Digitale Zivilisation

auch Texte zur Digitalisierung erscheinen doch meist als gedrucktes Buch; Quelle: kallejipp/photocase.de

Ein Zwischenschritt: Nach einer Reihe von Rezensionen, nun ein Entwurf dazu, Ansätze und Begriffe in eine Perspektive zu richten.
In den Debatten zur Digitalisierung heisst es immer wieder “In Wirtschaft und Gesellschaft“, es geht dann um Digitale Transformation um Disruptionen,  viel agile und manchmal fällt der etwas seltsame Begriff Gesellschaft 4.0 (4.0 bei Dirk Baecker ist übrigens etwas völlig anderes) der so klingt, als sei Gesellschaft ein weicher Standortfaktor aus dem Aktenkoffer von Unternehmensberatern. Hinter dem Bild des Update steht die Ableitung der Gesellschaft von der Industrie. Letztlich geht es dann zumeist um die Kontinuität von Organisationen in einer veränderten Umgebung, um die Effizienz einer Volkswirtschaft,  um Managementaufgaben.

Warum jetzt Zivilisation? Kultur und Zivilisation überschneiden sich in ihrer Bedeutung und haben einen weiten Bedeutungsspielraum. Zivilisation kann man als das Dach bzw. Fundament einer Gesellschaft verstehen, als das, was sie zusammenhält:  die unverhandelbaren Werte ebenso, wie der Konsens zu Konfliktlösungen und zur Aushandlung sich wandelnder Werte, die akzeptierten Umgangsformen und die  individuellen Spielräume.
Zivilisation ist im ständigem Wandel. Angelehnt an Norbert Elias geht es um Gesellschafts – wie auch Persönlichkeitsstrukturen, das sich immer wieder verändernde und neu prägende Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die Ausformung des Habitus. Zentral ist dabei das Konzept der Interdependenz, bestimmt durch Machtbalancen.

Kontrollüberschuss in der Digitalen Gesellschaft; Bild: kallejipp/photocase.de

Kontrollgesellschaft löst Disziplinargesellschaft ab – die Begriffe gehen auf Gilles Deleuze und Michel Foucault zurück. Disziplinargesellschaft (Foucault) erinnert an das Stahlharte Gehäuse der Hörigkeit (Max Weber), sie bedeutet(e) die Einbindung des einzelnen in sich anschliessende, hierarchisch organisierte geschlossene Systeme: (patriarchalische) Familien, Schulen, Kasernen, Fabriken etc.; Religion bzw. parareligiöse Weltanschauungen sorgten für eine Überhöhung.  Macht wurde persönlich und strukturell von oben nach unten ausgeübt. Menschen wurden geschliffen, um eine vorgesehene Funktion zu erfüllen. Disziplinargesellschaften gipfelten in den Phantasien der Formation eines Neuen Menschen in totalitären Systemen und wurden in den Reform- und Konsumgesellschaften gemildert. Sie brachten aber auch Ausgleichs- und Gegenbewegungen hervor.  Der Gestus des Rebellischen und sein Zeichenrepertoire zählen seitdem zum Fundus der Alltagskultur.
In der Kontrollgesellschaft ist Macht nicht mehr in den hierarchischen Stufen personalisiert, in ihrer Wirkung aber ebenso präsent. Selbstkontrolle ersetzt Außenkontrolle. Jeder wird selbst zu seinem eigenen, kleinen Unternehmen. Die Eroberung des Marktes geschieht durch Kontrollergreifung und nicht mehr durch Disziplinierung … der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch” (Deleuze, 1993).
Deutlicher wird das Konzept mit der These vom Kontrollüberschuss in der Digitalen Gesellschaft (Dirk Baecker, Luhmann folgend). Die Struktur der Gesellschaft wird auch auf den Möglichkeiten der elektronischen Rechner. Wir müssen uns eine Kultur zurechtlegen, die nicht mehr nur kontrolliert, was wir hören und sagen, aufschreiben und lesen, verbreiten und rezipieren, sondern auch kontrolliert, welche Art von Daten zu welchen unserer Praktiken alltäglicher und beruflicher Art Zugang erhält  (Baecker 2014).

Eines der anschaulichsten Bilder zur Digitalen Gesellschaft ist das der Granularität von Christoph Kucklick (Die Granulare Gesellschaft, 2016). Granularität bedeutet ein Maß der Neuvermessung von Gesellschaft in feinkörniger Auflösung. Mehr und mehr Details werden vermessen und ausgedeutet. Im Online- Marketing sind wir mittlerweile an personalisierte Werbung gewöhnt – das stört die meisten Menschen nicht weiter.
Ausdeutung beschränkt sich nicht auf Konsumpräferenzen. Das Wesen des Digitalen ist die Übersetzung aller verfügbaren Informationseinheiten in miteinander verrechenbare Daten und deren Steuerung durch Algorithmen. Das schließt die Ausdeutung menschlichen Verhaltens ein, Identitäten lassen sich rasch entschlüsseln. Die Verteilung von Chancen wird wesentlich beeinflusst. Wirklich gefährlich wird die Verfügung über Daten in der Verbindung mit ausführender Macht in  einer einzelnen Hand.
Den Begriff der Datenreichen Märkte (Ramge & Mayer- Schönberger) setzt eine positive Perspektive der Datenwirtschaft – unter der Bedingung einer politischen und gesellschaftlichen Gestaltung der Datenökonomie und ihrer Rahmenbedingungen. Man kann den Begriff um den der “Datenreichen Gesellschaft” ergänzen. Der Gewinn darf nicht allein den großen Datenmonopolisten zugute kommen, Zielvorstellung ist eine digitale soziale Marktwirtschaft.

Vom Bild der Granularität ist es nicht weit zum Begriff der SingularisierungDas bedeutet weder Vereinzelung/ Atomisierung noch einen überbordenden Individualismus, sondern im wesentlichen ein neues Ordnungsprinzip. Einst sehr wesentliche Mechanismen der Vergesellschaftung haben an Einfluß verloren. Der einzelne ist weniger Teil einer organisierten Gruppe oder eines gegliederten Milieus, als über die Vielzahl seiner Merkmale# vernetzt – darüber ist er als Individuum adressierbar. Es sind v.a. die großen Organisationen mit Funktionärsapparat, die an Einfluß verlieren. 

Sind es die Techniken und Medien, die gesellschaftlichen Wandel verursachen? – Oder bringen die Gesellschaften die ihnen gemässen Techniken und Medien hervor? Eine Henne & Ei Frage. Der Begriff Technogenese soll die parallele Entwicklung von Technologie und Gesellschaft verdeutlichen. Die Verbreitung neuer Techniken und Medien führt immer wieder zu Schüben von Veränderungen. Keine Renaissance, keine Reformation ohne Buchdruck, keine Arbeiterklasse ohne Industrielle Revolution, keine Globalisierung ohne die entsprechenden Medien.
Über die direkten Effekte hinaus verändert Digitalisierung die Textur, die Granularität der Gesellschaft.  Digitalisierung findet global statt und trifft auf ganz unterschiedliche Gesellschaften mit unterschiedlichen  Wertvorstellungen. Weltweit gibt fast keinen Ort mehr, der nicht von digitalen Medien ausgeleuchtet wird,  keine last frontier auf diesem Planeten. Die Macht ist fluide, ob sie eher oligarchisch in den großen Unternehmen des Datenkapitalismus verbleibt oder immer wieder neu ausgehandelt wird, ist die Frage.  Die Ausformung einer Gesellschaft, die dem allen Rechnung trägt, könnte man Digitale Zivilisation nennen.

 

Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt.. Merve Verlag, Leipzig 2018.  272 S. Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679; 283 S., 18 €; Christoph Kucklick:  Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. 2016,. 268 S.   Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S. ; Victor Mayer- Schönberger  & Thomas Ramge: Das Digital -Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus. Econ Verlag, München 2017, 304 S.  Timo Daum:  Das Kapital sind wir. Zur Kritik der Digitalen Ökonomie. Edition Nautilus, Hamburg 09/2017.  268 S.



4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt (Rezension)

Immer wieder 4.0 … und ausgerechnet  von  einem Soziologen, aber hier gilt eine ganz andere Zählweise: 4.0 ist keine Etappe der industriellen Revolution, sondern weit ausgreifend die 4.  Medienepoche der Menschheitsgeschichte. Zuerst war die Sprache und die Stammesgesellschaft, dann die Schrift und die antike Gesellschaft, später kam der Buchdruck und die moderne Gesellschaft und jetzt eben Digitalisierung mit den elektronischen Medien und der Nächsten Gesellschaft (entlehnt von Next Society nach Peter Drucker). Gesellschaften waren von Beginn an von ihrer Medialität geprägt, angefangen mit der Sprache.

Verbreitungsmedien lösen sich nicht ab, sondern es treten neue hinzu:  Neue Verbreitungsmedien bedeuten neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Kommunikation, die man vorher noch nicht kannte, sie sind bestimmend für die Struktur und Kultur einer Gesellschaft, eine Art prägende Textur. Soweit ist die Einteilung einleuchtend – bis auf eine Lücke zwischen 3.0 und 4.0  (dazu später).
Die Nächste Gesellschaft, das ist die Computer- bzw. digitale Gesellschaft, hat die Moderne schon hinter sich. Von dieser unterscheidet sie sich wie die Elektrizität von der Mechanik (14). Moderne meint hier die Medienepoche, die die demokratische, industrielle, und pädagogische Revolution hervorgebracht hat.  
Bereits 2007 hatte Baecker Studien zur Nächsten Gesellschaft veröffentlicht, daraus entstanden später (2011) 16 Thesen zur Zukunftsfähigkeit der Nächsten Gesellschaft, mittlerweile sind daraus 26 geworden (nachzulesen in seinem Blog).
Die Theorie darf nicht schlüssiger auftreten als die Gesellschaft, der sie gilt“ (12) – so besteht Baecker auf dem kursorisch- essayistischen, manchmal vorsichtigen und manchmal sehr detailliert definierenden Charakter des Buches. Der Aufbau ist dann überraschend schematisch. Die 26 Thesen entsprechen 26 Themen, die in den 26 Kapiteln abgehandelt werden. Ganz zum Schluß steht dann eine ziemlich erstaunliche tabellarische Übersicht (270/271). Dort kann man ablesen, wie einzelne Themen in den vier Medienepochen bewältigt wurden: Zu Wirtschaft findet man bspw. aufsteigend von der tribalen zur nächsten Gesellschaft Erfahrung, Besitz, Kapital, Daten; Organisation beginnt erst mit der zweiten (antiken) Gesellschaft als Institution, wird in der Moderne zur formalen Organisation, schließlich zur agilen Plattform.

Kontrollüberschuss in der Digitalen Gesellschaft;  Bild: kallejipp/photocase.de

Weniger schematisch sind die  Texte der einzelnen Kapitel selber. Vorab sind die jeweiligen Thesen ausformuliert, manchmal in geradezu aphorismischen Worten. Fast jedes der Kapitel würde sich, weiter ausgearbeitet, für einen eigenen Buchtitel eignen: “Das Individuum, vergesellschaftet”,  “Überwachte Gesundheit”, “Konsum mit Stil”, “Agiles Mißtrauen und organisierte Arbeit”, “Das Recht der Daten”, “Moral und Ethik des Guten Lebens”, “Der Tod als Löschvorgang” etc. – es sind Themen, die uns oft sehr konkret und aktuell interessieren. Hier enthält das Buch immer wieder neue Beobachtungen, Einsichten, zahlreiche  Referenzen (dass Luhmann beim Systemtheoretiker Baecker oft erwähnt wird, wundert nicht), die insgesamt das Thema Digitale Transformation neu (und sehr reflexiv) beleuchten.
In Summa geht es um die einzelnen gesellschaftliche Felder, wie Konsum, Sport, Religion, Recht, Liebe, Kunst, Arbeit, Technik, Management, künstliche Intelligenz etc., in denen durchgespielt wird, welche Antworten frühere Gesellschaften darauf gefunden haben und welche die nächste Gesellschaft  finden kann. Die Phänomene, um die es geht sind die der Digitalisierung: “Die Automatisierung der Industrie, die politischen Möglichkeiten der Überwachung, die massenmediale Bereitstellung von Plattformen für Arbeit, Konsum und Unterhaltung …”  – es wird deutlich, dass digitale Transformation der Gesellschaft, etwas viel weitgehenderes ist, als der immer wieder gehörte Spruch “in Wirtschaft und Gesellschaft” denken lässt.    

Merken sollte man sich den Kontrollüberschuss der digitalen Gesellschaft, der dem Kritiküberschuss der Moderne oder dem Referenzüberschuss der Sprache entspricht – Überschusssinn “bedeutet jeweils, dass ein Medium der Kommunikation mehr Möglichkeiten der Kommunikation bereitstellt, als je aktuell wahrgenommen werden können” (Baecker 2016).  Auch diese Begriffe gehen letztlich auf Niklas Luhmann “Verweisungsüberschuss von Sinn” zurück.

Das Sprachbild der Versionsnummern (4.0) scheint unwiderstehlich zu sein, wenn es um Digitale Transformation geht. Ob Ironie zur Industrie 4.0 und ihren zahlreichen Ableitungen versteckt ist, wer weiß?, erwähnt wird das andere 4.0 nirgends.

Wirklich klar, bzw. historisch fassbar wird eine Trennlinie zwischen der modernen und der nächsten Gesellschaft allerdings nicht. Baecker betont immer wieder die Zugehörigkeit der audiovisuellen Verbreitungsmedien (Kino, Radio, TV, Telefon, Fotografie) zu den elektronischen Medien der nächsten Gesellschaft. Heute sind diese in den digitalen Medien miteinander verschmolzen, haben aber in ihrer analogen Form das 20. Jahrhundert geprägt. Es ist diese Medienepoche, aus der  wir kommen.

Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt.. Merve Verlag, Leipzig 2018.  272 S. ISBN: 978-3-96273-012-3



Das Kapital sind wir. Zur Kritik der Digitalen Ökonomie (Rezension)

Das Kapital sind wir von Timo Daum erschien bereits im Herbst 2017, aber erst auf der re-publica 18 wurde ich darauf aufmerksam.  Das Buch hält weitgehend, was der Titel verspricht – zudem ist es so flüssig geschrieben, dass man es an beinahe jeder Stelle aufschlagen und in den Text einsteigen kann.
Der Kapitalismus hat sich als Digitaler Kapitalismus neu erfunden. Ein neues Akkumulationsmodell hat sich herausgebildet und das fordistische Modell von Massenproduktion und -komsum abgelöst. Dem neuen Modell  gelingt es,  die gesamte Gesellschaft mit ihren Gedanken und Tätigkeiten in den Dienst zu nehmen und mit Information, Algoritmen und User Generated Content Geld zu verdienen (21/22). Freier Austausch wird ermöglicht – und gleichzeitig kommerziell als Rohstoff genutzt. Soweit bekannt, und so in etwa der Einstieg.

Ähnlich wie Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge in Das Digital nimmt Timo Daum bezug auf Karl Marx. Was hätte Marx zum Digitalen Kapitalismus gesagt? steht als rhetorische Frage im Hintergrund.
Bei Ramge und Mayer- Schönberger steht das Konzept der Datenreichen Märkte als Voraussetzung der Nutzung und Verbreitung von KI im Vordergrund – eine Perspektive, die grundlegend bejaht wird. Problem bleibt das Ungleichgewicht bei der Verteilung der Digitalen Dividende.

Die Digitale Vermessung der Welt erfasst immer mehr Lebensbereiche (Bild: kallejipp photocase.de)

Daum greift die ganze Breite von Themen auf, die seit längerem zum Netz, zur Digitalisierung und dem damit verbundenen Wandel diskutiert werden. Sharing Economy, Kreativwirtschaft und die Digitale Bohème, der Solo- Kapitalist (Solopreneur), das bedingungslose Grundeinkommen etc., samt der jeweils mehr oder weniger ideologischen Begleitmusik (so in der Sharing Economy oder der Weltverbesserungsagenda von Facebook, S. 131).
Die digitale Vermessung der Welt stellt immer mehr Lebensäußerungen in ihren Dienst, die vormaligen Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen.  Arbeit und Einkommen entkoppeln sich, der Begriff von Arbeit an sich verändert sich.
Daum versteht sich als Linker, wer aber eine rundum- Kritik am digitalen Kapitalismus erwartet, wird enttäuscht. So etwa die Rezensenten der Buchvorstellung in Hamburg, die geradezu entsetzt sind über die überraschend versöhnliche Haltung zum Kapitalismus.
Denn ganz so kritisch sieht Daum den Digitalen Kapitalismus nicht: der freie und kostenlose Zugang zu Informationen und Diensten ist ihm zu verdanken (236). Dem alten fossilen, konsumorientierten Kapitalismus ist hingegen nicht nachzutrauern (241). Arbeiterbewegung und Gewerkschaften hatten darin über die Jahrzehnte Rechte, Sicherheiten und Teilhabe erkämpft, eine Tradition zu der eine Parallele in der digitalen Gesellschaft noch fehlt.
Unternehmen des Digitalen Kapitalismus übernehmen Aufgaben globaler Dimension. Erst mit den Inhalten der Nutzer (Prosumer) werden die Plattformen zum Leben gebracht. Ein treffendes Bonmot: Der Digitale Kapitalismus schafft es, frei verfügbares Wissen zu kolonisieren, als proprietären Service neu zu verpacken und diesen wiederum zu verwerten (235).
Wenn es eine abschließende Aussage zum Digitalen Kapitalismus gibt, dann ist sie dezent platziert: Der Kapitalismus ist keine fremde, uns knechtende Macht: Wir selbst sind der Kapitalismus. Wir schaffen selbst die Abstraktionen, von denen wir uns beherrschen lassen (123).

Ein Ausblick: Der digitale Kapitalismus dringt in neue Bereiche vor: Mobilität, Energie, Transport, Logistik. Wir brauchen eine kostenlose Grundversorgung für die digitale Stadt, einen New Deal, bei dem die Bewohnerinnen ihre Daten beisteuern (241), und eine algoritmische Alphabetisierung. Digitaler Kapitalismus wäre vom Standpunkt des Neuen, Möglichen zu kritisieren – nicht von dem des Alten.

Timo Daum: Das Kapital sind wir. Zur Kritik der Digitalen Ökonomie. Edition Nautilus, Hamburg 09/2017.  268 S. ISBN: 978-3-96054-058-8



Das Digital – Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus (Rez.)

Zwei Bücher innerhalb eines halben Jahres, das ist flott. Im Oktober 2017 erschien Das Digital von Viktor Mayer- Schönberger und Thomas Ramge, Mitte März 2018 folgte Mensch und Maschine – letzteres im  Reclam Format (9,5 x 14,8 cm, <100 S.) -jackentaschenfähig.
Der grammatisch innovative Titel Das Digital knüpft an Karl Marx Das Kapital. So wie bei Marx im Zeitalter des beginnenden Industriekapitalismus der wirtschaftliche Mehrwert und seine Verteilung  im Vordergrund stand, geht es jetzt darum, diese Fragen im Übergang vom Finanzkapitalismus zum Datenkapitalismus neu zu beantworten.
Der Titel der englischen (Original-) Ausgabe Reinventing Capitalism in the Age of Big Data, ebenso wie der deutsche Untertitel (Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus) lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Gestaltung des Datenkapitalismus. Den Autoren geht es letztlich um eine digitale soziale Marktwirtschaft.

Datenreiche Märkte verändern die Rolle, die Märkte und Geld spielen. Märkte dienen nicht nur dazu, knappe Waren auszutauschen, sie sind ein gesellschaftlicher Mechanismus, der Menschen die Möglichkeit bietet, sich untereinander effektiv und effizient zu koordinieren  (263/264).  So ist der explizit als Kernaussage des Buches genannte Satz  “Der Markt kann endlich (mit Datenreichtum) sein volles Potential entfalten” (25) zu verstehen. Datenreiche  Märkte enthalten Informationen verschiedener Dimensionen mit ihrem jeweils eigenen Wert, sie führen Angebot und Nachfrage möglichst passgenau zusammen.

Was Skaleneffekte für die Massenproduktion, Netzwerkeffekte für die Informationswirtschaft, bedeuten Feedbackeffekte für die Wertschöpfung in datenreichen Märkten rundum künstliche Intelligenz.  Aus Daten lernende Systeme verbessern sich mit dem Imput und um nützlich zu sein, benötigt  maschinelles Lernen gewaltige Mengen an Trainings- und Feedbackdaten. Das gilt für Übersetzungsservice (z. B. Google), Bilderkennung, Autopiloten, medizinische Diagnostik und vieles mehr. Ohnehin bereits starke Unternehmen und Organisationen sind im Vorteil. Dort sammelt sich mit den Daten Handlungskompetenzen und Marktmacht an, die weit über herkömmliche Wettbewerbsvorteile hinausgehen.
Um Datenmonopolen entgegen zu wirken, befürworten die Autoren eine Datenumverteilung. Damit datenreiche Märkte nachhaltig funktionieren und die so erwirtschaftete digitale Dividende allen zukommt, sollten Datensammler zum Teilen ihrer Daten in die Pflicht genommen werden. So schlagen sie vor, dass Unternehmensabgaben in Form eines Daten-Sharings geleistet werden.

Matching, das Zusammentreffen mit dem optimalen Transaktionspartner, ist ein grosses Versprechen der Digitalisierung. Was (herkömmlicher) Markt oder Zufall nur umständlich erreichen, das ist in Datenreichen Märkten  angelegt. So  funktionieren z.B. Dating- Plattformen, ebenso wie zahllose Dienstleistungen. Nicht alle im Buch vorkommenden Beispiele überzeugen. Brauchen wir Einkaufsassistenten? B to B  oft sinnvoll, privat ist die Auswahl von Kleidung/Mode, Nahrung/des Essens, Mobiliar/Einrichtung etc. für viele ein wesentlicher Teil der Lebensgestaltung und bringt Freude, anderen nicht. Datengetriebene Auswahl, insbes. personalisierte Abo- Modelle sind ein Wunschziel des Marketing.

Im Schlußwort (266) geben sich die Autoren optimistisch: Wir glauben nicht an die düsteren Prognosen, dass datengetriebene Technologie gegen den Menschen arbeitet. Daten sind nicht kalt, wie oft behauptet, und es ist widersinnig, in der Diskussion Menschen ständig gegen Maschinen auszuspielen. Wir sind  überzeugt: Dank Datenreichtum wird unsere Zukunft nicht bloß persönlicher, effizienter und nachhaltiger sein, sondern vor allem gemeinschaftlich – und zutiefst menschlich.
Der Optimismus stützt sich auf  eine politische und gesellschaftliche Gestaltung der Datenökonomie und ihrer Rahmenbedingungen. Eine nachhaltige, gemeinschaftliche und demokratische Datenökonomie ist kein Selbstläufer.

Reclam – Format, passt in jede Jackentasche

Das zweite Buch ist ein Büchlein mit dem Elementarwissen Künstliche Intelligenz. Erschienen in der Universal- Bibliothek (Nr. 19499), der Reihe der Klassiker von Plato, Seneca und Cäsars De bello gallico bis Goethe, kennt jeder aus der Schulzeit.
KI ist die nächste Stufe der Automatisierung. Nach Autor Ramge erlebt sie gerade ihren Kitty-Hawk-Moment – ein Bild aus der Entwicklung des  Motorflugs – die Technologie hebt ab und plötzlich läuft, was lange Zeit nur eine großspurige Behauptung war (7/8), eine Art Break-even. Einiges, was bereis in Das Digital geschrieben wurde, wiederholt sich. Ansonsten kompaktes Wissen in der Westentasche. 6 € – das kann sich jeder leisten.
Künstliche Intelligenz klingt immer etwas nach Schöpfergeist und Golem, man kann dagegen den Begriff aus Daten lernende Systeme setzen, der die Grundlagen hervorhebt. Letztlich ist KI eine von Menschen gemachte Technik und Menschen werden die Entscheidungshoheit behalten.
Beide Bücher sind für jeden, der sich mit Digitaler Ökonomie oder Digitaler Zivilisation  befasst, eine wichtige und sehr nützliche Lektüre. Viele Fragen zu Funktion und Rolle  von Markt und Unternehmen werden angesprochen, dabei z.B. auch: Warum sind gerade manche datenreiche Unternehmen straff hierarchisch organisiert, geradezu Effizienzmaschinen ?
ganz nebenbei: immer wieder fällt auf, dass auch Publikationen zu digitalen Themen weiterhin gedruckt erscheinen, e-book ist bestenfalls Ergänzung. Haptische Qualitäten, Abgeschlossenheit des Werkes und kulturelle Verankerung sprechen für den Erhalt des analogen Formats. 

Victor Mayer- Schönberger  & Thomas Ramge: Das Digital -Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus. Econ Verlag, München 2017, 304 S., 25 €  Thomas Ramge: Mensch und Maschine. Wie künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern. Reclam Verlag, Stuttgart 2018. 96 S., 6 €  Vgl. auch: Viktor Meyer- Schönberger Die Kreativwirtschaft als Pionier datenreicher Märkte. In : Hidden Values. Die Währungen der Zukunft. Herausgegeben von Creative. NRW Kompetenzzentrum Kreativwirtschaft S. 88-97   April 2018



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