Was treibt die Zukunft an?

Treibt technischer Fortschritt oder gesellschaftlicher Wandel die Zukunft an? Vorstellungen von Zukunft sind genauso dem Wandel unterworfen wie andere gesellschaftliche Strömungen auch. In der längsten Zeit über die Jahrtausendwende hinaus bis in die 2010er Jahre stand die Dynamik der Digitalisierung im Vordergrund. Immer wieder sah es so aus, als treibe die technische Entwicklung Wirtschaft und Gesellschaft vor sich her. Technik schuf neue soziale, mediale, v.a. ökonomisch nutzbare Möglichkeiten. SmartPhones bündeln mittlerweile derart viele Funktionen, dass ein Leben ohne sie erhebliche Einschränkungen (bis hin zum Covid- Zertifikat) bedeutet. Kommunikations- und Kulturtechniken, die man noch vor gar nicht so langer Zeit als Zukunftsfiktion verstanden hätte,  sind längst Alltag geworden – und das weltweit. Die Welt von heute ist nicht vorstellbar ohne die Verbreitung der digitalen Techniken.
Wissenschaft ist die Grundlage von technologischem Fortschritt (Godin, 2020), zumindest in der modernen Welt. Ebenso eine Gesellschaft, die ihn in ihre materielle Zivilisation einbindet. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi, 2019).

Manuel Castells(2001): Die Revolution der Informations-technologie und die Erneuerung des Kapitalismus begründeten die Netzwerkgesellschaft

Der digitale Aufbruch um die Jahrtausendwende war mit vielen Erwartungen und Vorstellungen von Zukunft verbunden.  Der Cyberspace war zunächst sphera incognita, ein Freiraum für Neues; Web 2.0 stand etwa für eine partizipatorische Netzkultur mit der konkreten Utopie  Wissen und Information für alle frei zugänglich zu machen. Zukunftsentwürfe einer fluiden  Demokratie, die in einer politischen Kultur der Offenheit und Partizipation wurzelt, wurden diskutiert – sie verschwanden aber wieder mit dem Ende der Piratenpartei.

Manuel Castells nannte in seinem drei-Bände-Werk Das Informationszeitalter (1996-98/dt. 2001) die technische Revolution der Informationstechnologie und die Erneuerung des Kapitalismus als Grundlagen der Netzwerkgesellschaft. Im damaligen Kontext bedeutete erneuerter Kapitalismus eine weitgehende Deregulierung der Märkte, v.a. der Finanzmärkte, die zum Rückgrat der Globalisierung wurden. Flexibilisierung auf vielen Ebenen, aber oft nur im Sinne von Kapitaleignern.  Ein Gegengewicht zur Globalisierung liegt in der Macht der Identität, die sich zum einen als offensive Bewegungen mit dem  Anspruch gesellschaftlicher und kultureller Umgestaltung, der Inanspruchnahme von Selbstbestimmung, wie etwa Feminismus und Umweltbewegung,  aber auch in reaktiver Form  im Namen von Nation, Religion, Familie oder Ethnizität zeigt.
Eine weitere Erneuerung bedeutete die Neubewertung von Eigenschaften wie Kreativität, Spontaneität, der Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, wie sie in Der Neue Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello, 1999/2003),  beschrieben wurde. Sich neu konstituierende Cluster einer Creative Class, die Bedeutung eines kulturellen Umfeldes, die Anziehungskraft von Umgebungen der Vielfalt, die   Einbeziehung des Concept of Cool in die Wertschöpfungsketten sind damit verbunden.

Von der Kalifornischen Ideologie ist öfters die Rede, auch wenn sie nicht eindeutig erscheint. Gemeint ist der Glaube an das emanzipatorische  Potential der Informationsgesellschaft, wie er in der Bay Area aus der  Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien des Silicon Valley seit den 80er Jahren entstand. Sicher waren San Francisco und die Bay Area immer wieder Ausgangspunkte  und Nährboden von Bewegungen mit globaler Ausstrahlung: Beatniks, Hippies, Gay Liberation, Ökotopia, dazu allerlei synkretistische Lebensstile. Die moderne Supermacht des Storytellings, Hollywood, sitzt ganz in der Nähe. Allen diesen Bewegungen ist durchaus ein libertärer Geist zu eigen  – im ursprünglichen Sinne der Befreiung von Fremdbestimmung und Freisetzung menschlicher Energien.  Das Burning Man Festival in der Wüste von Nevada gilt als ein Icon der kalifornischen Ideologie, der v.a. von Apple vermarktete Digital Lifestyle wurzelt darin, die Versionsbezeichnungen aus kalifornischer Topographie (Yosemite, Big Sur, Monterey) erinnern daran.
Aktuell bezeichnet libertär eine von jeglicher Einschränkung befreite Selbstverwirklichung von oligarchischen Investoren und Milliardären, wie sie etwa von Peter Thiel verkörpert wird.

Eine entscheidende Entwicklung  im weiteren Verlauf war etwa dann, als aus dem Web 2.0 Social Media wurde: der Durchmarsch der grossen Plattformen, manchmal als Landnahme bezeichnet. Michael Seemann hat in seinem Buch Die Macht der Plattformen  diese Einnahme als Graphname beschrieben, d.h. entlang sozialer Graphen, die man  sich wie Territorien vorstellen kann: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related**. Die neue Infrastruktur der  Social Media Plattformen ist seitdem weitgehend in Corporate Hands.

Utopien siedeln sich zunehmend im realen Raum an

Das Thema Zukunft boomt seit einigen Jahren.  Zukunft wurde zu einer Art Überthema, in dem sich Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsdebatten bündeln. Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist die Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Gegenüber früheren Zukunftsdiskussionen fällt auf, dass die aktuellen Debatten kaum von  diffusen, in die weite Zukunft gerichteten Utopien bestimmt sind. Sie sind meist sehr konkret: Es geht um neue Arbeitsformen, ob  unter dem  Label  New Work oder nicht,  um die Neugestaltung von Mobilität,  um nachhaltigen Konsum, Energieversorgung und  Ernährung.  Wohl nicht ganz zufällig hat die deutsche Ausgabe eines populären Buches zum Thema den Titel Utopien für Realisten (2016/2017). Man kann auch sagen, es geht um den sozialen Benefit der Digitalisierung.

Soweit eine Zusammenstellung, ein  Parcours durch die letzten beiden Jahrzehnte – der sich ganz sicher in der Fülle wie in den Details ausweiten und ausarbeiten lässt. Muster und Entwicklungen, eine Linie der Wechselwirkung von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel sind erkennbar. In der langfristigeren Entwicklung werden Gegenströmungen und Ausgleichsprozesse deutlich. Unsere Zivilisation entwickelt sich in diesen Ausgleichsprozessen.  Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft. Evolution ist generell keine beabsichtigte Entwicklung. Der Begriff stammt von dem französischen Medientheoretiker  Bernard Stiegler (✝2020) in Anlehnung an Anthropogenese.
Genauso offensichtlich klingt Technogenese  an die Konzepte Sozio– und Psychogenese bei Norbert Elias an. Geht es dort um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen,  um die Herausbildung eines Habitus, kann man Technogenese als Herausformung  der jeweils spezifischen technisch/ materiellen Zivilisation verstehen.
Erwähnt sei schliesslich noch das Konzept der Sprunginnovationen. Sprunginnovationen sind solche Innovationen, die eine radikale technologische Neuerung beinhalten. Sie haben das Potenzial, bislang bekannte Techniken und Dienstleistungen bahnbrechend zu verändern und zu ersetzen.

Soweit einige Gedanken, die ich als Impulsbeitrag zur  zweiten  Staffel der Futures Lounge unter dem Motto “Was treibt die Zukunft an –  technischer Fortschritt oder Sozialer Wandel” zusammengetragen habe.

vgl.: Manuel Castells: Das Informationszeitalter, 3 Bände, dt. Ausgabe 2001 – 2003 (Orig.The Information Age: Economy, Society, and Culture 1996 – 1998); Robert V. Kozinets & Gambetti, Rossella (Eds.): Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York.  Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaften, Kap. IX. Technik, S. 235 ff Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021  Werner Rammert. Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. 2006. Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft., 9/ 2019.  Benoît Godin: The Invention of Technological Innovation: Languages, Discourses and Ideology in Historical Perspective (2020).  Rafael Laguna del Vera & Thomas Ramge: Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen. Econ- Verlag, 2021; vgl auch Innovation und Gesellschaft, Über den Prozess der Digitalisierung, Rutger Bregman: Utopien für Realisten, 2016, Orig. 2014; Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus  **A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



Dresscode und Männermode in digitalen Zeiten

Männer im Anzug. Bild: unsplash.com. Brett Jordan

200 Jahre lang kleidete Brooks Brothers in New York Banker und Politiker in Nadelstreifen. Corona und die Schliessung von  Geschäften hielt der Herrenausstatter nicht durch und meldete Insolvenz an. Es war aber nur der Auslöser – Standards des Dresscode spielen eine immer geringere Rolle, selbst in Hauptversammlungen wird casual getragen*. Die klassische standardisierte Bürokleidung verschwindet mehr und mehr aus der Öffentlichkeit.

Formelle Kleidung bedeutet nicht gleich Stil und Eleganz – der Anzug von der Stange galt nie als Ausdruck davon. Es geht darum, Regeln einzuhalten, professionelle Distanz hervorzuheben, manchmal auch Respekt einzufordern – der Mann im Anzug wird gesiezt. Lange Zeit und in vielen Branchen verbindlich, setzte sich der Anzug des Angestellten vom Blaumann des Arbeiters ab und verwuchs mit dem Habitus. Sicher spielt der Dresscode weiterhin eine Rolle, im Kundenkontakt der Rechts- und Finanzbranche, in der Politik. Manche Politiker greifen auf bestimmte Stile zurück, um Professionalität und Kompetenz zu inszenieren. In der Breite sind oft abgestufte Formen erkennbar. Der sichtbare Konsens bei Verwaltungen, Banken, Versicherungen unterscheidet sich kaum von dem ihrer Kunden.

Dresscode Normcore – Bild: unsplash.com. Annie Spratt

Die neuen dominierenden Branchen kannten nie den klassischen Dresscode, waren oft von einer Nerdkultur bestimmt. Mal heisst es, that the more time you spend dressing yourself every morning, the less time you spend changing the world, (so Marc Zuckerberg, wird auch Barrack Obama zugesprochen). Mag sein ….  Macht und Status verschwinden nicht mit der Krawatte. Schwarzer Rollpulli und blaue T- Shirts sind Beispiele von Normcore, dem Style der Unauffäligkeit, der Wirtschaftsführer so aussehen lässt, wie Leute aus dem Coworking Space. Bestimmt nicht unabsichtlich gestalten  CEOs  der grössten Tech- bzw. Social Media Unternehmen, wie Tim Cook oder Marc Zuckerberg, so ihren Auftritt.  Normcore ist nicht ironisch inszeniert, wie viele Hipster- Moden. Es soll bodenständig wirken, Zugehörigkeit ausdrücken, anstelle von Distinktion. Von einer bestimmten Präsenz in der Öffentlichkeit an, kann man davon ausgehen, dass Normcore o.ä. Teil der PR ist.

Farben helfen aufzufallen

Mode ist eine Kultur der öffentlichen Darstellung, die Bedeutungen und Narrative, gewollte und ungewollte, mit sich trägt. Im besten Falle bella figura. Der Fundus von Männermode ist viel enger gefasst als der von Frauen. Neben den auf Korrektheit getrimmten klassischen Formaten, beruht er, wenn nicht auf Freizeitkleidung, auf den Stilen der Pop- und Subkulturen der vergangenen Jahrzehnte und v.a. den Anleihen aus der Sportswear: Sneaker, Baseball- Cap, Hoodie etc. stammen von dort. Was vom Standard abweicht, wird oft als persönliches Markenzeichen wahrgenommen – oder gleich als solches inszeniert.
Frauen- und Männermode unterscheiden sich v.a.  in der Aufmerksamkeit, die ihnen entgegen gebracht wird. Kaum eine Frau, die nicht bedenkt, welche Wirkung, welche Reaktionen sie mit ihrer Kleidung hervorruft und wie sie sich selber darin fühlt. Kleiderwahl und ihre Abstimmung ist Teil des Alltagsmanagements. Männermode ist dem weniger ausgesetzt, oft ist Kleidung blosses Angezogensein, das keiner Überlegung folgt. Gerade Deutschland gilt als Land der Funktionskleidung: funktional, bequem, praktisch – eine Haltung, die kulturelle Dimensionen kleinhält, ein oft unbewusster Konformismus.
Fast alles, was einmal Rebellion und Provokation in Sub- und Gegenkulturen ausdrückte, ist heute Teil eines stilistischen Fundus  von Identitätsangeboten. Wohl fast alle verfügbaren kulturellen Codes, seien  es ehemals subkulturelle, seien es ethnische, wurden irgendwann von der Modeindustrie verwertet.  Statusrepräsentation verliert an Bedeutung, die  Darstellung von Identität und gefühlter Zugehörigkeit rückt in den Vordergrund.
Aktuell schränkt Corona und die Massnahmen dagegen Öffentlichkeit ein – mit Auswirkungen auf Handel, Konsum und den Rahmen von Selbstdarstellung. Ein Resilienztest.

Hemden als Bildfläche – der Genome Code

Nachhaltigkeit entspricht den Wertvorstellungen der neuen Mittelschichten. Die Modeindustrie steht ebenso wie Ernährungswirtschaft, oder Tourismus immer wieder in der Kritik.   Faire Mode setzt sich ab von der fastfashion, der Wegwerfmode. Sie steht ungefähr da, wo Bio- Lebensmittel vor 15, 20 Jahren standen: von einem Nischenmarkt zu einem Durchbruch in breitere Käuferschichten. Lange Zeit galt sie als Solidaritätsstil, mehr politisch korrekt als modisch. Mittlerweile sind eine ganze Reihe von Labels herangewachsen, die ebenso für einen bestimmte Stil, für bestimmte, oft innovative Materialien stehen.  Nachhaltig in den Materialien, minimalistisch im Stil.
Die Sueddeutsche feierte kürzlich das schwedische Label Asket als ebenso zeitlos wie nachhaltig. Sehr skandinavisch mit minimalistischen Basics. Hemden, Schals, Jeans, die eben nur nach Hemden, Schals und Jeans aussehen. Sicher ein  gelungenes, wohlüberlegtes Marketing, das für einen Trend – Full Transparency – der Produktions- und Lieferketten steht. Ein Prinzip, das sich auch bei nicht bei zertifizierten Labels findet. Zertifizierungen sind zudem mit Kosten verbunden, die viele kleinere Labels vermeiden.

New Heritage: Barbershop

Eine eigene Szene mit einer eigenen ökonomischen Infrastruktur incl. Zeitschriften und Verkaufsmessen ist etwa New Heritage. Nach eigener Beschreibung eine Bewegung, eine Hommage an Qualität, Handgemachtes und Zeitloses. Nicht nur Bekleidung und die Frisuren dazu, sondern ein ganzes Spektrum von Genusskultur zählt dazu: Design, Getränke wie Gin. Das Erscheinungsbild ist v.a. Vintage, viel Tweed und Cord, klassische Lederjacken, oft  passend zu Oldtimern und klassischen Motorrädern.  Einzelne Elemente dringen immer wieder in den breiteren Markt, insgesamt sind es eher kostspielige Styles – mit einer entsprechenden Klientel, ein Tribe Besserverdienender, die sich Jugendträume erfüllen.
Was sowohl für faire Mode, wie für  New Heritage gilt ist ein vergleichsweise enger Zusammenhalt von Marke, Produktion, Handel und Kundschaft über gemeinsam geteilte Werte und Lebensstile –  singulärer Konsum anstelle von Massenware. Das Thema Mode im Spannungsfeld von Kultur, Ästhetik, Identitäten, Wirtschaft und gesellschaftlichen Infrastrukturen bleibt spannend.

ein paar Empfehlungen: Monsieur Courbet, Köln: alltagstaugliche Männermode in bestens kuratierter Auswahl;  Fairfitters, Köln – faire Mode; Hemden: Blake Mill, Hemden als Bildfläche;  ADDeertz, Berlin, gleich um die Ecke vom St. Oberholz – wunderbare Stoffe –  slim fit; Wolf Blitz (Rotterdam), bunt bedruckt, mehr als Hawaii 

 

 



The Art of Coding – Weltkulturerbe Demoscene?

Demoscene -The Art of Coding

Weltkulturerbe, Unesco-zertifiziert  ist eine ganz besondere, global wahrgenommene Auszeichnung. Zunächst verbindet man damit charismatische Stätten wie die Akropolis, Venedig, Versailles oder das Bauhaus, die man einmal im Leben gesehen haben will. Oft sind es touristische Mega- Attraktionen. Andere Monumente erhielten erst mit dem Status  grössere Aufmerksamkeit bzw. eine Neubewertung, wie die Zeche Zollverein in Essen  oder die  Kulturlandschaft Mittelrhein. Jedenfalls verweisen Städte und Regionen mit grossem Stolz darauf.

Weniger bekannt ist die 2003 ins Leben gerufene Liste des Immateriellen Kulturerbes. Gemeint ist hier lebendiges und an Menschen gebundenes Kulturerbe, das kreativ weiterentwickelt wird und gesellschaftlichen Transformationen unterliegt (s. Dt. Unesco- Kommission). Zunächst  sammelten sich in dieser Liste  die einem Volkskultur. So der Geigenbau in Cremona, Yoga aus Indien, weltweit Tänze, Lieder, Rituale und Handwerkstechniken – die sehr oft genau definierten Traditionen folgen. Bisher wenig vertreten sind weniger traditionelle Popularkulturen, enthalten sind z.B. afroamerikanische Musikstile wie der Reggae aus Jamaica, Rumba aus Kuba und der Frevo aus Nordost- Brasilien. Ein weiter gefasster Kulturbegriff zeigt sich bei einigen kulturellen Traditionen, so bei der Mittelmeerküche und dem französischen gastronomischen Mahl (5- Gänge Menü). Vorschläge zum Immateriellen Kulturerbe können von einzelnen, wie auch gemeinsam von mehreren Mitgliedsländern eingebracht werden (vgl. Unesco- Übereinkommen).
Deutschland trat dem Abkommen erst 10 Jahre später bei, und bis jetzt wird das immaterielle Kulturerbe durch den Orgelbau, den Blaudruck und die Falknerei, d.h. bewahrenswertes, aber kaum gesellschaftlich prägendes Kulturerbe, vertreten  – daraus hervor sticht das Genossenschaftswesen – und in der Bewerbungsliste steht die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft. Eine Ebene unter dem Weltkulturerbe gibt es ein bundesweites Verzeichnis  lebendiger kultureller Traditionen und Ausdrucksformen, die in Deutschland praktiziert und weitergegeben werden. 97 Einträge sind darin enthalten, darunter der Rheinische Karneval mit all seinen Varianten, die deutsche Brotkultur, das Skatspiel, als einzige popkulturelle Form hat es der deutschsprachige Poetry-Slam in die Liste geschafft.

Digitale oder auch popkulturelle Kulturen sind ansonsten bisher nicht vertreten.  Das soll sich mit der Bewerbung der Demoscene nun ändern –  auf der Gamescom Konferenz im August in Köln wurde der Antrag vorgestellt – übrigens eine international getragene Bewerbung von Finnland und Deutschland.
Warum gerade die Demoscene?  Wer einmal auf einem Event der Demoscene, wie der Evoke (s. Video Evoke 2016) war, dem fällt neben der sehr nerdigen Festivalatmosphäre v.a. die weitgehende Überschneidung von Publikum und Wettbewerb auf der Bühne auf: anarchisch – kooperativ. Die Szene geht zurück auf das frühe  Computerzeitalter von C64 und Amiga, die immer noch Werkzeuge der Wahl sind. Eine kulturelle Praxis, in der technische Fähigkeiten und gestalterische Phantasie im Digitalen entwickelt werden.

Ein möglichst knapper Code, bei eindrucksvoller optischer Wirkung, gilt als Königsklasse, 4 KB als ein Limit. Der Wettbewerb ist Schaulaufen mit der Ambition des Codens als Kunstform: Was gezeigt wird, kann man als Kompositionen in Code bezeichnen. “Es geht darum den Rechner dazu zu bringen, das coolste machen zu lassen was man je einen Rechner hat machen lassen sehen.” Ist es denn Kunst oder Codehandwerk? Kann es ebenso sein, wie Werke aus Sprache, Tönen oder Bewegung/Tanz – aber das ist eine andere Diskussion. Es geht um gelebte Kultur, die kreativ weiterentwickelt wird.
Kommerzielle Ziele spielen kaum eine Rolle, allerdings werden durchaus beachtliche Preisgelder gezahlt. Es geht um den spielerischen Umgang mit technischen Möglichkeiten bei der Kreation audiovisueller Objekte. Um wirklich teilzunehmen, braucht es einige entwickelte Fertigkeiten, die Begeisterung und ein längeres Engagement voraussetzen. Ein Freestyle von Programmierern, aber eben auch Kompetenzreservoir der Kreativwirtschaft (Games).
Was bedeutet ein digitales Kulturerbe? Ein Bewusstsein davon, dass Digitalisierung ebenso kulturell gestaltet werden kann, wie andere Ausdrucksmittel. Der Begriff Weltkulturerbe ist populär und medienwirksam.

Die Initiatoren selber fassen die Bewerbung so zusammen:  The Demoscene, which is born at the heart of the home computer revolution, has been showing how skills and creativity can be stimulated and implemented in a dynamic cultural practice adopted to digital contexts. Many of its techniques and mindsets became core techniques and influences of the digital change, and are still vibrant today. Seven decades after the invention of computers we think it’s time to push for the next step to take born-digital culture seriously as part of our cultural heritage, starting an initiative to bring the demoscene onto the list of the UNESCO intangible world cultural heritage. So we invite all sceners and non-sceners to join us and support the initiative in the upcoming years.” Andreas Lange & Tobias Kopka  Quelle: http://demoscene-the-art-of-coding.net/


Als Beispiel das Video *YouShould by Haujobb* das auch Einladung zur Evoke 2010 war –  zum download.

 

 



Individualisierte Massen- Rez. Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen

Der Titel lässt an ganz aktuelle Ereignisse denken: mit den Gelbwesten in Frankreich ist der Sog der Massen zurück auf der Straße. Videos erschüttern Machtgefüge und machen die Neue Macht der Einzelnen deutlich: eine der tragenden grossen Organisationen wirkt hilflos gegenüber einem youtube-Blogger, Massenkommunikation funktioniert mittlerweile eben anders.
Gunter Gebauer und Sven Rücker geht es darum, das Konzept Masse als einer sozialen Formation in die Diskussion zurückzuführen. Dabei nehmen sie Bezug auf eine ganze Reihe – nicht nur gesellschaftsanalytischer – Autoren, insbesondere auf Elias Canetti (Masse und Macht, 1960), aber auch E.T.A. Hoffmann und Edgar Allen Poe,  Ortega y Gasset, Heidegger und Oswald Spengler, Norbert Elias und Pierre Bourdieu, Andy Warhol und v. m..
Massen steht nicht nur für grössere Ansammlungen von Menschen, auch für einen virulenten, dynamischen sozialen und psychischen Zustand, der enorme politische Wirkungen hervorzurufen vermag. Wenn sich eine Masse bildet, entsteht zwischen den Individuen ein neuer sozialer und psychischer Zustand (74).
Massen sind eine historische Kraft, die oft mit plötzlicher Wucht auftaucht, aber sie sind als solche keine handelnden Subjekte mit strategisch verfolgten Absichten und Zielen (vgl. 73). Merkmale, die  Massen auszeichnen  werden beschrieben: (neben weiteren) Mobilisierung, Intentionalität, Emotionalität, Spontaneität, Abgrenzung und eine relative Offenheit   (28-32).  Masse ist ein performatives Konzept (310), d.h. ihre Existenz zeigt sich in der AktionDer Satz “Das gerichtete Miteinander vieler Menschen und deren Übereinstimmung von Aktion, Haltung und Stimmung” (21), kann als knappe Definition gelten. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit als Folge eines Auflösens sozialer Distanzen (34).  

Drei historisch abgrenzbare Phasen werden beschrieben, in denen Massen eine jeweils spezifische Erscheinung annahmen und auch jeweils anders wahrgenommen wurden.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema in Politik und Gesellschaft. Seit der Franz. Revolution wurde die Macht der Massen deutlich, die Kriegsbegeisterung von 1914 ist ein anderes Beispiel. Geprägt wurde der Begriff von Gustave Le Bon in dem 1895 erschienenen Psychologie der Massen, mit einer weitreichenden Wirkung u.a. auf Max Weber und Sigmund Freud in einer Zeit beschleunigter technischer und kultureller Innovationen.
Massen wurden oftmals als bedrohliche Freisetzung destruktiver Kräfte  gesehen, als Unterschichtsphänomen. Aristokraten und Bildungsbürger, die sich als Eliten verstanden, sahen sie als Bedrohung, störten sich an ihrer Gewöhnlichkeit. Die Spontaneität und die Wucht ihrer Aktionen weckte Begierden ihrer Instrumentalisierung, so in den Einparteiendiktaturen mit einer autoritären Formatierung und einer Choreographie von Massen. So wurde der Begriff Massen in der Folge oft pejorativ und mit Verachtung verwendet.

Teilhabe am Massenwohlstand

Zweite Phase einer Massen-gesellschaft wurde die Teilhabe am Massenwohlstand, zuerst verwirklicht in der American Middle Class  (16ff). Etwas ähnliches bedeutete Nivellierter Mittelstand. In der Sozialen Marktwirtschaft wurde die Teilhabe am Wohlstand gar zur Gründungslegende der BRD.  Zusammenhalt wurde nicht mehr in Massenveranstaltungen (Ausnahme: Sport), sondern über Massenmedien synchronisiert. Der Einzelne verliert sich nicht mehr in der Masse, sondern arbeitet am sozialen Aufstieg innerhalb einer Massengesellschaft mit ausgeformten Regeln. Die Steuerung der Systeme geschieht durch grosse Organisationen: Volksparteien, grosse Verbände und Unternehmen, an deren Spitze sich die Macht ballt. Kennzeichnend für diese Phase ist ein ausgeprägter Konformismus, bereits geringförmige Varianten im Konsum sollten Individualität hervorheben. Diversität war kein Thema. Erste Wandlungsprozesse zeigten sich vom Rande:   In der beginnenden Popkultur wurde individuelle Rebellion zu einem Modell  (Kérouac und Rebel without a cause werden genannt). Popkultur wurde mehr und mehr zu einer bestimmenden Massenkultur, Individualismus in der folgenden Phase zum Massenphänomen.

festival crowd

Dritte Phase  und Schwerpunkt des Buches ist die Gesellschaft der individualisierten Massen -eine Formulierung, die widersprüchlich erscheint,  in etwa entspricht sie der These der Gesellschaft der  Singularitäten. Zumindest in pluralistischen Gesellschaften  haben viel mehr Menschen als jemals zuvor die Chance, dass ihre Stimme gehört wird. Wahrscheinlich sind sich zudem viele erst jetzt der Rechte und Möglichkeiten bewusst, die ihnen eine Demokratie bietet. Die Massenkultur von heute verspricht allen ihr eigenes Selbst (245), jeder kann seinen eigenen Habitus entwickeln. 
Als alleinstehender Begriff verschwand Masse immer mehr, lebt aber in den Komposita weiter: Massen- kommunikation und Massenmedien, Massenkultur, Massenkonsum- und produktion, Massentourismus, Massenuniversität etc. Sie werden mal abwertend, mal neutral- beschreibend verwendet.  Die grossen gesellschaftlichen Systeme, voran die Kommunikationssysteme funktionieren nur aufgrund massenhafter Beteiligung (vgl. 103), in den klassischen Massenmedien als Publikum, mehr noch auf den Social Media Plattformen, wo sie auch die Inhalte bestimmen. Die neue Massenkommunikation des Internet ermöglicht eine nie geahnte Ausdehnung des Wirkungsraum des Einzelnen (237), vgl. Rezo oder Greta Thunberg.
Spricht man heute von Massengesellschaft, bezieht sich das auf Konsum, Alltagsverhalten und Lebensstil, Geschmackswahl. Man nimmt an den Öffentlichkeiten teil, die dem Habitus entsprechen.  Pluralisierung führt nicht zu einer Atomisierung der Gesellschaft, sondern zu einer Vielfalt neuer Zusammenschlüsse (312). Der alte Traum einer Masse der untereinander Gleichen erscheint in neuer technischer Gestalt (224).

Neun Kapitel gehen die Autoren durch die Bedeutungsebenen und Verwendungen des Konzepts Masse. Zwei wecken aktuell ein besonderes Interesse: IV zu Populismus und VII zu – hier so genannt- Virtuellen Massen. Populismus bedeutet das, sich im Namen einer Masse zu legitimieren, die als “das Volk” ausgegeben wird (136). Und mit diesem wird gern direkt (unverblümt) und ohne die Vermittlung von Medien- und legitimen Vertretungsinstanzen gesprochen.
Virtuelle Massen klingt etwas veraltet, nach Cyberspace der 90er Jahre, meint die Massen in den Social Media Netzwerken, in den Kommentarspalten, Blogs und Chat- Rooms. Massen, die sich zudem mit technischen Mitteln (bots) erweitern und verstärken lassen. Die Grenze zwischen solchen Fakes und tatsächlichen Massen (wobei es gleich ist, ob diese on- oder offline bestehen) wird nicht thematisiert. Sie zu erkennen zählt zur digitalen Medienkompetenz.

Der Text liest sich zwar meist flüssig und immer wieder stösst man auf sehr treffende, zitierfähige Sätze. Er enthält aber auch eine fast übergrosse Fülle an Beschreibungen einzelner Phänomene, Bezüge, Beispiele und Details, die sich oft kaum überschauen lässt. Immer wieder werden die unterschiedlichsten Seitenthemen nacherzählt bzw. weit ausgebreitet, wie etwa eine Passage zu Kunst- und Kampflied von Hanns Eisler. So hinterlässt die Lektüre ein etwas ambivalentes Gefühl. Was auffällt: Luhmann und Systemtheorie kommen nicht vor.
Das Konzept der Masse erschliesst wenig strukturierte Formen von Sozialität, überschneidet sich mit anderen Konzepten, wie Figurationen (die eine Relation zueinander bezeichnen), Tribes, Consozialität. Im Buch genannt werden Multitude, Schwärme, Sphären, Crowd – eigentlich nur die englische Entsprechung (neben mass), der sich über Crowdfunding und Crowdsourcing verbreitet hat.

Gunter Gebauer & Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. DVA, München 2019.  345 S. ISBN: 978-3-421-04813-4. Bildquelle Festival Crowd:  doubleju / photocase.de



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