (Ungarn). Regimewechsel nennt es  Anne Appelbaum. Autogolpe nennt man in Lateinamerika den Selbstputsch, bei dem ein legal gewählter Politiker schrittweise die demokratischen Institutionen untergräbt.

Nach aussen werden Wahrheiten umgeschrieben, mal ganz einfach auf der  Landkarte, dann wird der Ukraine vorgeworfen, von Russland angegriffen worden zu sein: You should never have started it. Nach drei Jahren des Angriffskrieges stellt sich die neue US- Regierung dann in den UN an die Seite  des Agressors Putin. 
Es bedeutet das Ende, zumindest eine Unterbrechung, der von den USA angeführten auf Verträgen und Kooperation basierenden liberalen Weltordnung. Eine neue Weltordnung hätte die autoritären Züge der Welt von vorgestern: Mächtige Männer führen mächtige Staaten und ordnen die Welt durch zwischen ihnen ausgehandelte Deals.
Das durch komplexe Bindungen regulierte Europa stört dabei nur. Die USA von Trump und Musk bedeuten einen Zivilisationsbruch.

With this guy, every troll is a trial balloon* – die Beschreibung als Troll im britischen Guardian charakterisiert Trumps politische Kommunikation wohl am besten. I like making deals, preferable big deals. That’s how I get my kicks – ist seinem Buch The Art of the Deal vorangestellt. So geht es immer wieder um ein möglichst offensives Auftreten, egal ob gegen Freund oder Feind, und darum,  niemals eine Niederlage zuzugeben.
Trump wurde bekannt als Figur des Gossip mit Bling-Bling und vulgärer Selbstdarstellung, nicht wirklich ernst zu nehmen. Popularität gewann er durch die Reality TV- Show The Apprentice Mobbing/  Bullying zählen zu den Herrschaftstechniken bzw. Führungsmethoden.  Dasselbe von Machtinstinkt geleitete Verhalten findet sich nun auf der politischen Ebene. Es geht darum, Schwächen zu erkennen und SOFORT auszunutzen.
Die Basis der Anhängerschaft lässt sich als Fangemeinde/Fandom  bis Gefolgschaft beschreiben: Trump wird nicht einfach gewählt, er wird verehrt als Celebrity, wie Elvis, und als Führungsperson.

Man kann es Mash-Up* nennen, diese gegenseitige Überlagerung von    Rechtspopulismus und digitalem Kapitalismus zu einem neuen Machtsystem. Zwangsläufig ist die Verbindung nicht, noch während der ersten Trump- Administration blieb die Tech World Terrain der Demokraten. Digitaler Fortschritt war lange Zeit eine Erzählung die parallel zu einem gesellschaftlichen Fortschritt verläuft.
Mit der Plattformisierung verstärkte sich die Macht der Tech- Konzerne – ihre Landnahme. Digitale Plattformen ermöglichen zielgerichtete Streuung von  Aufmerksamkeit und begünstigen populistische Kommunikationslogiken.

Überwachungskapitalismus und autoritärer Populismus teilen  Kontrollinteressen. Rechtspopulismus, in den USA mit dem Label MakeAmericaGreatAgain, und BigTech entwickeln beide imperiale Ambitionen: Ersterer mit der Berufung auf vergangene Größe und Stärke. Der Digitale Kapitalismus von BigTech mit dem Ziel einer technologisch determinierten Zukunft. Ein ideologischer Hintergrund lässt sich im  Cyberlibertarismus zusammenfassen. Im Rechtspopulismus finden sich dazu Überlieferungen der White-Supremacy Strategies, die in zeitgenössische Diskurse eingebettet sind – rassistische Haltungen werden implizit weitergetragen.

Elon Musk – Auftritt auf dem Parteitag der AfD

Musk, ungewählt, aber finanziell stark engagiert, inszeniert sich als Co-Präsident, als Absolutist der freien Rede und als Lautsprecher  einer libertären Internationale mit ununterbrochener Medienpräsenz.

Die wirtschaftliche und mediale Macht von BigTech wird immer stärker als übergross empfunden – sie beruht auf der Kontrolle digitaler Infrastrukturen. Derzeit verbündet sich diese Macht der Plattformen mit  einer politischen Macht, die konstitutionelle Regeln angreift. Ein Machtüberhang, der Demokratie und den sozialen Zusammenhalt gefährden kann.
Das Bild eines Techno- Feudalismus kann hier anschliessen. Ein moderner Feudalismus mit KI- Technologie anstelle von Bürokratie und einer fortlaufenden  Risikokapitalmaschine, die immer neue Tech-Hypes gebiert.  Mit einem ungekannten Einsatz von Automatisierung, prädiktiver Datenanalyse und KI-Technologie – so wäre etwa ein Ausblick.
Wie haltbar ist die Allianz mit dem Rechtspopulismus? Einige Bruchlinien werden deutlich: Steve Bannon, einer der Hauptarchitekten des modernen Rechtspopulismus,  nannte Musk einen Parasitic Illegal Immigrant. Technokratie steht dann  gegen den Traditionalismus amerikanischer Werte. Ohne Regulierung bleibt Freiheit nur für jene, die die Plattformen besitzen.

Was in den USA geschieht, hat globale Auswirkungen: The leading nation of the world ist nicht nur politisch und ökonomisch tonangebend. American popular culture hat einen globalen Einfluss: Filme, TV-Serien, Popmusik, kulturelle Trends, die Ausprägungen der Consumer Culture, bis hin zu den Mustern von Handlungs- und Managementmethoden.
In den letzten ca. 15 Jahren haben die Tech-Plattformen diese Dominanz weiter verstärkt. Silicon Valley ist das globale Vorbild der Tech-KulturWie das Valley denkt ist eine Frage, die weltweit Berater und Zukunftsforscher interessiert.

Disruption ist ein  zentrales Konzept der digitalen Wirtschaft: Brüche des Bestehenden werden durch Innovationen ausgelöst. Das Aufbrechen bestehender Strukturen wird als notwendiger Fortschritt legitimiert. Während klassische Disruption oft punktuell bestimmte Bereiche, einzelne Geschäftsmodelle oder Kommunikationswege revolutioniert, steht Absolute Disruption für einen totalen, systemischen Wandel.

Der Begriff Absolute Disruption stammt von dem Philosophen Jason Ānanda Storm Gemeint ist ein radikaler Bruch mit den bisherigen Ordnungen, in dem herkömmliche Machtstrukturen als überholt erscheinen. Storm meint damit einen fundamentalen Umbruch in der Art, wie wir Wissen generieren und validieren – eine Meta-Disruption, die unsere grundlegenden Denk- und Verstehenskategorien betrifft.
Mit den aktuellen Ereignissen hat Storms Text wenig zu tun. Absolute Disruption kann genauso eine gesellschaftlich progressive Disruption bedeuten. Der Begriff spiegelt die Erwartung einer Neugestaltung. Aktuell wird sie von einer – noch sehr  fragmentarischen – Allianz aus BigTech und autoritärem Rechtspopulismus bestimmt. Wünschenswert ist sie mit gesellschaftlicher Beteiligung und Kontrolle.

Dieser Text überschneidet sich zum Teil mit dem vorhergehenden Beitrag Trumpismus- Muskismus – die Ereignisse und Berichte  überschlagen sich,  von Tag zu Tag. Frage ist, wie sind diese Ereignisse in längerfristige gesellschaftliche Prozesse eingebunden?  

The New Yorker  20.02.25: The Trump Administration Trashes Europe and NATOWhat Could Happen if the U.S. Abandons Europe. 21.02.25 – Trump’s Putinization of America. 20.02.25 –  The New York Times 3.02.25.  Marc Saxer: Wer zu spät kommt … Die USA stellen das transatlantische Bündnis und die liberale Ordnung infrage. 17.02.25  Jannis Brühl: Der Seitenwechsel – wie die Oligarchen rechts wurden 21.02.25 SZ. Anne Appelbaum: There’s a Term for What Trump and Musk Are Doing. The Atlantic 13.02.25  – Elizabeth Lopatto: Elon Musk’s first month of destroying America will cost us decades. The Verge 21.02.2025. Philip ListeTransnationale Disruption .  – Zur staatspolitischen Bedeutung von J. D. Vance’s Rede in München 18.02.25.  Jason Ananda Josephson Storm: Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 9/2021. 360S. Blog: Absolute Disruption  — * CPAC= Conservative Political Action Conference. . *The Guardian 21.02.25. – Sheila Mysorekar Donald Trump und der Putsch in den USA. nd 21.02.25. Steffen Mau: Die Revolution der Erschöpften. Der Spiegel 21.02.25



Was Populisten wollen (Rezension)

Populismus ist ein Gespenst, das umgeht in Europa – und darüber hinaus noch mehr. Bei der US- Präsidentschaftswahl im Herbst 2024 steht die Zukunft der Demokratie auf dem Spiel – davon sind mehr als drei Viertel der US- Amerikaner überzeugt (30).
Stimmenanteile von Rechtspopulisten sind fast überall weit über 20 bis 25% hinaus-geschossen. Selbst in oft als musterhaft geltenden  liberalen Demokratien wie Schweden und den Niederlanden sind sie mittlerweile an der Macht beteiligt. In anderen Ländern droht Systemübernahme.
In Deutschland hatten sich rechtspopulistische Strömungen lange Zeit immer wieder selbst zerlegt. Mit der AfD haben sie sich gebündelt und zunehmend radikalisiert. Deutschland kippt nach rechts ist mehr als ein Schlagwort.

Marcel Lewandowsky,  Politikwissenschaftler an der Uni Mainz, steigt mit der Frage Was Populisten unter Demokratie verstehen ins Thema ein. Fünf weitere Kapitel bauen nachfolgend darauf auf: Über das, was Populisten für das Volk halten, wie sie sich inszenieren, wie sie sich auf die Demokratie auswirken und das System verändern, wer sie wählt und schliesslich, wie Pluralisten ihnen begegnen sollten.

Durch das Buch zieht sich eine Grundthese, die zumindest von ihrem Ausgangspunkt her überzeugt: Ein Konzept, das alle Populisten eint. Sie präsentieren sich als Vertreter des wahren Volkes, als die wahren Demokraten, die sich gegen eine korrupte Elite erheben, damit das Volk sein Schicksal bestimmen kann.
Das Volk habe dem € nie zugestimmt – war z.B.  die Losung der frühen AfD, zu einer Zeit, als sie noch längst nicht im Vorbehalt des Rechtsextremismus stand.
Die Legitimation von Populisten gründet darauf, die im Volk verbreiteten Vorstellungen von Normalität, Anstand, Moral (62) zu teilen.  Der gemeinsame Wille zeige sich im gesunden Menschenverstand, in der Moral der einfachen Leute, der schweigenden Mehrheit. Politiker müssen mit dem  Volkes eins sein- nur so können politische Entscheidungen erwachsen, die auf dem Willen des Volkes beruhen. Und was dieser Volkswille ist – legen letztlich populistische Politiker aus.

Populismus existiert nicht als einheitliche Bewegung und ist auch nicht grundsätzlich an Ideologien gebunden. Linkspopulisten, so etwa Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, stellen den ökonomischen Eliten der Banken und Konzerne ein entmachtetes Volk gegenüber (130). Allerdings stellt sich Linkspopulismus nicht grundsätzlich gegen Menschengruppen. Inwieweit sich Querfronten bilden können, ist eine jeweils einzeln auftretende Frage – so ist auch noch offen, wie sich das neugegründete Bündnis Sarah Wagenknecht einordnen lässt.

Demokratie steht auf zwei Säulen: das Volk ist der Souverain, das über sein eigenes Schicksal bestimmt – ein Grundsatz, den Populisten teilen. Wenn dem allein so wäre, wäre mit der Demokratie schnell Schluss, wenn eine Mehrheit dies wünschte. Es ist die liberale Säule, die mit ihren Checks & Balances incl. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit individuelle Freiheitsrechte garantiert. Rechts- Populisten vertreten eine illiberale Demokratie – das Ungarn des Viktor Orban dient gelegentlich als Modell.

Das Populismus- Dreieck von M. Lewandowsky* – nach Klick in voller Auflösung

Definitionskriterien für Rechts-populismus sind primär eine Anti-Eliten-Haltung, eine nationalistische und fremden-feindliche Politik und die Ausgrenzung von Minderheiten¹. Der nebenstehende Screenshot zeigt das Populismusdreieck* des Autors. Gezeigt werden die wesentlichen Elemente des (Rechts-) populismus: das wahre Volk/ Volkszentrierung (li) die Exklusion (re) der nicht- dazugehörenden Aussenseiter und (o.) den Anti- Elitarismus gegen die da oben. Als nicht- dazugehörende Aussenseiter sind vorrangig Migranten gemeint – die Ausgrenzung kann aber ausgedehnt werden, so auf queere Menschen, oder andere, die nicht in das Modell passen.

Der Begriff der Eliten ist soziologisch ziemlich  klar beschrieben (vgl. Wer sind die neuen Eliten). Im populistischen Weltbild dient Eliten als Gegenmodell zum wahren Volk, fast eine Art Chiffre für alles, was dem Willen des wahren Volkes entgegensteht.
Populisten sehen sich gern in einem Abwehrkampf gegen einen medialen Mainstream (148), der von Staatsfunk (ÖRR) und Systemmedien dominiert wird. Es geht um den Besitz der Wahrheit. Das Schlagwort Lügenpresse – mit einer langen Geschichte – wurde hervorgeholt, Feindbilder des kulturellen Gegners aufgebaut. Wokeness, Gendern werden als eine Art bevormundende Projekte der Eliten, als Bedrohung der Demokratie überzeichnet – soweit erfolgreich, dass  diese Konzepte häufiger aus den initiierten Anti- Kampagnen als aus ihrer eigenen Perspektive öffentlich genannt werden. Anti- Woke ist in einigen Kreisen anschlussfähig – im Sinne das wahre Volk gegen die Neue Linke (106). Auch das Grünen- Bashing, oft personalisiert, hat hier seinen  Ursprung.

Populismus kann keine Zukunft** – Fragen ökologischer, sozialer und ökonomischer Transformation interessieren nicht. Umwelt- und Klimapolitik gelten als Ideologie.
Unzufriedenheiten aus unterschiedlichen Anlässen, Ablehnung liberaler Demokratie, massiv im Falle der Corona- Massnahmen, werden kanalisiert und in die gemeinsame Erzählung von der Gefährdung von Volkssouverainität und Identität eingespeist (vgl. 163).

Social Media – als eine der Arenen öffentlicher Meinung – sind für Rechtspopulisten besonders attraktiv (135 ff) – und oft agieren sie erfolgreich.  Verwiesen wird auf den TikTok Account der AfD. Digitale Plattformen  ermöglichen die direkte Kommunikation der Führung mit ihren Anhängern, lässt eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten spüren, es entsteht ein digitaler Scheinkonsens in Kommunikationsblasen, die das eigene Weltbild bestätigen.

(Rechts-) Populismus allein ist noch nicht rechtsextrem. Rechter Populismus bietet dem rechten Extremismus eine Plattform, beide sind aber nicht unbedingt miteinander kompatibel (110). Wo verläuft die Grenze? Sie bleibt unscharf. Eine Faustregel: Ersterem haftet etwas Clowneskes, letzterem etwas Dämonisches an.
Figuren wie Björn Höcke fallen jedenfalls nicht mehr in den Rechtspopulismus. Sie steigen in dessen Strukturen auf. Mit zunächst neutral klingenden Begriffen wie Ethnopluralismus werden Konzepte eingeführt, die definitiv mit liberalen Auffassungen von Gesellschaft brechen.
Das Unbehagen, dass hinter manchen harmlosen bis polternden Erscheinungen Netzwerke stehen, die die liberale Demokratie umkrempeln wollen – und dabei strategisch vorgehen, bleibt.

Das Buch liest sich flüssig, rollt das Phänomen Populismus von einer These der Vorstellung des wahren Volkes aus ab. Die Entwicklungen in den USA und in Deutschland werden zwar am häufigsten berücksichtigt, aber auch die in anderen Ländern, wie Frankreich, Brasilien, Ungarn, Österreich, Grossbritannien u.v.m herangezogen.
Im sechsten und letzten Kapitel geht es darum, wie  Pluralisten ihnen begegnen sollten. Manche Konservative, wie z. B. Friedrich Merz übernehmen Themen, erklären die Grünen zum Hauptgegner. Solche Strategien spielen  eher Populisten in die Hände. Dagegen steht eine demokratische Polarisierung, die Unterschiede (zwischen demokratischen Parteien) herausarbeitet, ohne den Gegner zu brandmarken (244).

Einige Verweise, die im Buch nicht vorkommen, möchte ich ergänzen: In Triggerpunkte (Steffen Mau et al., 2023), der aktuell wohl empirisch detailliertesten Gesellschaftsanalyse, beschreiben die Autoren Polarisierungs-unternehmer_Innen (375ff), die den Ausbau von Triggern/ potentiellen Konfliktpunkten, vagabundierenden Unzufriedenheiten zu  politischer Frontenbildung betreiben, bis hin zu einer Dezivilisierung betreiben. Eine wesentliche Strategie rechtspopulistischer Führung.
Damit übereinstimmend sprach Cornelia Koppetsch in Gesellschaft des Zorns (2019) von Zornunternehmern, die Narrative erarbeiten, in denen Zornpotentiale in den Dienst ihrer Ziele gestellt werden können. Das Buch erschien vor  Corona – und gerade in der Pandemie gelang es solchen Zornunternehmern diese Potentiale zu  instrumentalisieren.
Koppetschs Buch wurde zunächst gefeiert, dann wegen  Plagiatsvorwürfen vom Markt genommen. Dennoch enthält es eine ganze Reihe treffender Beschreibungen und Analysen.
Weiter erwähnenswert zum Thema ist Radical Right Populism in Germany: AfD, Pegida, and the Identitarian Movement von Ralf Havertz (2021), leider über den Verlag (Routledge) etwas schwierig zu beziehen.

 

Marcel Lewandowsky: Was Populisten wollen. Wie sie die Gesellschaft herausfordern- und wie man ihnen begegnen sollte, 273 S.  5/24; *Screenshot (14.00) aus  Populismus? Populismen! Für eine wehrhafte Demokratie in Europa. FES-Ringvorlesung zur Zukunft Europas an der Universität Bonn. 29.01.2024 (yt) + Anmerkungen 5/24   ¹nach Damir Skenderovic, NZZ 28.02.24  **von: Zukunft passiert. Institut für  Trend- und Zukunftsforschung;:  Ralf Havertz. (2021) Radical Right Populism in Germany: AfD, Pegida, and the Identitarian Movement (Routledge Studies in Fascism and the Far Right).
Matthias Quent: Deutschland kippt nach rechts. Republik.ch 12/23.   – Mitten unter uns? – Populismus wird mehrheitsfähig. Aktuelle Befragungen des SINUS-Instituts zu politischen Einstellungen in Deutschland und Österreich und weitergehende Analysen. 



Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter (Rezension)

Die Gesellschaft des Zorns – Rechtspopulismus im globalen Zeitalter von Cornelia Koppetsch (TU Darmstadt) erschien in diesem Frühjahr, war schnell vergriffen und wurde im Juli als Sachbuch des Monats ausgezeichnet.  Das macht deutlich, wie aktuell das Thema und wie gross der Bedarf nach Erklärungen ist.
Kernthese der Autorin ist, dass Rechtspopulismus einen emotionalen Reflex auf den Epochenbruch zur Globalen Moderne darstellt. Die Reaktion zeigt sich in den Forderungen nach Re-Nationalisierung, Re- Souveränisierung und Re-Vergemeinschaftung (24/25). Re-Nationalisierung stellt sich gegen supranationale Organisationen und Vereinbarungen – my country fírstRe- Souveränisierung fordert eine Wiederherstellung der moralischen Werte und der Vorrechte einer sich als bedroht fühlenden Mehrheit; Re-Vergemeinschaftung ist als Reaktion auf individualistische Markt- und Selbstverwirklichungskulturen zu verstehen und  bezieht sich auf das Volk als Gemeinschaft exklusiver Zugehörigkeit. Solidaritätsbeziehungen sollen in diesem Rahmen verbleiben, der Sozialstaat war immer an den Nationalstaat gebunden.
Eine gesellschaftliche Spaltungslinie verläuft zwischen den transnational/kosmopolitisch Ausgerichteten und den davon Abgekoppelten, die an den nationalen Strukturen der Industriemoderne  ausgerichtet bleiben. Beide Hälften folgen ganz anderen Erzählungen von Gesellschaft/Narrativen.

Diagonale Spaltungslinie: Wählermilieus von Modernisierungsbefürwortern und -skeptikern. Graphik erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster. Quelle: s.u.

Populäre Erklärungsmuster zum Rechtspopulismus sind die Hypothese von den ökonomischen Globalisierungsverlierern und die kulturelle Backlash- These. Zwar liegt der AfD- Anteil im Sinus- Milieu ‘prekär‘ bei 28%, die Wähler von AfD & ihrer internationalen Entsprechungen kommen hingegen aus allen Schichten. Drei Viertel der AfD- Wählerschaft sind Angestellte, Beamte und Selbstständige, ein Drittel der Sympathisierenden zählen gar zu den reichsten 20% der Bevölkerung (99). Nach der Backlash- These ist die Ablehnung kosmopolitischer und postmaterialistischer Werte entscheidend (101), die Umkehrung des sich seit den 70er Jahren verbreitenden Wertewandels.
Bleibt man im Bild der Sinus- Milieus rekrutiert sich die Anhängerschaft v.a. aus konservativer Oberschicht, traditioneller Mittelschicht und prekärem Milieu. Dabei spielen jeweils eigene Motivationen eine bes. Rolle: die Verteidigung sozialer Privilegien, ein kultureller Allgemeinvertretungs-anspruch, zuletzt Verteilungskonflikte. Nicht in den Milieus erkennbar sind besondere Gruppen, wie Evangelikale, Burschenschaften und offen, oft strategisch handelnde Rechtsradikale.
Übergreifende Klammer und Mobilisierungsthemen sind v.a. Islam und Migration (135). Ebenso, aber in geringerem Maße, die Ablehnung von Gender- Themen und Homo-Ehe.

In den acht Kapiteln geht es nicht um Rechtspopulismus als isoliertes Phänomen, sondern um dessen thematische Einbindung in die Kontexte gesellschaftlicher Transformationen: Die Neu- Figuration des politischen Raumes incl. der Transformation der Parteienlandschaft; die Transnationalisierung der Sozialräume, wie Märkte, Unternehmen, Bildungs- und Kultureinrichtungen, persönliche Netzwerke etc., und ebenso die  Wandlungsprozesse im Umgang mit Emotionen und Identität. Neo- Gemeinschaften und die politischen und kulturellen Dimensionen von Heimat werden ausgiebig behandelt.
Wie so oft beginnt die Gesellschaftsdiagnose mit dem Niedergang des korporatistischen Modells der Volksparteien und der mit ihnen verbundenen Organisationen. Durchgesetzt hat sich ein doppelter Liberalismus mit den beiden Säulen des  wirtschaftsradikalen, deregulierten Wettbewerbs und der kulturliberalen Säule von Vielfalt, Toleranz und Selbstbestimmung, Leitbegriff Diversity. Dieser doppelte Liberalismus ist mittlerweile Konsens über ein breites politisches und gesellschaftliches Spektrum.

Theoriegeleitete Empathie
(31, 33) so bezeichnet Koppetsch ihre Methodik – bedeutet zum einen kontrolliertes Fremdverstehen, die Bereitschaft zur Befremdung der eigenen Sichtweise (etwa durch konträre Gesellschaftserzählungen/Narrative), zum anderen eine Erweiterung der Perspektive, um den jeweiligen Realitätsgehalt zu überprüfen – Gesellschaft soll über den Container hinaus gedacht werden. Ausdrücklich setzt sie sich von einer Haltung ab, die AfD- Wähler auf eine Rolle als Symptomträger autoritärer und rassistischer  Haltungen reduziert (32).
Koppetsch verbindet Beobachtungen und Einschätzungen zum Rechtspopulismus mit den soziologischen Debatten zur Zweiten Moderne (Ulrich Beck), und v.a. mit der Distinktionstheorie  von Pierre Bourdieu und mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, einschliesslich der  Fortschreibung der Linien des Zivilisationsprozesses durch die  Informalisierungsthese von  Cas Wouters.  Sehr ausführlich wird u. a. die hybride Kultur der Neubürgerlichkeit und deren Verhaltenscodes beschrieben (hybrid weil sie auf klassische bürgerliche Kultur, wie auch Gegenkultur zurückgeht).  Immer wieder hat man den Eindruck, es ginge im Buch genauso um die Herausbildung des kosmopolitischen Habitus. Es lohnt sich übrigens, diese Entwicklung als eigenes Thema zu behandeln – eines der folgenden Themen im Blog.

Rechtspopulismus hat ein anderes Modell von Gesellschaft. Nicht eine plurale, diverse, auf Ausgleich bedachte Gesellschaft, sondern eine kulturell weitgehend homogen gedachte Gemeinschaft von Nation, Religionsgemeinschaft oder ethnischer Gruppe (49, 168). Volkswille soll unmittelbar in politische Praxis umgesetzt werden. Immer wieder inszenieren sich Rechtspopulisten als Regelbrecher gegenüber dem Mainstream/Establishment. Erstaunlich, denn diese Begriffe bezeichneten vor nicht allzu langer Zeit eine konservative Machtstruktur. Wird hier ein Machtverlust beklagt? Gleicht man die Zielvorstellungen mit den Scenarios der Zukunftsinitiative  D2030  ab, gelangt zum Scenario Alte Grenzen – Vorwärts in die Vergangenheit.
Rechtspopulismus ist eine global auftretende Reaktion auf die globale Moderne, nicht einheitlich, sondern in jeweils eigenen, aber oft ähnlichen Ausprägungen. Parallele Entwicklungen zeigen sich im Islamismus. Dort sollen -oft archaische – Regeln der Religion über allgemeinen liberalen Werten, ja sogar den Menschenrechten stehen.

Es lassen sich noch etliche Einzelthemen, die im Buch behandelt werden erwähnen oder auch ergänzen. So etwa die Rolle von Social Media, De-Zivilisierung  und eine Vulgarisierung politischer Kommunikation. Es bleibt auch ein 20% Anteil (der Gesamtbevölkerung) mit dem Syndrom  gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, eine Zahl aus den Leipziger Autoritarismus- Studien, die seit langem konstant bleibt (97). Was Die Gesellschaft des Zorns auszeichnet, ist die detailreiche und tiefenscharfe Darstellung von Rechtspopulismus im Kontext  gesellschaftlicher Transformationen.
Der Titel des Buches selber geht auf Peter Sloterdijk (2008) zurück.  Zornunternehmer bedeutet, dass populistische Rechtsparteien Narrative erarbeiten, in denen individuelle Zornpotentiale in den Dienst ihrer Ziele gestellt werden können – ein gefühlte Bündnis der Betrogenen (30, 154).

Ein paar Anmerkungen: So bestechend die Konvergenz beider Liberalismen ist, und so deutlich sie häufig im Habitus erkennbar ist – sind denn tatsächlich dieselben weltoffenen Kosmopoliten auch die Träger von Werten wie Vielfalt und Toleranz? Gemeint ist eine Schicht, die auch ökonomisch in der Lage ist, sich abzugrenzen. Auch wenn Werte sich in Entscheidungseliten verbreitet haben bzw. dort eingefordert werden, macht es diese nicht gleich zu deren Trägern.
Und kann man die Obsession Feindbild Islam tatsächlich mit dem klassischen Antisemitismus vergleichen (62)?

Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.    Transcript Verlag, Bielefeld 2019.  283 S. ISBN: 978-3-8376-48138-6.
Graphik zur  Verteilung der Wahlberechtigten:  Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017  . Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider. Bertelsmann- Stiftung. S. 15



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