Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter (Rezension)

Die Gesellschaft des Zorns – Rechtspopulismus im globalen Zeitalter von Cornelia Koppetsch (TU Darmstadt) erschien in diesem Frühjahr, war schnell vergriffen und wurde im Juli als Sachbuch des Monats ausgezeichnet.  Das macht deutlich, wie aktuell das Thema und wie gross der Bedarf nach Erklärungen ist.
Kernthese der Autorin ist, dass Rechtspopulismus einen emotionalen Reflex auf den Epochenbruch zur Globalen Moderne darstellt. Die Reaktion zeigt sich in den Forderungen nach Re-Nationalisierung, Re- Souveränisierung und Re-Vergemeinschaftung (24/25). Re-Nationalisierung stellt sich gegen supranationale Organisationen und Vereinbarungen – my country fírstRe- Souveränisierung fordert eine Wiederherstellung der moralischen Werte und der Vorrechte einer sich als bedroht fühlenden Mehrheit; Re-Vergemeinschaftung ist als Reaktion auf individualistische Markt- und Selbstverwirklichungskulturen zu verstehen und  bezieht sich auf das Volk als Gemeinschaft exklusiver Zugehörigkeit. Solidaritätsbeziehungen sollen in diesem Rahmen verbleiben, der Sozialstaat war immer an den Nationalstaat gebunden.
Eine gesellschaftliche Spaltungslinie verläuft zwischen den transnational/kosmopolitisch Ausgerichteten und den davon Abgekoppelten, die an den nationalen Strukturen der Industriemoderne  ausgerichtet bleiben. Beide Hälften folgen ganz anderen Erzählungen von Gesellschaft/Narrativen.

Diagonale Spaltungslinie: Wählermilieus von Modernisierungsbefürwortern und -skeptikern. Graphik erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster. Quelle: s.u.

Populäre Erklärungsmuster zum Rechtspopulismus sind die Hypothese von den ökonomischen Globalisierungsverlierern und die kulturelle Backlash- These. Zwar liegt der AfD- Anteil im Sinus- Milieu ‘prekär‘ bei 28%, die Wähler von AfD & ihrer internationalen Entsprechungen kommen hingegen aus allen Schichten. Drei Viertel der AfD- Wählerschaft sind Angestellte, Beamte und Selbstständige, ein Drittel der Sympathisierenden zählen gar zu den reichsten 20% der Bevölkerung (99). Nach der Backlash- These ist die Ablehnung kosmopolitischer und postmaterialistischer Werte entscheidend (101), die Umkehrung des sich seit den 70er Jahren verbreitenden Wertewandels.
Bleibt man im Bild der Sinus- Milieus rekrutiert sich die Anhängerschaft v.a. aus konservativer Oberschicht, traditioneller Mittelschicht und prekärem Milieu. Dabei spielen jeweils eigene Motivationen eine bes. Rolle: die Verteidigung sozialer Privilegien, ein kultureller Allgemeinvertretungs-anspruch, zuletzt Verteilungskonflikte. Nicht in den Milieus erkennbar sind besondere Gruppen, wie Evangelikale, Burschenschaften und offen, oft strategisch handelnde Rechtsradikale.
Übergreifende Klammer und Mobilisierungsthemen sind v.a. Islam und Migration (135). Ebenso, aber in geringerem Maße, die Ablehnung von Gender- Themen und Homo-Ehe.

In den acht Kapiteln geht es nicht um Rechtspopulismus als isoliertes Phänomen, sondern um dessen thematische Einbindung in die Kontexte gesellschaftlicher Transformationen: Die Neu- Figuration des politischen Raumes incl. der Transformation der Parteienlandschaft; die Transnationalisierung der Sozialräume, wie Märkte, Unternehmen, Bildungs- und Kultureinrichtungen, persönliche Netzwerke etc., und ebenso die  Wandlungsprozesse im Umgang mit Emotionen und Identität. Neo- Gemeinschaften und die politischen und kulturellen Dimensionen von Heimat werden ausgiebig behandelt.
Wie so oft beginnt die Gesellschaftsdiagnose mit dem Niedergang des korporatistischen Modells der Volksparteien und der mit ihnen verbundenen Organisationen. Durchgesetzt hat sich ein doppelter Liberalismus mit den beiden Säulen des  wirtschaftsradikalen, deregulierten Wettbewerbs und der kulturliberalen Säule von Vielfalt, Toleranz und Selbstbestimmung, Leitbegriff Diversity. Dieser doppelte Liberalismus ist mittlerweile Konsens über ein breites politisches und gesellschaftliches Spektrum.

Theoriegeleitete Empathie
(31, 33) so bezeichnet Koppetsch ihre Methodik – bedeutet zum einen kontrolliertes Fremdverstehen, die Bereitschaft zur Befremdung der eigenen Sichtweise (etwa durch konträre Gesellschaftserzählungen/Narrative), zum anderen eine Erweiterung der Perspektive, um den jeweiligen Realitätsgehalt zu überprüfen – Gesellschaft soll über den Container hinaus gedacht werden. Ausdrücklich setzt sie sich von einer Haltung ab, die AfD- Wähler auf eine Rolle als Symptomträger autoritärer und rassistischer  Haltungen reduziert (32).
Koppetsch verbindet Beobachtungen und Einschätzungen zum Rechtspopulismus mit den soziologischen Debatten zur Zweiten Moderne (Ulrich Beck), und v.a. mit der Distinktionstheorie  von Pierre Bourdieu und mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, einschliesslich der  Fortschreibung der Linien des Zivilisationsprozesses durch die  Informalisierungsthese von  Cas Wouters.  Sehr ausführlich wird u. a. die hybride Kultur der Neubürgerlichkeit und deren Verhaltenscodes beschrieben (hybrid weil sie auf klassische bürgerliche Kultur, wie auch Gegenkultur zurückgeht).  Immer wieder hat man den Eindruck, es ginge im Buch genauso um die Herausbildung des kosmopolitischen Habitus. Es lohnt sich übrigens, diese Entwicklung als eigenes Thema zu behandeln – eines der folgenden Themen im Blog.

Rechtspopulismus hat ein anderes Modell von Gesellschaft. Nicht eine plurale, diverse, auf Ausgleich bedachte Gesellschaft, sondern eine kulturell weitgehend homogen gedachte Gemeinschaft von Nation, Religionsgemeinschaft oder ethnischer Gruppe (49, 168). Volkswille soll unmittelbar in politische Praxis umgesetzt werden. Immer wieder inszenieren sich Rechtspopulisten als Regelbrecher gegenüber dem Mainstream/Establishment. Erstaunlich, denn diese Begriffe bezeichneten vor nicht allzu langer Zeit eine konservative Machtstruktur. Wird hier ein Machtverlust beklagt? Gleicht man die Zielvorstellungen mit den Scenarios der Zukunftsinitiative  D2030  ab, gelangt zum Scenario Alte Grenzen – Vorwärts in die Vergangenheit.
Rechtspopulismus ist eine global auftretende Reaktion auf die globale Moderne, nicht einheitlich, sondern in jeweils eigenen, aber oft ähnlichen Ausprägungen. Parallele Entwicklungen zeigen sich im Islamismus. Dort sollen -oft archaische – Regeln der Religion über allgemeinen liberalen Werten, ja sogar den Menschenrechten stehen.

Es lassen sich noch etliche Einzelthemen, die im Buch behandelt werden erwähnen oder auch ergänzen. So etwa die Rolle von Social Media, De-Zivilisierung  und eine Vulgarisierung politischer Kommunikation. Es bleibt auch ein 20% Anteil (der Gesamtbevölkerung) mit dem Syndrom  gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, eine Zahl aus den Leipziger Autoritarismus- Studien, die seit langem konstant bleibt (97). Was Die Gesellschaft des Zorns auszeichnet, ist die detailreiche und tiefenscharfe Darstellung von Rechtspopulismus im Kontext  gesellschaftlicher Transformationen.
Der Titel des Buches selber geht auf Peter Sloterdijk (2008) zurück.  Zornunternehmer bedeutet, dass populistische Rechtsparteien Narrative erarbeiten, in denen individuelle Zornpotentiale in den Dienst ihrer Ziele gestellt werden können – ein gefühlte Bündnis der Betrogenen (30, 154).

Ein paar Anmerkungen: So bestechend die Konvergenz beider Liberalismen ist, und so deutlich sie häufig im Habitus erkennbar ist – sind denn tatsächlich dieselben weltoffenen Kosmopoliten auch die Träger von Werten wie Vielfalt und Toleranz? Gemeint ist eine Schicht, die auch ökonomisch in der Lage ist, sich abzugrenzen. Auch wenn Werte sich in Entscheidungseliten verbreitet haben bzw. dort eingefordert werden, macht es diese nicht gleich zu deren Trägern.
Und kann man die Obsession Feindbild Islam tatsächlich mit dem klassischen Antisemitismus vergleichen (62)?

Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.    Transcript Verlag, Bielefeld 2019.  283 S. ISBN: 978-3-8376-48138-6.
Graphik zur  Verteilung der Wahlberechtigten:  Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017  . Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider. Bertelsmann- Stiftung. S. 15



Individualisierte Massen- Rez. Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen

Der Titel lässt an ganz aktuelle Ereignisse denken: mit den Gelbwesten in Frankreich ist der Sog der Massen zurück auf der Straße. Videos erschüttern Machtgefüge und machen die Neue Macht der Einzelnen deutlich: eine der tragenden grossen Organisationen wirkt hilflos gegenüber einem youtube-Blogger, Massenkommunikation funktioniert mittlerweile eben anders.
Gunter Gebauer und Sven Rücker geht es darum, das Konzept Masse als einer sozialen Formation in die Diskussion zurückzuführen. Dabei nehmen sie Bezug auf eine ganze Reihe – nicht nur gesellschaftsanalytischer – Autoren, insbesondere auf Elias Canetti (Masse und Macht, 1960), aber auch E.T.A. Hoffmann und Edgar Allen Poe,  Ortega y Gasset, Heidegger und Oswald Spengler, Norbert Elias und Pierre Bourdieu, Andy Warhol und v. m..
Massen steht nicht nur für grössere Ansammlungen von Menschen, auch für einen virulenten, dynamischen sozialen und psychischen Zustand, der enorme politische Wirkungen hervorzurufen vermag. Wenn sich eine Masse bildet, entsteht zwischen den Individuen ein neuer sozialer und psychischer Zustand (74).
Massen sind eine historische Kraft, die oft mit plötzlicher Wucht auftaucht, aber sie sind als solche keine handelnden Subjekte mit strategisch verfolgten Absichten und Zielen (vgl. 73). Merkmale, die  Massen auszeichnen  werden beschrieben: (neben weiteren) Mobilisierung, Intentionalität, Emotionalität, Spontaneität, Abgrenzung und eine relative Offenheit   (28-32).  Masse ist ein performatives Konzept (310), d.h. ihre Existenz zeigt sich in der AktionDer Satz “Das gerichtete Miteinander vieler Menschen und deren Übereinstimmung von Aktion, Haltung und Stimmung” (21), kann als knappe Definition gelten. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit als Folge eines Auflösens sozialer Distanzen (34).  

Drei historisch abgrenzbare Phasen werden beschrieben, in denen Massen eine jeweils spezifische Erscheinung annahmen und auch jeweils anders wahrgenommen wurden.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema in Politik und Gesellschaft. Seit der Franz. Revolution wurde die Macht der Massen deutlich, die Kriegsbegeisterung von 1914 ist ein anderes Beispiel. Geprägt wurde der Begriff von Gustave Le Bon in dem 1895 erschienenen Psychologie der Massen, mit einer weitreichenden Wirkung u.a. auf Max Weber und Sigmund Freud in einer Zeit beschleunigter technischer und kultureller Innovationen.
Massen wurden oftmals als bedrohliche Freisetzung destruktiver Kräfte  gesehen, als Unterschichtsphänomen. Aristokraten und Bildungsbürger, die sich als Eliten verstanden, sahen sie als Bedrohung, störten sich an ihrer Gewöhnlichkeit. Die Spontaneität und die Wucht ihrer Aktionen weckte Begierden ihrer Instrumentalisierung, so in den Einparteiendiktaturen mit einer autoritären Formatierung und einer Choreographie von Massen. So wurde der Begriff Massen in der Folge oft pejorativ und mit Verachtung verwendet.

Teilhabe am Massenwohlstand

Zweite Phase einer Massen-gesellschaft wurde die Teilhabe am Massenwohlstand, zuerst verwirklicht in der American Middle Class  (16ff). Etwas ähnliches bedeutete Nivellierter Mittelstand. In der Sozialen Marktwirtschaft wurde die Teilhabe am Wohlstand gar zur Gründungslegende der BRD.  Zusammenhalt wurde nicht mehr in Massenveranstaltungen (Ausnahme: Sport), sondern über Massenmedien synchronisiert. Der Einzelne verliert sich nicht mehr in der Masse, sondern arbeitet am sozialen Aufstieg innerhalb einer Massengesellschaft mit ausgeformten Regeln. Die Steuerung der Systeme geschieht durch grosse Organisationen: Volksparteien, grosse Verbände und Unternehmen, an deren Spitze sich die Macht ballt. Kennzeichnend für diese Phase ist ein ausgeprägter Konformismus, bereits geringförmige Varianten im Konsum sollten Individualität hervorheben. Diversität war kein Thema. Erste Wandlungsprozesse zeigten sich vom Rande:   In der beginnenden Popkultur wurde individuelle Rebellion zu einem Modell  (Kérouac und Rebel without a cause werden genannt). Popkultur wurde mehr und mehr zu einer bestimmenden Massenkultur, Individualismus in der folgenden Phase zum Massenphänomen.

festival crowd

Dritte Phase  und Schwerpunkt des Buches ist die Gesellschaft der individualisierten Massen -eine Formulierung, die widersprüchlich erscheint,  in etwa entspricht sie der These der Gesellschaft der  Singularitäten. Zumindest in pluralistischen Gesellschaften  haben viel mehr Menschen als jemals zuvor die Chance, dass ihre Stimme gehört wird. Wahrscheinlich sind sich zudem viele erst jetzt der Rechte und Möglichkeiten bewusst, die ihnen eine Demokratie bietet. Die Massenkultur von heute verspricht allen ihr eigenes Selbst (245), jeder kann seinen eigenen Habitus entwickeln. 
Als alleinstehender Begriff verschwand Masse immer mehr, lebt aber in den Komposita weiter: Massen- kommunikation und Massenmedien, Massenkultur, Massenkonsum- und produktion, Massentourismus, Massenuniversität etc. Sie werden mal abwertend, mal neutral- beschreibend verwendet.  Die grossen gesellschaftlichen Systeme, voran die Kommunikationssysteme funktionieren nur aufgrund massenhafter Beteiligung (vgl. 103), in den klassischen Massenmedien als Publikum, mehr noch auf den Social Media Plattformen, wo sie auch die Inhalte bestimmen. Die neue Massenkommunikation des Internet ermöglicht eine nie geahnte Ausdehnung des Wirkungsraum des Einzelnen (237), vgl. Rezo oder Greta Thunberg.
Spricht man heute von Massengesellschaft, bezieht sich das auf Konsum, Alltagsverhalten und Lebensstil, Geschmackswahl. Man nimmt an den Öffentlichkeiten teil, die dem Habitus entsprechen.  Pluralisierung führt nicht zu einer Atomisierung der Gesellschaft, sondern zu einer Vielfalt neuer Zusammenschlüsse (312). Der alte Traum einer Masse der untereinander Gleichen erscheint in neuer technischer Gestalt (224).

Neun Kapitel gehen die Autoren durch die Bedeutungsebenen und Verwendungen des Konzepts Masse. Zwei wecken aktuell ein besonderes Interesse: IV zu Populismus und VII zu – hier so genannt- Virtuellen Massen. Populismus bedeutet das, sich im Namen einer Masse zu legitimieren, die als “das Volk” ausgegeben wird (136). Und mit diesem wird gern direkt (unverblümt) und ohne die Vermittlung von Medien- und legitimen Vertretungsinstanzen gesprochen.
Virtuelle Massen klingt etwas veraltet, nach Cyberspace der 90er Jahre, meint die Massen in den Social Media Netzwerken, in den Kommentarspalten, Blogs und Chat- Rooms. Massen, die sich zudem mit technischen Mitteln (bots) erweitern und verstärken lassen. Die Grenze zwischen solchen Fakes und tatsächlichen Massen (wobei es gleich ist, ob diese on- oder offline bestehen) wird nicht thematisiert. Sie zu erkennen zählt zur digitalen Medienkompetenz.

Der Text liest sich zwar meist flüssig und immer wieder stösst man auf sehr treffende, zitierfähige Sätze. Er enthält aber auch eine fast übergrosse Fülle an Beschreibungen einzelner Phänomene, Bezüge, Beispiele und Details, die sich oft kaum überschauen lässt. Immer wieder werden die unterschiedlichsten Seitenthemen nacherzählt bzw. weit ausgebreitet, wie etwa eine Passage zu Kunst- und Kampflied von Hanns Eisler. So hinterlässt die Lektüre ein etwas ambivalentes Gefühl. Was auffällt: Luhmann und Systemtheorie kommen nicht vor.
Das Konzept der Masse erschliesst wenig strukturierte Formen von Sozialität, überschneidet sich mit anderen Konzepten, wie Figurationen (die eine Relation zueinander bezeichnen), Tribes, Consozialität. Im Buch genannt werden Multitude, Schwärme, Sphären, Crowd – eigentlich nur die englische Entsprechung (neben mass), der sich über Crowdfunding und Crowdsourcing verbreitet hat.

Gunter Gebauer & Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. DVA, München 2019.  345 S. ISBN: 978-3-421-04813-4. Bildquelle Festival Crowd:  doubleju / photocase.de



Journalismus.Online. Das Handbuch zum Online-Journalismus (Rezension)

Handbücher dienen dazu das Wissen zu einem Themenfeld, zu einer Branche in übersichtlicher, nachschlagbarer Form verfügbar zu machen. Handbücher zum Journalismus gibt es eine Reihe, und auch zum Online- Journalismus ist Journalismus.online von Hektor Haarkötter, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, nicht das erste. Online war zunächst ein zusätzlicher Veröffentlichungskanal, eine  freizugängliche Spielwiese ohne Gatekeeper.  Online verlockte zum experimentieren – und wurde von Medienunternehmen lange Zeit nicht wirklich ernst genommen. Noch in dem oft als Standardwerk genannten Handbuch von Wolf Schneider und Paul-Josef Raue (Nr. 1198 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. 3. Auflage 2012)  nannte man den Status der Online- Mitarbeiter bescheiden: wenig geachtet, schlecht bezahlt, hoch belastet (31, Schneider/Raue)

Journalismus ist heute digital und online. Er ist es vollumfänglich, in allen Bereichen, Produktionsschritten und Ausspielwegen (34); Bildquelle: przemekklos / photocase.de

Digitalisierung hat auch den Journalismus generell verändert. Heute gibt es keinen Journalismus mehr, der nicht am Computer hergestellt und immer häufiger auch an irgendeiner Form von Computer rezipiert wird (27). Das gilt für alle Formate. Medieninhalte (Content) werden digital produziert: Texte mit der Tastatur; Bilder, Ton, Video/Film werden digital aufgenommen und bearbeitet. Medieninhalte/Content kann ebenso gut online wie gedruckt bzw. über einen Rundfunksender  (der ebenfalls digitalisiert sendet) verbreitet werden. Unterscheidet sich “Online-Journalismus” noch von anderen journalistischen Verbreitungsformen? Hat der Begriff überhaupt noch eine Berechtigung? Die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung, die zeitsynchrone Begleitung von Ereignissen – Prozess-Journalismus –  lässt sich nur online weitergeben.  In diesem Sinne sind journalistische Texte heute „permanent beta“(21), veränderungs- und verbesserungsfähig. Wer heute online publiziert, muss auch lernen zuzugeben, dass er nicht alles weiß (Jeff Jarvis, 21).
Eine Leitfrage des Handbuchs ist dann auch die,
wie der Computer und die Digitalisierung den Journalismus inhaltlich, aber auch handwerklich verändert hat (12).

In weiten Teilen folgt das Handbuch einer Reise. Der Autor besuchte Online- Redaktionen, Media- Agenturen und Medienprojekte quer durchs Land:  die Ableger der “Qualitätspresse” und des Boulevard, die Krautreporter und netzpolitik.org, Rundfunksender wie die Deutsche Welle, Bayern2, und n-tv, war bei Opendatacity, dbate und bei Vice, bei taz, FAZ, spon und bild-online. Die überall dort geführten Gespräche wurden transkribiert und bilden eine Grundlage des Textes.
Unter den Online-Angeboten mit den meisten Besuchern gibt es kaum Neugründungen, auch die deutsche Ausgabe der Huffington Post schloß vor zwei Wochen (31.03.19). Bestimmend bleiben seit langem bekannte Medienmarken, die auch ungefähr das bieten, was man von ihnen erwartet. Mehrere Gründe  lassen sich dafür anführen,  generell erwarten Leser/Hörer/Zuschauer von Medienmarken eine bestimmte Ausrichtung, einen Qualitätsanspruch, einen Stil, unabhängig vom Ausgabeformat. Fast alle davon führen Bezahlmodelle für weitergehenden Zugang.

Journalismus online bleibt unvollständig ohne Blogs. Blogosphäre klingt heute seltsam, sehr nach Web 2.0 und 0er Jahren – darauf geht aber eine publizistische Erneuerung zurück, die mehr als andere die Vernetzungsmöglichkeiten nutzt. Im stärker kommerzialisierten Feld haben sich Reise-, Koch- und Modeblogs verbreitet, seit jeher konsumnahe Themen.
Anderswo wurden eigene publizistische Formate entwickelt, die unterschiedliche Plattformen nutzen. Genannt werden hier u.a. Floid und Tilo Jung mit dem YouTube-Kanal Jung & Naiv.
Aus dem eigenen Umfeld kann ich den Bonner Wirtschaftsblogger und Live- Streaming Pionier Gunnar Sohn, der mittlerweile eine ganze Reihe von Live-Formaten sendet, die in der Folge u.a. auf youtube abrufbar sind – oder auch das 2016 eingestellte Projekt Nerdhub von Thomas Riedel nennen.

Als Handbuch, das eben auch zum Nachschlagen gedacht ist, enthält das Buch einen umfangreichen Serviceteil. Infoboxen und Checklisten zu zahlreichen relevanten Themen, wie Nutzerdaten, zu Google Analytics, hyperlokalem Journalismus, Story- und Scrollytelling, zu Podcasts,  zur Medienkonvergenz, mobile Reporting u.v.m. erleichtern die Übersicht. Für diejenigen, die sich seit Jahren in der digitalen Öffentlichkeit bewegen ist wohl einiges nicht neu  – das Buch richtet sich aber auch an Studenten und Einsteiger.
Ob Details zu wordpress, eine Einführung in html und CSS in einem Handbuch für Journalisten sinnvoll sind ist Ansichtssache. Immerhin gibt es dazu gedruckt und im Netz eine kaum überschaubare Auswahl.

Die Krise des Journalismus ist seit längerem Thema. Diese Krise ist aber vorrangig die des Geschäftsmodells von Zeitungsverlagen: mit der Verlagerung der Werbewirtschaft sind Gewinne aus dem Anzeigengeschäft weggebrochen.  Finanzierungsmodelle sind aber höchstens am Rande Thema des Handbuchs.
Das Netz bündelt die Möglichkeiten und Eigenschaften der vordem dominierenden Medien Presse, Radio, TV, Video. Darüber wird übertragen und gespeichert. Aktuelle Nachrichten verbreiten sich heute nicht über 20h Nachrichten, die Tageszeitung oder eine Homepage. Mit Twitter oder News- Ticker ist man mit dem SmartPhone live dabei.
Das Wortspiel von Journalismus zum yournalismus, das sich durch das Buch zieht, verweist auf die Entwicklung von einer frontalen Berichterstattung nach Redaktionsschluss zu einer personalisierten Mediennutzung. Es leitet in die Diskussion dazu über, wie sich Öffentlichkeit in digitalen Zeiten konstituiert.

Hektor Haarkötter: Journalismus.online. Das Handbuch zum Online-Journalismus. Herbert von Halem Verlag, Köln 2019.  426 S. ISBN: 978-3-7445-1108-7



Digitaler Wohlstand für alle /Schwacher Staat im Netz

Wohlstand für alle, war der Titel eines Buches von Ludwig Erhardt (1957), und es war eine Maxime der Sozialen Marktwirtschaft –  gesellschaftlicher Konsens und Grundübereinkunft darüber, wie die Wirtschaft sein sollte (29). Prinzipien wie Sozialpartnerschaft leiten sich daraus her. Auf diesen Versprechen beruhte zunächst die Identifikation mit der demokratischen Bundesrepublik,  Nation Building der 50er Jahre.
Solange die Marktkräfte Wohlstand mehren,  lässt der Staat sie wirken. Seine Aufgabe ist es,  mit einer strikten Wettbewerbspolitik ordnungspolitische Leitplanken zu setzen, um Monopole, Kartelle und andere Fehlentwicklungen zu verhindern. Auf den digitalen Märkten gelten andere Regeln als früher. Den Autoren Achim Wambach (Präsident Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim) und Hans- Christian Müller (Redakteur Handelsblatt) geht es um die Bewahrung des erfolgreichen und identitätsstiftenden Modells der Sozialen Marktwirtschaft in der digitalen Wirtschaft. Ein Update, nicht auf 4.0, aber zur Neuaufstellung “der guten Wirtschaftsordnung” (13). Wettbewerbspolitik spielt dabei ebenso wie Bildungs- und Sozialpolitik eine entscheidende Rolle. Weiterer wesentlicher Punkt  ist Steuergerechtigkeit, die die Digitalkonzerne einschliesst. Multinationale Konzerne haben darin Expertise gewonnen, nationale Steuersysteme gegeneinander auszuspielen.

Daten statt Preise, Monopole statt Wettbewerb, Sharing statt Eigentum, Crowdworking statt Sozialpartnerschaft (24-28) – mit diesen  Gegensatzpaaren wird die Digitalwirtschaft charakterisiert. Insbesondere Märkte für datenbasierte Internetdienstleistungen neigen zu Monopolen. Die Machtfülle der Internetkonzerne, der “Grossen Fünf” (Microsoft ist wieder dabei)  beruht darauf. Der  Markt ist nahezu in die jeweiligen Kerngeschäfte + einige Überlappungen aufgeteilt. Dazu kommen Dienste der Sharing- Ökonomie, die vormals keine Marktbeziehungen waren. Ein Begriff kommt im Text nicht vor: Verhaltensüberschuss, auf dessen Entdeckung der Erfolg der Datenwirtschaft beruht   – (ausführlich beschrieben bei Shoshana Zuboff).
Die Sorge um Verlust von Erwerbsarbeit durch Automatisierung teilen die Autoren nicht.  Nicht mehr geben wird es zehntausende Jobs bzw Stellen mit gleichem Tätigkeitsprofil (134). Aufgabe des Staates ist es, den Strukturwandel mit Wettbewerbs-, Sozial- und Bildungspolitik zu gestalten, um eine Spaltung in neue Gewinner und Verlierer zu verhindern  (142).
Neben die immer wiederkehrenden Verweise auf Wettbewerbs- bzw. Ordnungspolitik treten einzelne konkrete Vorschläge, wie etwa die (hohen) Mindestbeiträge für Selbständige in der Kranken- und Pflegeversicherung zu senken (136/137). Freiberufler sollen in der sozialen Absicherung keine Nachteile davon haben, dass sie als Selbständige arbeiten. 

Das Buch ist sehr übersichtlich, liest sich flüssig und eingängig und wurde mehrfach als vorzüglich und profund hervorgehoben.  Gliederung und Register machen es leicht im Text vor- und zurückzuspulen, 222 Seiten bedeuten keinen allzu grossen Zeitaufwand. Man hat immer wieder den Eindruck – wenn’s denn weiter nichts ist, als mit Wettbewerbs- und Kartellrecht  der Internetwirtschaft Grenzen zu setzen – dann aber los! Autor Wambach ist zudem Präsident der Monopolkommission, die das Bundeswirtschaftsministerium in Wettbewerbsfragen berät. Dazu passt der programmatische Stil, der manchmal an politische Grundsatzerklärungen erinnert.
Mittendrin beim Schreiben dieses Beitrags  kam passenderweise die Nachricht  von der Entscheidung des Bundeskartellamtes zu Facebook, WhatsApp und instagram: Wir nehmen bei Facebook für die Zukunft eine Art innere Entflechtung bei den Daten vor ….  Die Kombination von Datenquellen hat ganz maßgeblich dazu beigetragen, dass Facebook einen so einzigartigen Gesamtdatenbestand über jeden einzelnen Nutzer erstellen und seine Marktmacht erreichen konnte. (A. Mundt, Präs. Bundeskartellamt). Der Zusammenhang mit den im Buch vertretenen Positionen wird in einem Interview im Tagesspiegel nochmals deutlich. Inwieweit, zumindest in der Wettbewerbspolitik die Politik des BMWi davon beeinflusst ist, bleibt abzuschätzen.
Ein Gedanke: Man sollte das Update der Sozialen Marktwirtschaft mit den von D2030  formulierten Szenarios abgleichen: Wieviel an Neuen Horizonten und Spielraum der Zivilgesellschaft, wieviel Renaissance der Politik oder auch wieviel Regulierung und Leitkultur (Ludwig Erhardt?) steckt darin?

Warum jetzt zwei Bücher verschiedener Autoren in einer Besprechung? In beiden Büchern geht es um die Rolle des Staates als Setzers von Regeln in der Digitalwirtschaft. Beide Bücher kommen aus dem Inneren des politischen Systems bzw. der Ministerialverwaltung.
In “Digitaler Wohlstand für alle” wird Wettbewerbspolitik als staatliche Maßnahme zur Korrektur der Digitalwirtschaft selbstbewusst in den Vordergrund gestellt. In “Schwacher Staat im Netz” geht es um die Frage, ob dieser Staat überhaupt in der Lage ist, den Rahmen einer Digitalen Gesellschaft zu setzen. Dazu ein kurzer Überblick.
Autor Martin Schallbruch war lange Jahre im BMI für Informationstechnik und Cybersicherheit zuständig. Der Einstieg: Die Digitalisierung fordert den Staat nicht einfach nur heraus. Sie überfordert ihn. Sie stellt in Frage, wie wir 70 Jahre lang unser Gemeinwesen gesteuert, organisiert und verteidigt haben (2). Generell ist es Aufgabe des Staates vernünftige, praktisch taugliche Regeln der Verantwortungszuweisung bereitzustellen (193).
Es steht auf dem Spiel, dass der demokratisch konstituierte Staat das Setzen und Kontrollieren von Regeln Plattformen überlässt.
Seine Überlegungen führen schliesslich zu einer Definition übergeordneter Ziele (220- 224): Nachvollziehbarkeit darüber wer welche Verantwortung trägt und welches Recht wann für wen gilt.  Ein definierter Versorgungsauftrag, das bedeutet, was wäre etwa der digitale Versorgungs- (bzw. Bereitstellungs-) auftrag im Gesundheitswesen, in der Kultur, oder für die Mobilität? Schließlich Digitale Souveränität in der Bedeutung,  dass der Staat im digitalen Raum die wesentlichen Problemstellungen des digitalisierten Gemeinwesens versteht, im Rahmen eines politischen und rechtlichen Auftrags adressiert und diese auch durchsetzt. Um sich daraus ergebende Aufgaben zu erfüllen ist ein entsprechendes Know- How, genauso umfassend wie bei den Digitalunternehmen, Voraussetzung.

Schallbruch ist für einen “starken Staat im Netz” – und damit meint er einen, der den genannten Aufgaben gerecht wird. Um diese zu gewährleisten  befürwortet er ein Digitalministerium. Digitalpolitik ist nicht Fachpolitik, sondern  in den Querschnittsfunktionen vergleichbar  der Finanz- oder Justizpolitik für Geld und Recht (246).  Zur Agenda eines Digitalministeriums gehört mehr als Breitband und StartUp Förderung,  ganz oben: Digitalrecht, Versorgungsauftrag und übergeordnet eine digitale Gesamtarchitektur (246).

Achim Wambach & Hans- Christian Müller: Digitaler Wohlstand für alle. Ein Update der Sozialen Marktwirtschaft ist möglich. Campus Verlag,  Frankfurt 2018,  ISBN: 978-3-593-50929-7   220 S., 28 €  Martin Schallbruch:  Schwacher Staat im Netz. Wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt. Springer, Wiesbaden, 2018.  ISBN: 978-3-19946-3   271 S. , 19,95 €.  Interview mit Achim Wambach: Die Facebook-User haben keine Alternative – Der Tagesspiegel. 8.02.2019 (Heike Jahberg)



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