Trumpismus- Muskismus

Mehr Musk wagen? Meint Ex- Finanzminister Christian Lindner

An politisch agressivere Zeiten kann ich mich kaum erinnern. In schneller Folge eskalieren Konflikte, die man vor noch kurzer Zeit nicht für möglich gehalten hatte.
Dazu gibt es passende Bilder, passende Gesten und Sprüche.
In den USA eine Übernahme im Rekordtempo, ein autokratischer Umbau. Agressivität nach aussen, selbst gegen Verbündete wie Kanada und Dänemark. Nach innen sog. Disruption, was irgendwie nach schöpferischer Innovation klingen soll – gemeint ist aber die Zerstörung, zumindest die massive Schwächung der konstitutionellen demokratischen Infrastruktur.

Die Berichte überschlagen sich nochmals seit dem 4.02., als DOGE- Department of Government Efficiency, die eigens für Musk geschaffene Behörde in strategisch zentrale institutionelle Bereiche  eindrang.
So der Übergriff auf Finanzsysteme, die Bundeszahlungen abwickeln, incl  persönlicher Angaben zu Sozialversicherungsleistungen, Steuerrückerstattungen, Gehältern und Rentenzahlungen. USAID – die Agentur für internationale Entwicklung – stand in erster Linie des Angriffs. Die Agentur musste unter anderem klinische Studien und Entwicklungsprojekte abbrechen.
Beobachter nennen es einen administrativen Staatsstreich*, einen Angriff auf das Gesetz selbst
, a trojan horse for Elon Musk to gut labor, consumer, and environmental protections².
Trumps formale Regierungsmacht gewährt dem nicht gewählten Tech- Milliardär Musk direkte Kontrolle über staatliche Institutionen – auch jene, die seine Unternehmen regulieren und ihnen Aufträge erteilen. Ein nicht gewählter Milliardär lässt eine Kolonne ihm ergebener, junger Anhänger in die Behörden einrücken.  DOGE setzt sich über gesetzliche Beschränkungen und Beschlüsse des Kongresses hinweg.  Musk beeinflusst nicht nur die Politik, sondern auch Personalentscheidungen(vgl. NYT 4.02.). 
There is not one single entity holding Musk accountable. It’s a harbinger of the destruction of our basic institutions¹.

Die erste Trump- Präsidentschaft 2017 – 2020 liess sich als entgleiste Episode verstehen – die noch von intakten Institutionen austariert werden konnte.  Spätestens mit dem Sturm auf das Kapitol am 6.01.21 wurde die Missachtung konstitutioneller Regeln deutlich – bis zur Gewaltbereitschaft. Es war ein Zivilisationsbruch – Donald Trump ist der Alptraum an Machtbesessenheit, vor dem die Gründerväter einst warnten (SZ).

Der Schulterschluss mit den Oligarchen aus BigTech bringt eine neue Dimension, schafft eine neue Form autoritärer Herrschaft. Wie soll man sie nennen – dieses MashUp aus zwei Strömungen sehr verschiedener  Herkunft – adhoc- generisch  TrumpismusMuskismus?
Trumpismus hat bereits einen Eintrag im Gabler – Wirtschaftslexikon aufbauend auf einer Beschreibung des New Yorker Soziologen Jeff Goodwin. Schlüsselelemente sind demnach sozialer Konservatismus, neoliberaler Kapitalismus, ökonomischer Nationalismus, – gegen Migranten gerichteter – Nativismus und weißer Nationalismus. Die Verbreitung von Fake- News, zusammengefasst als Flood the zone with shit (Steve Bannon)– mit der Absicht die öffentliche Meinung zu verschieben, ist eine wesentliche Strategie.  

Die MakeAmericaGreatAgain Bewegung führt ein nostalgisches Narrativ, ausgerichtet an vergangene Glanzzeiten, bereits im Namen. Es geht um die Rückeroberung nationaler Souveränität und die Abkehr von Globalisierungsprozessen.
Die  Klientel geht über das hinaus, was in Analysen von Populismus bisher beschrieben wurde, neben Konservativen und Evangelikalen zählen auch Anteile von Gebildeten, Erstwählern, Latinos dazu. Ein Brückenideologie ist die Gegnerschaft zu Emanzipationsbewegungen – Wokismus ist ein klar verankertes Feindbild.

Auch der Begriff Muskismus wurde schon einige male genannt – zuerst als ein Universum für Superreiche, als ein Zusammenwirken von Technologiegläubigkeit und Turbokapitalismus.  
Musk
lässt sich in den cyberlibertären Strömungen der Tech Branche verorten. Der Umfang und die Breite seines Konglomerats sprengt aber mittlerweile den Rahmen. Es verbindet ökonomische, technologische und mediale Macht.
Trump und Musk eint der unbedingte Machtwille, eine stark narzisstische  Selbstinszenierung als Selfmademen und Disruptoren/ Störer des Systems. Beide betreiben die systematische Delegitimierung demokratischer Institutionen.
Gemeinsam verfügen sie über ein Fülle an Machtquellen: neben der formalen Regierungsmacht Trumps, die finanziellen und technologischen Ressourcen, von Musk, im weiteren das Mobilisierungspotential der MAGA- Bewegung. They don’t want to govern, they want to rule (Steven Levitsky). 

Hugo Drax – Elon Musk

Nicht nur der Astrophysiker Harald Lesch vergleicht Musk mit Hugo Drax, dem  Schurken aus dem James Bond Film Moonraker**.
Die reale wie die fiktionale Figur sind die jeweils reichsten Männer der Welt mit weltumspannenden  technologischen und politischen Visionen und Machtambitionen – incl. dem Ausgriff ins All.
Was den Vergleich so naheliegend macht, ist der Aufbau eines privaten Imperiums, das der Menschheit die eigene Version von Fortschritt aufdrängen will. Der Ausbau des Konglomerats folgt so Strategien, die weit über klassische Unternehmensziele hinausgehen.
Die Expansionen in Raumfahrt, Transport, KI, social Media, Neurotechnologie, incl. der Sammlung nutzbarer Daten – und seine ungehemmte Tatbereitschaft, deuten auf den Machtausbau hin. Jetzt kommt die Verbindung zur formal legitimierten Macht hinzu. Finale Ziele und Taktiken bleiben undurchsichtig. Dem Populismus haftet etwas Clowneskes, dem Faschismus etwas Dämonisches an³.
Musk sticht als solitärer Cyberlibertarian heraus – ihm hat Trump seinen Wahlsieg zu verdanken. Aber wie ist die Rolle der anderen Tech- Milliardäre zu sehen? Ihr Auftritt (+ ihre üppigen Spenden) bei der Trump’schen Inauguration bot ein iconisches Bild, das eine neue Allianz von technologischer, ökonomischer und politischer Macht zeigt.
Auch Marc Zuckerberg geht es um visionäre Langfristziele. Mit dem  Metaverse soll eine neue digitale Realität erschaffen werden, die über die klassische Social-Media-Welt hinausgeht – ein digitales Paralleluniversum, das Nutzer an eine von Meta gesteuerte Umgebung bindet.
Googles Leitspruch war einmal don’t be evil –   das gilt schon lange nicht mehr. Google/ Alphabet hat sich zu einem technokratischen Imperium entwickelt, das durch seine Dominanz in Suche, KI und digitaler Infrastruktur Kontrolle über den Zugang zu Information ausübt.
Jeff Bezos hat mit Amazon ein Handelsimperium geschaffen, das mittlerweile von Cloud-Computing (AWS) bis hin zu Logistik und Medien reicht. Er agiert als klassischer Monopolkapitalist, der Regulierung vermeidet und systematisch Marktmacht konzentriert.
Microsoft setzt auf institutionelle Einbindung und präsentiert sich als ‘verantwortungsvoller’ Partner. Apple hat ein geschlossenes Ökosystem aufgebaut, das Nutzer durch Hardware, Software und Services maximal bindet.”
Alle genannten Konzerne bzw. Milliardäre verfügen in ihren Geschäftsfeldern über de Facto- Monopole incl. der Kontrolle über entscheidende Infrastrukturen – was ein jeweils eigenes Problem der Macht von BigTech ist.
Ihre Haltung zu einer Disruption der Demokratie lässt sich in Stufen einteilen: Musk ist mit seinem Konglomerat ihr primärer Betreiber. Zuckerberg und Bezos lassen sich als opportunistische Mitläufer einstufen. 
Was sie verbindet, ist die Vision einer tech-gesteuerten Gesellschaft, in der gesellschaftlich kontrollierte demokratische Institutionen zunehmend durch privatwirtschaftlich betriebene digitale Monopole verdrängt werden. An  einem Punkt zogen sie bisher mit, dem Ende von Minderheitenschutz un Diversitätsprogrammen. 

LinkedIn Posting vom 30.01.25

Was in den USA geschieht hat direkte Rückwirkungen auf andere Länder. In Deutschland fällt die Zuspitzung der Situation mit dem Bruch der Ampelkoalition zusammen, wobei Musks direkte Einmischung zugunsten der AfD die Parallelen noch verstärkt.
So stehen die Ereignisse und Diskussionen in Deutschland unter dem Eindruck der in den USA.  Im Mittelpunkt der letzten Wochen stand die  symbolpolitische Öffnung der politischen Arithmethik nach rechts. Migration wurde in plakativer Weise zum zentralen Thema, ohne jede Differenzierung zwischen Flucht und Arbeitsmigration. Die Schliessung von Grenzen als Abschied von der europäischen Öffnung. Dazu wäre noch viel zu sagen, aber ist ein weiteres Thema …
Was bleibt, ist eine Spaltungslinie, die sich bis in private Umgebungen zieht.  Vorbereitet wurde die Polarisierung durch oft schrille Bashing- Kampagnen. Wokeness wurde als bewusst konstruiertes Feindbild importiert.

Zweimal ist bei mir in den letzten Monaten ein Grundvertrauen zersprungen: Zum einen das in den Digitalen Fortschritts, der bei allen Umwegen immer wieder neue Möglichkeiten offen hält, die sich gestalten lassen. Jetzt ist die Möglichkeit eines digitalen Faschismus hinzugekommen -und das ist ernst zu nehmen.
Das zweite Grundvertrauen war das in einen langjährig gewachsenen gesellschaftlichen Konsens, Probleme einverständlich lösen zu können – dabei die andere Position als das  legitime andere zu sehen und zu respektieren. 
.  

¹Was Inside Musk’s Aggressive Incursion Into the Federal Government. The New York Times 3.02.25.  Harald Lesch: Was Elon Musk mit einem Bond-Bösewicht gemeinsam hat. SZ 3.02.25  ²Robert Reich, Professor of Public Policy at UC Berkeley. *Annika Brockschmidt: Trump & Musk: Staatsstreich in den USA & keiner kriegt es hier mit? Volksverpetzer. 6.02.2025 *Timothy Snyder: Of course it’s a coup. Miss the obvious, lose your republic. 4.02.25  *Mark Schieritz: Sie sagen Disruption und meinen Staatsstreich. Die Zeit 4.02.2025. Jill Lepore: Muskismus – ein Universum für Superreiche. Philosophie heute 16.12.21,. Lorenz Blumenthaler: Musk, Trump und die digitale Gegenaufklärung   ³Marcel Lewandowsky in Was Populisten wollen, 2024



Metaverse 2 – Building the Spatial Internet

Metaverse war der Hype vor dem KI- Hype – das räumliche Internet in 3D als neue technologische Entwicklungsstufe des WorldWideWeb. Mittlerweile wird überwiegend von Spatial Computing oder dem räumlichen Internet gesprochen – eine Evolution der ursprünglichen Metaverse-Vision.

Zum Hype wurde Metaverse als sich Facebook im Oktober 2021 zu Meta umbenannte und in der Folge 36 Mrd $¹ in seine Entwicklungsabteilung Reality Labs investierte. Der Name ist dem dystopischen Science Fiction- Roman  Snowcrash  von Neal Stephenson (1992) entlehnt.

So verbreitete sich eine bestimmte Vorstellung des Metaverse (Meta/ Über -versum) als einer parallelen Welt mit nach Wunsch und Vermögen eingekleideten Avataren und virtuellen Grundstücken – zugänglich über VR- Headsets.  Manchmal phantastisch, zumindest eskapistisch.
Eine mögliche, aber nicht zwingende Vorstellung. Spatial Computing betont dagegen eine nüchterne,  anwendungsorientierte Vision des räumlichen Internet:  digitale Informationen werden in physische Räume integriert. Es gilt der Nutzen von Simulationen, technischen (XR-)  Anwendungen aller Art, z.B. Entwürfe für die Bauwirtschaft, 3D-Visualisierungen, Remote-Zusammenarbeit.

Hintergründe bzw. Voraussetzungen zum Hype waren zum einen technische Fortschritte, so in der Graphikleistung, schnellere Internetverbindungen, kulturell  auch die Gewöhnung der Nutzer an digitale Räume in der nur kurze Zeit  zurückliegenden Pandemie. Blockchain und NFTs spielten anfangs als potenzielle wirtschaftliche Grundlage eine Rolle, verloren aber an Überzeugungskraft und Akzeptanz.

BigTech-Konzerne waren im Social Web reich geworden und drängen in Successor States des heutigen Internet – in die Next version of the Internet. Es geht um das Aufspüren und die Entwicklung neuer Geschäftsbereiche und die  Aufrechterhaltung von Marktmacht. Manche der bestehenden Geschäftsmodelle zeigen Sättigungserscheinungen. Zukunftserzählungen werden oft als unausweichlich und bombastisch inszeniert: futures appropriation. Technologie-Berichterstattung ist daran oft mehr interessiert als an aktueller Realität. Jede Entscheidung, jede Handlung, kann Folgen für den Aktienkurs haben.

Zwei wesentliche Merkmale sind festzuhalten: Das aktuelle Internet basiert technisch auf der Übertragung von Datenpaketen, die in kleinen Partikeln bei Bedarf gesendet werden (wie beim Zugriff auf Webseiten und z.B. auch bei Video-Konferenzen). Das räumliche Internet erfordert eine kontinuierliche Datenübertragung und Synchronisation für die gemeinsame virtuelle Umgebung.
Das Nutzungserlebnis des Metaverse ist das eines durchgängig verbundenen virtuellen Raums – technisch eine persistente, kontinuierliche 3D-Umgebung. Das  (Uni-)Verse im Metaverse impliziert dazu eine universelle, offene soziale Sphäre.

Als First- Mover inszenierte Meta/ Facebook den Hype, andere Konzerne zogen mit unterschiedlichen Schwerpunkten nach: Microsoft, Google investierten in VR-Headsets, in Plattformen  und technologische Infrastruktur.
Gaming-Plattformen wie Roblox, Fortnite und Minecraft boten bereits virtuelle Welten an, die als eine Art Proto-Metaverse erlebt wurden. Diese Plattformen hatten bereits Millionen von Nutzern und zeigten, dass immersive, gemeinschaftliche Erlebnisse in virtuellen Welten einen breiten Anklang finden können.
Apple vermied den Begriff Metaverse, investierte aber in AR/VR-Technologien, lancierte dann im Juni 2023 mit der  Apple Vision Pro den Begriff Spatial Computing – der dann als Spatial Internet den Begriff Metaverse verdrängte. Diese Entwicklung markierte einen Wendepunkt weg von der Vorstellung einer parallelen virtuellen Welt, hin zu einer möglichst nahtlosen Integration digitaler Elemente in die physische Umgebung.
Das Nutzungserlebnis von Spatial Computing ist das einer digital erweiterten physischen Realität – eine möglichst nahtlose Überlagerung und Integration digitaler Elemente in die physische Umgebung. Anwendungen werden für ihren jeweiligen Gebrauch erstellt bzw. programmiert.

Autor Matthew Ball, einer der einflussreichsten Analysten und Vordenker des Metaverse, hatte 2022 auf dem Höhepunkt des Hype mit ‘The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything‘ ein umfassendes Compendium veröffentlicht. Seine Definition des Metaverse wurde weithin als Standardreferenz akzeptiert* (s.u.).
Im August 24 erschien eine Revised and Updated Edition mit dem bezeichnenden Untertitel Building the Spatial Internet. Mehr als 70% des Inhalts wurden neu geschrieben. Im Grunde ein neues Buch, zumindest eine neue Kontextualisierung von Metaverse.
Gegenüber der Auflage von 2022 sind rund 130 Seiten und einige Kapitel hinzugekommen: insbesondere die Rolle der KI, die Weiterentwicklung der XR- Zugangsgeräte und die Integration von Spatial Computing in bestehende Technologie-Ökosysteme.

Was hat sich in den zwei Jahren an der Zukunftsvision verändert? Eine Relativierung ist sofort sichtbar:  Der Satz And How It Will Revolutionize Everything wurde gestrichen – nicht nur als Subtitle.
Nach dem Hype verschwand das Metaverse nicht. Zahlreiche Technologien und Konzepte finden  im Gaming Anwendung; Weiterentwicklung und aktuelle Diskussion finden auf den zugehörigen Plattformen statt. Monatliche Teilnehmerzahlen erreichen dort überraschende Grössenordnungen: Epic Games Store (Fortnite) nennt z.B. 75 Millionen monatlich aktive  Nutzer.
In der Gaming- Szene trifft eine an virtuelle Welten gewöhnte, sehr technikaffine Nutzerbasis auf eine ausgebaute Infrastruktur – und ist auch bereit dafür Geld auszugeben.

Spatial Computing. Foto: Erik Mclean/ Unsplash

Die Plattformen zeigen Merkmale des Metaverse: Es gibt soziale  Aktionen in virtuellen Räumen, eine Creator Economy, die auch so heisst (Fortnite), sie bieten einen gewissen Rahmen für soziale und kommerzielle Interaktionen, die über das reine Gaming hinausgehen.
Sog. Islands bieten interaktive Orte auf den Gaming- Plattformen.  Es sind bedingt soziale, experimentelle und kreative Räume die den Regeln und der wirtschaftlichen Kontrolle der Plattformbetreiber unterliegen und einen bestimmten Nutzertypus ansprechen.  Nutzungen wie virtuelle Geschäfte, soziale Treffpunkte, Markenrepräsentationen oder Aktionen wie Kunstevents und Modenschauen bleiben aber eher experimentell.
Plattformen wie Sandbox und Decentraland bestehen zwar weiterhin, haben aber deutlich an Aufmerksamkeit verloren und erreichen nur einen Bruchteil der Besucherzahlen der Gaming- Plattformen.
Einen kompakten Einblick in die Vorstellungen zum Spatial Computing gibt es übrigens in einem Rundgespräch mit Matthew Ball, Epic- Games CEO Tim Sweeney und Metaverse- Autor Neal Stephenson vom 16.07. diesen Jahres.
So sehr Gaming- Plattformen eine bedeutsame Reichweite erreicht können und so technisch gelungen sie sind –  sie bleiben subkulturelle Phänomene. Sie sind stark an spezifische Gaming-Communities gebunden, mit eigenen Codes, Ästhetiken und Kommunikationsformen, die sich auf die jeweiligen Plattformen konzentrieren.
Subkulturell bedeutet in diesem Kontext, dass es keine breitere gesellschaftliche Durchdringung gibt und kaum eine Überschneidung kultureller Grenzen. Eine universelle, offene soziale Sphäre oder immersive globale Öffentlichkeit – wie sie als collective virtual open space konzipiert wurde – ist derzeit nicht in Sicht.

Zum Hype geht Ball in Distanz. Ein immersives, räumliches Internet hält er aber für zwangsläufig: I’m certain that the future will be increasingly centered around real-time- renderes 3D virtual worlds and networks (379). ²
Die Schwankungen von Hypes, Flops, Investitionen und Rückzügen sind da nur Teilstücke langfristiger Entwicklungen.
Metaverse ist dabei als Begriff eher belastet: durch den Ursprung als Dystopie, spekulative Verwertungen im Blockchain- Umfeld, durch den shocking rise of usage und die Inanspruchnahme durch den Grosskonzern, den Ball weiterhin durchgehend Facebook nennt. Selber bevorzugt er 3D- Internet. Andere verwenden Spatial Computing (Apple) human co-experience (Roblox), hyper-digital reality (Tencent). Dennoch verwendet er Metaverse durchgehend –  immerhin ein Begriff, den er selber mitgeprägt hat.

Es gibt viel Technologiegeschichte im Buch: zur Idee des räumlichen Internet, zur Entwicklung des Personal Computers, des Internets, der Mobiltelefone, Netzwerke, Kabelinfrastruktur, von Streaming und Videospiele, zur Entwicklung von KI in den letzten Jahren – und vor allem zu den Zugängen in 3D- Welten.
Immaterielle Erfahrungen – experiences – brauchen physische  Zugangsgeräte. Der Erfolg eines Spatial Internet  hängt stark davon ab, wie weit es gelingt, kompakte, komfortable Geräte zu entwickeln, die länger und angenehmer genutzt werden können. Aktuell setzen die von Meta/ Facebook und Apple entwickelten Headsets den Standard. So leistungsstark und ergonomisch angepasst sie mittlerweile sind, bleibt ihr Einsatz auf spezifische Aufgaben beschränkt.

Smart Glasses bringen das Spatial Internet in den Alltag – können aber auch als übergriffig erlebt werden (Bild: Dall-e)

Smart Glasses sind dagegen alltagstauglich und eine Art Zugangsschneise in die allgemeine Lebenswelt. Bis jetzt eine Art SmartPhone als Facewear, haben sie noch viel Potential Funktionen des Spatial Internet mit dem Alltag zu verbinden. Problematisch ist zunächst die soziale Akzeptanz: Das Gefühl observiert zu werden, kann Unmut hervorrufen.

Spatial Computing 2024 sind vor allem die sich weiter verbreitenden Anwendungen der Virtual-/ Augmented-/ Mixed- Reality.  Zusammengefasst als XR- Reality, hat sich  XR- Technologie zu einer eigenständigen Branche mit sowohl wirtschaftlich als  technologisch wachsender Bedeutung etabliert. Entwickelt wird für jeweils spezifische Zwecke:  immersive Spiele, Bildungsplattformen, Simulationsanwendungen,   virtuelle Konferenzen, 3D-Modelle für Architektur und Bauprojekte – für das Entertainment oder auch im medizinischen Umfeld. Technisch werden die Anwendungen immer ausgereifter.
XR- Technologie ist dabei Innovationstreiber in verschiedenen Branchen. Produktentwicklung in virtuellen Räumen, Remote-Training für komplexe Maschinen, Design-Reviews in globalen Teams.
Weiterentwicklung findet eher im professionellen Bereich statt. Für Konsumenten attraktive Anwendungen werden zwar mehr – dagegen stehen hohe Kosten für die Hardware.  Ansätze zu einem Social- Metaverse sind wenig zu sehen.
Zeitnah sieht Ball ein Corporate Spatial Internet. Aufstieg und Verbreitung des (atuellen) Internet waren von einer nicht-kommerziellen Entwicklung bestimmt. Talente, Ressourcen und Ambitionen  sammelten sich zunächst im akademischen Umfeld und staatlich finanzierter Forschung. Heute ist die Online- Wirtschaft von BIgTech, Datensammlung, Werbung und der Vermarktung digitaler Produkte bestimmt.

Einige Parallelen  zur KI fallen auf: Bis KI vor zwei Jahren den Durchbruch erlebte, sprach man von KI- Wintern und KI- Frühlingen als Phasen nachlassenden und erneuten Interesses. Ähnlich wechselt das Interesse an einem Metaverse bzw. einem räumlich erlebten Internet, bis zurück zu den Zeiten von Second Life.
Künstlich geschaffene Intelligenz ebenso wie eine parallele Welt sind Themen, die menschliche Phantasie beschäftigen. Beide greifen zurück bis auf uralte Mythen und werden  immer wieder kulturell aufgegriffen.
KI ist zwar längst nicht vollendet, hat aber eine Stufe erreicht, auf der sie in der Breite der Gesellschaft als nützlich erlebt wird. Spatial Computing bietet zwar immer mehr attraktive Anwendungen – sie bleiben aber auch mittelfristig insulär.
Das Spatial Internet kann die digitale Gesellschaft zwar nach und nach durchdringen, stösst aber an Konfliktlagen und Grenzen, die Ball nicht ganz auslässt.
In einem tatsächlich global funktionierenden Metaverse – entsprechend der Definition als eines immersiven, persistenten und nahtlos verbundenen digitalen Raumes – würden sich zudem Strömungen und Konflikte der Weltgesellschaft in einem nicht vorhersehbaren Ausmass spiegeln,  mit kaum einschätzbaren Konflikten um Einflusszonen, wirtschaftliche und politische  Macht.
Interaktivität, Grafikqualität, die Aufrechterhaltung von Persistenz würden zudem exponentiell mehr Rechenleistung erfordern und Energie verbrauchen als das heutige Internet. Kann ein solches System nachhaltig und gesellschaftlich akzeptiert sein?

Matthew Ball: The Metaverse. Building the Spatial Internet  8/ 2024,  446 S.  Metaverse expert Matthew Ball still believes in the 3D internet – Interviewing Meta CTO Andrew Bosworth on the Metaverse, VR/AR, AI, Billion-Dollar Expenditures, and Investment Timelines .  On Spatial Computing, Metaverse, the Terms Left Behind and Ideas Renewed. ² – noch stärker: The very idea of a Metaverse means an ever-growing share of people’s lives, labor, leisure, time, wealth, happiness, and relationships wil be spent inside virtual worlds , rather than just extended or aided through digital devices and software. (379).
*
Die Definition von Ball (2022): A massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds that can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments.” 
¹ 36 Mrd  wurden  in Berichten der US-Börsenaufsicht SEC genannt



Code & Vorurteil – KI und die Nebenwirkungen

KI ist im zweiten Jahr des Hype, mit einer gewissen Verzögerung  auf dem Buchmarkt.
In Code & Vorurteil über künstliche Intelligenz, Rassismus und Antisemitismus geht es um Nebenwirkungen der KI. Ein Sammelband mit 18 Einzelbeiträgen + Glossar. Mit Schwerpunkten zum Verhältnis KI zu  strukturellen Ungleichheiten, Fake & Unfake, Kontrolle. Herausgeber ist die Bildungsstätte Anne Frank, ein Bildungszentrum gegen Gewalt und Diskriminierung mit historisch-politischer Bildungsarbeit mit Sitz in Frankfurt (ganz in der Nähe des Geburtshauses von Anne Frank) und Kassel.

Die Verbreitung von KI wird oft mit anderen technologischen Innovationszyklen verglichen, zumeist älteren Stufen der digitalen Revolution- manchmal aber auch mit früheren folgeträchtigen Innovationen, wie der Elektrizität.
Unter KI wurden immer wieder ziemlich unterschiedliche Dinge verstanden, der Begriff hat sich aber durchgesetzt. Auch hier geht es v.a. um generative KI, die auf der Grundlage von Trainingsdaten, nach Anweisung/ Promptings neue Texte, Bilder, Videos – und noch einiges mehr generieren kann.  Auf Nachfrage einer treffenden Selbstbezeichnung nennt sich ChatGPT selber sprachgesteuertes maschinelles Lernmodell.
 Werden mit KI gesellschaftliche Ungleichheiten fortgeschrieben?,  Wer hat den Nutzen von der gewonnenen Effizienz?, Kann KI unter den bestehenden Umständen zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen?, Wie gerecht sind automatisierte Entscheidungssysteme? Es geht um die Detektion antisemitischer und rassistischer Codes, daran anschliessend die strategische Frage, ob KI- Systeme Verbündete im Kampf gegen Ungleichheit sein können?
Zusammengefasst als die Frage, die die Herausgeber bewegt: Wie können Politische Bildung und kritische Zivilgesellschaft einen guten Umgang mit den neuen KI-Tools und ihren Auswirkungen finden? oder auch: Können technische Systeme Probleme lösen, die im Kern sozial und politisch sind? – Um diese Dimension der KI- Diskussion geht es in den  Beiträgen.

Einige der Autoren sind mir von anderen Quellen  bekannt:
Jürgen GeuterPseudonym @tante, hat sich einen Namen als Kritiker, als Gegensprecher von Hypes gemacht – man kann auch sagen als markanter De- Bullshitifyer. Im Falle Web3 lieferte er die letztendlich entscheidenden Argumente, zusammengefasst als das Internet, das es zu verhindern gilt, einen antipolitischen Raum zur Kapitalakkumulation.
Auch in den Diskussionen zu Metaverse und KI nimmt @tante die Rolle des Kritikers ein. Daten beschreiben die hegemoniale Sicht auf die Welt und ihre Strukturen (81) – ist in etwa seine hier vertretene Grundansicht. Generative KI kennt nur die gelernten Daten und zwängt alles in bekannte Muster ´– reduziert so Diversität und verstärkt einen digitalen Mainstream. Generative KI  ist demnach strukturkonservativ, die alte Welt, die es zu überwinden gilt, steckt zu tief in ihren Knochen (88).

Metaverse ist zwar out of Hype, dennoch eine sich weiter entwickelnde Umgebung.  Matthias Quent, Soziologie- Professor in Magdeburg, war mir von einem Essay zum Rechtsruck bis in die Mitte der Gesellschaft bekannt.
Hier (101 – 113) schreibt er aus der Perspektive des Forschungsprojekts Immersive Demokratie über KI im Industrial und im sozialen Consumer Metaverse. Mit Hilfe von KI können komplexe Immersive Virtuelle Umgebungen (IVU, 105) konstruiert und gesteuert werden, wie wir es bereits von Texten, Bildern und nun auch Videos kennen.
KI kann darin vielfältig eingesetzt werden. Dazu, Gesetze und Regeln einzuhalten, Gemeinschaftsstandards und erwünschte Verhaltensweisen zu regulieren, Diskussionen zu moderieren. Genauso wie massenhaft manipulative und propagandistische Inhalte generiert werden können. Quent thematisiert Scenarios demokratie-gefährdender Radikalisierung. Das kann einzelne Personen, Gruppen, Bewegungen, virtuelle Räume und digitale Netzwerke umfassen. Als lernendes System ist auch maschinelles Lernen radikalisierungsfähig (104).

Eva Berendsen (115-124) thematisiert den Einsatz von KI durch rechtsextreme Aktivisten.  Zu deren Werkzeugkasten, speziell zur  Illustration politischer Meinung gehören KI- Bildgeneratoren.  Zu erwarten wäre eine Ausbreitung von Fake- Bildern, die Emotionen, Ängste, Desinformation schüren. Sicher kann KI eine Schneise sein, durch die sich solche Trigger verbreiten. Chat GPT selber gilt als woke AI – und sagt von sich selber, dass es trainiert sei, respektvoll und höflich zu sein, eine politisch korrekte Sprache zu verwenden und sich dabei an allgemein akzeptierte soziale Normen zu halten. 
Eine mögliche Perspektive politisch- historischer Bildung entwirft Deborah Schnabel in Frag doch das Hologramm (145 – 153) mit der Vision KI- gesteuerter Hologramme historischer Personen.

Das Fazit überrascht kaum: Ein verantwortungsvoller Umgang mit KI braucht eine starke Zivilgesellschaft (198). Demokratische Kultur muss auch in digitalen Räumen konsequent gelebt werden. KI kann, wie jede Technologie, für sozialen Fortschritt wie für sein Gegenteil, benutzt werden. Sie reproduziert das, was in der Gesellschaft ist. Letztlich geht es um das gesellschaftliche Verständnis davon, wie Wahrheit erzeugt und richtige Entscheidungen getroffen werden  (80).
Man kann es auch zivilgesellschaftliche Wachheit nennen – genau das bedeutet Wokeness.  Gegenspielern einer demokratischen Öffentlichkeit sind Bedenken fremd, Techniken für ihre Zwecke zu nutzen.
Eine Frage wird nicht thematisiert, das ist der zu erwartende Machtüberhang einiger weniger Plattformen und Unternehmen – BIG AI – so wie wir es aus dem Social Web kennen.

Bei aller geäusserten Skepsis und Besorgnis bleibt doch klar, dass generative KI ein Publikumserfolg ist. So wie das Internet bei seiner Einführung, wie das SmartPhone – und auch wie Social Media. Die Möglichkeiten werden auf allen Seiten ausgetestet – in der Bildung, in der  Marktforschung, im Journalismus – um nur die zu nennen, in denen ich in den letzten Tagen praktische Beispiele gesehen habe.
Parallel zur Re: Publica in Berlin Ende Mai gibt es eine offene Vernastltung zur Prompting Culture. Ein Hinweis auf die Popularität der Anwendung generativer KI.

Folgt man dem Konzept der Technogenese, das die Co- Evolution, eine parallele Entwicklung  von Technik und Gesellschaft bedeutet, ist die laufende Diskussion ein Teil der Aushandlung über die gesellschaftliche Einbettung von KI – und dieses Buch ein lesenswerter Beitrag dazu.

Praktisch ist das Glossar (>20 S.) mit kompakten Definitionen der verwendeten Begriffe und einiger mehr.

Marie- Sophie Adeoso, Eva Berendsen, Loe Fischer, Deborah Schnabel: : Code & Vorurteil  – Über künstliche Intelligenz, Rassismus und Antisemitismus. Edition Bildungsstätte Anne Frank. Verbrecher Verlag, Berlin 2024.   Financial Times . Amba Kaka, Sarah Myers & Meredith Whittaker: Make no mistake—AI is owned by Big Tech – MIT Technology Review 5.12.2023 —
AI NOW. – 2023 Landscape – Confronting tech power



Netnographie 2024 – Community vs Consociality

Netnography is about obtaining cultural understandings of human experiences from online social interaction and/or content, and representing them as a form of research (* längere Definition, 2022, s.u.).

Netnographie blickt bereits  auf drei Dekaden zurück, in denen sich online social interaction (and/or content) ebenso veränderte, wie das Netz selber. Die kurze Definition aus dem Jahre 2015  ist ebenso einprägsam, wie sie einen weitgezogenen Rahmen absteckt – und damit auch den Anspruch als Forschungsprogramm der Wahl für ein sich ständig weiter entwickelndes, umfangreiches Forschungsfeld.

Ein kurzer Rückblick: Virtual Communities waren das Einstiegsfeld in eine online practice of ethnography. Im Grunde eine Erweiterung des Forschungsfeldes um ein field behind the screen. Naheliegend war es bestehende Methoden auf die neuen Räume sozialer Interaktion anzuwenden: Ethnographie umfasst einen weitgefassten Methoden- und Anwendungskoffer – basierend auf Beobachtung, Ko- Präsenz und Teilnahme. Angewandt in der eigenen Gesellschaft geht es um soziale und kulturelle Differenzierungen und auch darum, wie diese geteilte Gegenwart hergestellt, aufrecht erhalten und verändert wird.

Research zu Virtual Communities passte sich ein in Konzepte, die sich mit Lebenswelten in den zeitgenössischen, oft als postraditionell bezeichneten Gesellschaften befassen: Cultural Studies – the whole way of life of a group of people –  befassen sich oft mit Sub- und Popularkulturen als Teil des sozialen, politischen und ökonomischen Gefüges;  das  Konzept Consumer Culture betrachtet Konsum als Ausformung populärer Kultur; das Modell der Tribes, Vergemeinschaftungen gefühlter gemeinsamer Identität- wurde mehrfach in diesem Blog beschrieben – u.a. Consumer Tribes
Brand Communities (1995ff) verweisen  auf  vergemeinschaftende Effekte von  Konsum. Einige Beispiele werden immer wieder genannt: Apple, Nike, manche sog. Kultmarken. Der Aufbau einer Brand Community gilt als Erfolgsziel des Marketing.

Ethnographische Ansätze wurden  mehrfach, oft auch ad-hoc,  auf Online- Welten angewandt. Neben Netnographie hat dabei Virtual Ethnography der britischen Soziologin Christine Hine Verbreitung erlangt.
Was Netnographie vor den anderen Ansätzen auszeichnet, ist die über drei Jahrzehnte gewachsene Kontinuität als adaptive Forschungspraxis, die den Wandel der technologischen und kulturellen – technokulturellen – Infrastruktur spiegelt. Vorangetrieben wurde Netnographie seit Beginn  von dem kanadischen Kulturanthropologen und Marketer Robert Kozinets – gelegentlich etwas scherzhaft als Godfather of Netnography tituliert.
Netnographie hat sich seitdem international verbreitet, so findet Ende Mai 2024 die Netnocon- Conference in Mailand statt. Im deutschsprachigen Raum weniger, bekannt ist die  Münchner Firma Hyve mit einem auf Netnography Insights basierenden Workflow zur Produktentwicklung (verbunden mit dem Ansatz Open Innovation nach Eric v. Hippel). Einige Marktforschungs- Institute führen Netnographie in ihrem Portfolio auf.

Online- Kommunikations- Welten verändern und entwickeln sich ständig – von technologischer, sozial/ kultureller wie von kommerzieller Entwicklung angetrieben. Vom experimentellen  Cyberspace zum Netz der  Forum- typed Online Communities,  vom partizipatorischen Web 2.0 zur Landnahme und Dominanz der Social Media Plattformen, bis hin zum heutigen Netz mit seiner vielschichtigen Integration mit der physischen Welt.
Das frühe Internet fühlte sich irgendwie subkulturell an – von Nerds und zahllosen Communities belebt, die sich um Fantum jeder Art, gemeinsamen Interessen und Leidenschaften bildeten.  In den späteren Entwicklungsstufen wurde das Netz  immer mehr zu einer übergreifenden  Infrastruktur der Gesamtgesellschaft.

Seit etwa Beginn der 10er Dekade, verstärkt in den letzten Jahren, wurde diese Veränderung thematisiert: Online- Communities blieben lange Zeit das Modell, Online- Sozialität zu verstehen. Damit verbunden ist die Vorstellung von wechselseitigen Interaktionen, Teilhabe incl. einem Beziehungsaufbau. Die Frage ist immer, was eine Community zusammengebracht hat – bzw., was sie zusammenhält.
Digitale Interaktionen sind oft situativ, auf einzelne Funktionen bezogen, sozial instabil, generell variabel. Mit dem Konzept Community lassen sich viele dieser digitalen  sozialen Erfahrungen nicht beschreiben.
Als Gegenstück zum Konzept Community hat sich das Konzept Consociality herausgebildet -es wird definiert als the physical and/or virtual co-presence of social actors in a network, providing an opportunity for social interaction between them. 

Die schwedischen Autoren Pernilla Jonsson & Fredrik Hanell unterscheiden demnach zwei Ausformungen von Netnographie (vgl. Hanell, F.  &  Jonsson Severson 2022 u. 2023):
Community-based Netnography, using the notion of community, focused on
interactions characterized by (lasting) communal ties and practices. Consociality-based Netnography, using the notion of consociality, focusing on interactions characterized by (fleeting) connections in contextual fellowships.

Netnography Procedures. aus: Netnography evolved. Kozinets 2023 (s.u.) – nach Klick in voller Auflösung

Netnographie kann viele Formen annehmen, unterschiedliche Methoden der Datenerhebung und unterschiedliche Analyse- und Interpretationsmethoden anwenden.
Die nebenstehende Graphik zeigt einen – prototypischen – Ablauf, Stand  von 2023,  ausgehend von der Initiation incl. der entscheidenden Forschungs-frage.
Kurz zusammengefasst bedeuten die einzelnen Schritte: Initiation (ausgehend von einer Forschungsfrage) konzentriert die Recherche auf ein ausgewähltes Thema/Phänomen; Immersion, meint den Prozess des Erlebens, Beobachtens, Nachdenkens und Aufzeichnens; Investigation: Recherche und Sammlung vorhandener Quellen,  konzentrierte und selektive Suche; Interaktion, einschließlich Datenerhebung; Integration, meint die Verbindung von Analyse und Interpretation schliesslich Incarnation, der Akt der Darstellung und Präsentation  von Ergebnissen. (vgl.: Kozinets, R. V., 2023.  Netnography evolved s.u.).. Entsprechend den Fieldnotes der physischen Ethnographie wird ein immersion journaling – Aufzeichnung empfohlen.
Diese genannten Schritte sind als Orientierungsvorgaben zu verstehen – jede einzelne Netnographie ist  hand- tailored – den Quellen, dem beabsichtigten Umfang und v.a. der Forschungsfrage entsprechend, die eben das definiert, was man wissen will.

Ein nützliches Pairing ergibt Netnographie + Social Intelligence Software (vormals  Social Media Monitoring, später – Listening), wie sie die Softwaredienstleiter Linkfluence, Talkwalker, Brandwatch anbieten.
Die Software ermöglicht den Zugriff auf – öffentlich verbreitete – Online- Kommunikationsdaten, die bis auf mehrere Jahre zurückreichen können. Die Datenquellen lassen sich – entsprechend dem Forschungsinteresse – nach Vorgaben filtern und auswählen. Quellen können so schnell ausfindig gemacht, Verbindungen entdeckt werden.  Social Intelligence Software ist meist für die Begleitung und Erfolgsmessung von Social Media Kampagnen optimiert, incl.  Sentimentanalyse*.
Netnographie + Social Intelligence Software erleichtert vor allem eine Consociality- based Netnographie. So kann zu häufig diskutierten Fragen oft sehr effektiv recherchiert werden. Etwa die Verbreitung von  Einstellungsmustern, der Akzeptanz von Veränderungen: Wo, wie häufig werden Themen diskutiert, welche Einstellungen sind verbreitet, welcher Tenor herrscht dabei vor  etc.
Die Such- Ergebnisse bedeuten allerdings längst keine automatisierten Forschungsergebnisse. Nicht alle aufgefundenen Quellen sind im jeweiligen Zusammenhang  aussagekräftig.  Kommunikation in Social Media unterliegt  oft bestimmten Absichten, strategisch konzipierte Marketing- Kommunikation. Es bedarf einer skilled interpretation. Eine nützliche Variante ist die Exploration eines Themas als Vorstudie, die dann mit den jeweils geeigneten gewählten Methoden fortgesetzt werden kann.

Der Gegenstand bzw. das Forschungsfeld von Netnographie kann sehr vielfältig sein, von relativ einfachen Recherchen bis zu aufwändigeren (und damit teureren) Studien.
Ein spannendes Feld sind thematische Cluster, die sich über ein gemeinsames Interesse und Engagement bilden. Solche, die Erzeuger, Handel und Konsumenten umfassen. Man findet sie dort, wo Konsum, Identität und/ oder Engagement für eine Sache zusammenkommen: Beispielsweise zu den Themen  vegan und Fairtrade  – besonders zu den Zeiten, als sie in den Mainstream einsickerten. Zu Genussmitteln wie Kaffee, Schokolade, Craft Beer oder Vin Naturel, besonders, da wo sie neu erlebt werden, im weiteren  Style- Communities, wie etwa New Heritage. Insbesondere  Tourismus und Sportarten mit hohem Engagement sind Felder, die vielfältig mit Social Media bzw. Online- Kulturen verbunden sind.

Immersive Netnographievon Kozinets bereits in einem Paper entworfen, ist ein Vorgriff auf bislang höchstens ansatzweise bestehende soziale Umgebungen in einem erweiterten technokulturellen Raum – Virtual Reality, Augmented Reality, Spatial Reality – mögliche Metaverse– Kontexte.  Wo Menschen miteinander interagieren, machen sie soziale Erfahrungen – ob in einem physischen, einem medial vermittelten, oder in rein virtuellen Räumen. Technologisch vermittelte Welten sind Teile der Lebenswelt: Identitäten werden konstruiert, Verbindungen aufgebaut, Verhaltensmuster bilden sich heraus – und es gibt ein kommerzielles Interesse daran, wie sich diese in Konsummustern niederschlagen. Das Konzept von Ethnographie, als Beobachtung der Lebenswelt ist darauf genauso übertragbar, wie es der Cyberspace der 90er Jahre war  (vgl.: Kozinets, R. V., 2022.  Immersive netnography, s.u.).

Soweit eine kurze Aktualisierung von Netnographie unter Berücksichtigung aktueller Veröffentlichungen. Viele einzelne Punkte sind angesprochen- wird fortgesetzt ….

Überarbeitet 16. Februar

Definition ¹aus Netnography Evolved, 2023:  Qualitative research approach for gaining cultural understanding that involves the systematic, immersive, and multimodal use of observations, digital traces, and/or elicitations. It is based on a set of guidelines combined with flexible procedures that emphasize researcher engagement, ethical considerations, and contextualization.
* Sentiment: positiver bzw. negativer Tenor von Aussagen

Gambetti, R. C., & Kozinets, R. V. (2022). Agentic Netnography. New Trends in Qualitative Research, 10.: Weijo, H., et al., New insights into online consumption communities and netnography, Journal of Business Research (2014). Hanell, F.  &  Jonsson Severson, P.: An open educational resource for doing netnography in the digital arts and humanities. In:  Education for Information · 6/2023.  Hanell, F.  &  Jonsson Severson, P.:Netnography: Two Methodological Issues and the Consequences for Teaching and Practice. The 6th Digital Humanities in the Nordic and Baltic Countries Conference, Uppsala, Sweden,  3/ 2022 Kozinets, Robert V.: Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research.. 3d Edition 2019, SAGE Publications Ltd. 460 S.  ¹Kozinets, R. V. Netnography evolved: New contexts, scope, procedures and sensibilities. In: Annals of Tourism Research · December 2023 Kozinets, R. V. (2022). Immersive netnography: a novel method for service experience research in virtual reality, augmented reality and metaverse contexts. Journal of Service Management, 34(1), 100-125..  Kozinets, R. V. (2021): Netnography Explained. Kozinets, R. V. Everyday activism: an AI-assisted netnography of a digital consumer movement. In: Journal of Marketing Management 01/2024.  Kozinets, R., (2022). How to Conduct Netnography: Using an Immersion Journal SAGE Publications 2022
Kaoukaou, M.: Netnography: towards a new sociological approach of qualitative research in the digital age. https://doi.org/10.1051/shsconf/202111901006
Chris Barker & Emma. A. Jane: Cultural Studies. Theory and Practice, Sage Publ. 2016, 760 S, 


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