Was treibt die Zukunft an?

Treibt technischer Fortschritt oder gesellschaftlicher Wandel die Zukunft an? Vorstellungen von Zukunft sind genauso dem Wandel unterworfen wie andere gesellschaftliche Strömungen auch. In der längsten Zeit über die Jahrtausendwende hinaus bis in die 2010er Jahre stand die Dynamik der Digitalisierung im Vordergrund. Immer wieder sah es so aus, als treibe die technische Entwicklung Wirtschaft und Gesellschaft vor sich her. Technik schuf neue soziale, mediale, v.a. ökonomisch nutzbare Möglichkeiten. SmartPhones bündeln mittlerweile derart viele Funktionen, dass ein Leben ohne sie erhebliche Einschränkungen (bis hin zum Covid- Zertifikat) bedeutet. Kommunikations- und Kulturtechniken, die man noch vor gar nicht so langer Zeit als Zukunftsfiktion verstanden hätte,  sind längst Alltag geworden – und das weltweit. Die Welt von heute ist nicht vorstellbar ohne die Verbreitung der digitalen Techniken.
Wissenschaft ist die Grundlage von technologischem Fortschritt (Godin, 2020), zumindest in der modernen Welt. Ebenso eine Gesellschaft, die ihn in ihre materielle Zivilisation einbindet. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi, 2019).

Manuel Castells(2001): Die Revolution der Informations-technologie und die Erneuerung des Kapitalismus begründeten die Netzwerkgesellschaft

Der digitale Aufbruch um die Jahrtausendwende war mit vielen Erwartungen und Vorstellungen von Zukunft verbunden.  Der Cyberspace war zunächst sphera incognita, ein Freiraum für Neues; Web 2.0 stand etwa für eine partizipatorische Netzkultur mit der konkreten Utopie  Wissen und Information für alle frei zugänglich zu machen. Zukunftsentwürfe einer fluiden  Demokratie, die in einer politischen Kultur der Offenheit und Partizipation wurzelt, wurden diskutiert – sie verschwanden aber wieder mit dem Ende der Piratenpartei.

Manuel Castells nannte in seinem drei-Bände-Werk Das Informationszeitalter (1996-98/dt. 2001) die technische Revolution der Informationstechnologie und die Erneuerung des Kapitalismus als Grundlagen der Netzwerkgesellschaft. Im damaligen Kontext bedeutete erneuerter Kapitalismus eine weitgehende Deregulierung der Märkte, v.a. der Finanzmärkte, die zum Rückgrat der Globalisierung wurden. Flexibilisierung auf vielen Ebenen, aber oft nur im Sinne von Kapitaleignern.  Ein Gegengewicht zur Globalisierung liegt in der Macht der Identität, die sich zum einen als offensive Bewegungen mit dem  Anspruch gesellschaftlicher und kultureller Umgestaltung, der Inanspruchnahme von Selbstbestimmung, wie etwa Feminismus und Umweltbewegung,  aber auch in reaktiver Form  im Namen von Nation, Religion, Familie oder Ethnizität zeigt.
Eine weitere Erneuerung bedeutete die Neubewertung von Eigenschaften wie Kreativität, Spontaneität, der Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, wie sie in Der Neue Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello, 1999/2003),  beschrieben wurde. Sich neu konstituierende Cluster einer Creative Class, die Bedeutung eines kulturellen Umfeldes, die Anziehungskraft von Umgebungen der Vielfalt, die   Einbeziehung des Concept of Cool in die Wertschöpfungsketten sind damit verbunden.

Von der Kalifornischen Ideologie ist öfters die Rede, auch wenn sie nicht eindeutig erscheint. Gemeint ist der Glaube an das emanzipatorische  Potential der Informationsgesellschaft, wie er in der Bay Area aus der  Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien des Silicon Valley seit den 80er Jahren entstand. Sicher waren San Francisco und die Bay Area immer wieder Ausgangspunkte  und Nährboden von Bewegungen mit globaler Ausstrahlung: Beatniks, Hippies, Gay Liberation, Ökotopia, dazu allerlei synkretistische Lebensstile. Die moderne Supermacht des Storytellings, Hollywood, sitzt ganz in der Nähe. Allen diesen Bewegungen ist durchaus ein libertärer Geist zu eigen  – im ursprünglichen Sinne der Befreiung von Fremdbestimmung und Freisetzung menschlicher Energien.  Das Burning Man Festival in der Wüste von Nevada gilt als ein Icon der kalifornischen Ideologie, der v.a. von Apple vermarktete Digital Lifestyle wurzelt darin, die Versionsbezeichnungen aus kalifornischer Topographie (Yosemite, Big Sur, Monterey) erinnern daran.
Aktuell bezeichnet libertär eine von jeglicher Einschränkung befreite Selbstverwirklichung von oligarchischen Investoren und Milliardären, wie sie etwa von Peter Thiel verkörpert wird.

Eine entscheidende Entwicklung  im weiteren Verlauf war etwa dann, als aus dem Web 2.0 Social Media wurde: der Durchmarsch der grossen Plattformen, manchmal als Landnahme bezeichnet. Michael Seemann hat in seinem Buch Die Macht der Plattformen  diese Einnahme als Graphname beschrieben, d.h. entlang sozialer Graphen, die man  sich wie Territorien vorstellen kann: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related**. Die neue Infrastruktur der  Social Media Plattformen ist seitdem weitgehend in Corporate Hands.

Utopien siedeln sich zunehmend im realen Raum an

Das Thema Zukunft boomt seit einigen Jahren.  Zukunft wurde zu einer Art Überthema, in dem sich Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsdebatten bündeln. Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist die Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Gegenüber früheren Zukunftsdiskussionen fällt auf, dass die aktuellen Debatten kaum von  diffusen, in die weite Zukunft gerichteten Utopien bestimmt sind. Sie sind meist sehr konkret: Es geht um neue Arbeitsformen, ob  unter dem  Label  New Work oder nicht,  um die Neugestaltung von Mobilität,  um nachhaltigen Konsum, Energieversorgung und  Ernährung.  Wohl nicht ganz zufällig hat die deutsche Ausgabe eines populären Buches zum Thema den Titel Utopien für Realisten (2016/2017). Man kann auch sagen, es geht um den sozialen Benefit der Digitalisierung.

Soweit eine Zusammenstellung, ein  Parcours durch die letzten beiden Jahrzehnte – der sich ganz sicher in der Fülle wie in den Details ausweiten und ausarbeiten lässt. Muster und Entwicklungen, eine Linie der Wechselwirkung von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel sind erkennbar. In der langfristigeren Entwicklung werden Gegenströmungen und Ausgleichsprozesse deutlich. Unsere Zivilisation entwickelt sich in diesen Ausgleichsprozessen.  Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft. Evolution ist generell keine beabsichtigte Entwicklung. Der Begriff stammt von dem französischen Medientheoretiker  Bernard Stiegler (✝2020) in Anlehnung an Anthropogenese.
Genauso offensichtlich klingt Technogenese  an die Konzepte Sozio– und Psychogenese bei Norbert Elias an. Geht es dort um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen,  um die Herausbildung eines Habitus, kann man Technogenese als Herausformung  der jeweils spezifischen technisch/ materiellen Zivilisation verstehen.
Erwähnt sei schliesslich noch das Konzept der Sprunginnovationen. Sprunginnovationen sind solche Innovationen, die eine radikale technologische Neuerung beinhalten. Sie haben das Potenzial, bislang bekannte Techniken und Dienstleistungen bahnbrechend zu verändern und zu ersetzen.

Soweit einige Gedanken, die ich als Impulsbeitrag zur  zweiten  Staffel der Futures Lounge unter dem Motto “Was treibt die Zukunft an –  technischer Fortschritt oder Sozialer Wandel” zusammengetragen habe.

vgl.: Manuel Castells: Das Informationszeitalter, 3 Bände, dt. Ausgabe 2001 – 2003 (Orig.The Information Age: Economy, Society, and Culture 1996 – 1998); Robert V. Kozinets & Gambetti, Rossella (Eds.): Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York.  Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaften, Kap. IX. Technik, S. 235 ff Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021  Werner Rammert. Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. 2006. Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft., 9/ 2019.  Benoît Godin: The Invention of Technological Innovation: Languages, Discourses and Ideology in Historical Perspective (2020).  Rafael Laguna del Vera & Thomas Ramge: Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen. Econ- Verlag, 2021; vgl auch Innovation und Gesellschaft, Über den Prozess der Digitalisierung, Rutger Bregman: Utopien für Realisten, 2016, Orig. 2014; Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus  **A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



Das Verschwinden der Bürgerlichen Mitte

Die neuen Sinus- Milieus,   jetzt ohne Bürgerliche Mitte – nach Klick in voller Auflösung . Sinus- Institut, Heidelberg / Berlin, 01.10.2021

Bürgerliche Mitte meint  zumeist eine Schicht, die sich auch selber als Mitte der Gesellschaft versteht:  man entspricht den Standards,  orientiert sich an  Imperativen  die soziale Anerkennung  versprechen, aber setzt man auch die Standards?
In der kürzlich (10/21) vorgestellten neuen Auflage der Sinus- Milieus kommt sie nicht mehr vor: Das Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten. Erodiert in auseinander strebende Bestandteile: aufstrebend ins konservativ- etablierte Milieu, absteigend in einen nostalgisch-bewahrenden Mindset, so wird es beschrieben. Die freiwerdende Lücke in der Mitte der Gesellschaft füllt ein moderner Mainstream mit dem Bindestrich- Namen Adaptiv- Pragmatisch aus – flexible Pragmatiker, die sich an einem sich wandelnden Status-Quo orientieren – wenn man damit eine Vorstellung verbindet.
Sicherlich lässt sich eine Bürgerliche Mitte auch anders verstehen, als ein Milieu, das sich v.a. als normal verstanden hatte, von dem kaum Impulse ausgingen und dessen Lebenswelt langfristig aufgerieben wird.  Der Wegfall markiert aber einen Einschnitt, der sich auch anderswo beobachten lässt. Nachhaltigkeit, Resilienz und Diversity etablieren sich als neue  Leitwerte. Der Wandel von Werten, eine kulturelle Öffnung der Lebensformen erfasst nicht alle Milieus, als Reaktion breiten sich in manchen Kreisen Ressentiments aus. Ein vormals normativ- dominanter Habitus verschwindet.

Sinus- Milieus 2010 – noch mit Bürgerlicher Mitte

Sinus- Milieus wurden seit Beginn der 80er Jahre vom gleichnamigen Institut ausgearbeitet und bislang zu Beginn jeder Dekade neu aufgelegt. Selber bezeichnet man sich selbstbewusst als  Goldstandard der  Zielgruppensegmentation – im weiteren Umfeld sind sie als Kartoffelgraphik bekannt.
Ihre Attraktivität beziehen die Sinus-Milieus aus ihrer Anschaulichkeit. Beobachtungen aus dem Alltag lassen sich oft nachvollziehen, sie sind nah an den Lebenswelten bis hin zu den Foto- Präsentationen originaler Wohnzimmereinrichtungen. Zugrunde liegen umfangreiche qualitative und quantitative Befragungen, ethnographische Beobachtungen von Alltagsmilieus u.v.m   Es gibt wenige andere Studien, für die  ein solcher Umfang an Datenerhebung betrieben werden kann. Grundlegende Wertorientierungen gehen dabei ebenso in die Analyse ein wie Alltagseinstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum (vgl. Pressemitteilung).
Verbreitung und Bedeutung der Sinus- Milieus lassen sich kaum überschätzen. Grundsätzlich ein Modell zur Visualisierung von Zielgruppen für die Marktforschung, werden sie darüber hinaus von zahllosen Organisationen,  Unternehmen, Kirchen und Parteien, auch von Poltik und Verwaltung  zur Kommunikationsplanung mit ihrer jeweiligen Klientel genutzt. Sinus- Milieus wurden für Migranten, als Digitale Milieus und auf Stadtebene (Berlin) erstellt. In Verbindung mit Geo- Daten (s. MBM- Micromarketing) werden sie  heruntergebochen bis auf Gebäudekomplexe (vgl. Düsseldorf, Berlin), verbinden Wohnadressen mit Sinus-Milieu-Wahrscheinlichkeiten. Sie lassen sich geradezu im Stadtbild besichtigen incl. der zugehörigen Geschäfte und Gastronomie. Bilder, die die Gesellschaft von sich selber hat, stimmen oft damit überein.

Sinus- Milieus als Grundlage der Gesellschaftsanalyse

Bemerkenswert ist die Entwicklung von einem Modell zur Visualisierung von Zielgruppen für die Marktforschung zu einer Kartographie der Gesellschaft.  Andreas Reckwitz Analysen zur postindustriellen Gesellschaft, insbes. einer Neuen Mittelklasse basieren auf den Kategorien der Sinus- Milieus. Reckwitz’ Neue Mittelschicht sind die  von Sinus definierten Leitmilieus – noch nicht an die Neuversion angepasst (vgl. Ende der Illusionen).  Daran ist vieles plausibel, die Herkunft der Einteilung zeigt sich aber an Kriterien wie dem valorisierten Konsum, der Ästhetisierung des Alltags, dem sich im Konsumverhalten zeigenden  „expressiven Individualismus“. Sinus-Milieus wurden letztlich zur Markt- und Konsumforschung entwickelt, sie bilden Lebensstile und davon bestimmte Konsummuster ab. Diese Neue Mittelklasse- immerhin ca. ein Drittel der Bevölkerung – gilt als kulturell, ökonomisch und politisch einflussreichste Gruppe der spätmodernen Gesellschaft. In den folgenden Diskussionen wurden sie öfters mit Neuen Eliten gleichgesetzt, mit manchen kuriosen Schlussfolgerungen.
Soziale Ungleichheit wird in den Sinus Milieus nur am Rande gestreift. Zwar fassen sie Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen, die Zugehörigkeit  bedeutet längst nicht die Abwesenheit  sozialer Ungleichheiten.  So stellt sich die Frage, bis wohin Modelle zur Zielgruppenanalyse geeignet sind, eine gesamte Gesellschaft abzubilden, oder ob sich damit doch eher einige Klischees verfestigen.

Zwei weitere Details stechen hervor: Zum einen das Verschwinden der  Subkulturen bzw. einer sich selbst so verstehenden Gegenkultur/ Counter culture. Subkulturen hatten sich in Ablehnung einer als repressiv verstandenen Mehrheitskultur abgespalten und immer wieder neu konstituiert – hatten oft eine entscheidende Wirkung in der Erneuerung der Mehrheitsgesellschaft.
Nicht alle Milieus der neuen Mittelschicht sehen sich Werten der Nachhaltigkeit  verpflichtet, so verstehen sich  Konsumhedonisten als Teil der Neuen Mitte und als Bollwerk gegen einen übertriebenen Nachhaltigkeits-Hype.

„Deutschland im Umbruch . SINUS -Institut stellt aktuelles Gesellschaftsmodell vor: Die Sinus -Milieus® 2021“ (01.10.2021) Heidelberg / Berlin
Nils C. Kumkar & Uwe Schimank: Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Diagnose der »Spätmoderne« Leviathan, 49. Jg., S. 7-32, 2021. Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig, Norbert Schäuble, Manfred Tautscher: Praxis der Sinus-Milieus®: Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. 2018



Die Neuerfindung des Unternehmertums (Rez.)

Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution (2021) Themen, die in den Zukunftsdiskussionen eine zentrale Rolle spielen der lange Titel ist bereits eine kurze Inhaltsangabe. Auf das Buch  wurde ich durch einen Livetalk aufmerksam – und es ist das erste aus den Wirtschaftswissenschaften, das ich hier bespreche.
Reinhard Pfriem, emeritierter Prof. der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Oldenburg,   Mitbegründer (1985) des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung,  ist seit langem mit dem Themenfeld befasst – das Buch ist sein Opus Magnus und lässt sich durchaus als Zusammenfassung seines Lebenswerkes lesen. Es  geht um die zukunftsfähige Neuverbindung von Ökonomie und Politik, um unternehmerische Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Gleich zu Beginn knüpft Pfriem an die Great Transformation von Karl Polanyi (21) an – und setzt damit  einen Rahmen. Great Transformation bedeutete letztlich Industrialisierung, Marktwirtschaft und grenzenlose Wachstumsökonomie als gesellschaftliche Organisationsprinzipien. Vor dem Hintergrund ökologischer Risiken und Katastrophen, sozialer Verwerfungen und ökonomischer Krisen stellt sich die Frage nach einer lebenswerten Zukunft,  einem guten Leben für alle, neu.
Pfriem geht es um eine Transformation vergleichbaren  Ausmasses, bei der ausgerechnet Unternehmen als wichtigste Organisationskörper moderner kapitalistischer Gesellschaften (21) eine besondere Rolle zukommt. Vom Unternehmertum gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen, klassisch ist die des mittelständischen Eigentümers, neuerdings auch die der oft wie Popstars gefeierten Entrepreneure. Pfriem hält sich wenig mit diesen Ausformungen auf, er fasst zehn Merkmale und Wissensdimensionen transformativer Unternehmen  (281 ff) zusammen.
Übergreifendes Postulat ist Enabling, das Möglichmachen – die Gestaltung von Gesellschaft durch unternehmerisches Handeln.  Bereits vor einigen Jahren hatte Pfriem den Begriff der Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft in die Welt gesetzt. In diesem Kontext sind Transformative Unternehmen Akteure des Wandels, einer Systemwende zu gemeinschaftsorientierten Formen des Wirtschaftens.   Das Teilsystem Wirtschaft ist dominant. Eine derart von ökonomischen Kalkülen bestimmte Gesellschaft ist nur transformierbar, wenn die Ökonomie transformiert wird.
Die einzelnen Themenfelder werden in 15 übersichtlich angelegten Kapiteln behandelt. Es geht um transformative Unternehmen, Nachhaltigkeit, solidarische Ökonomie, radikale Demokratie, bis zum Entwurf einer  Neuausrichtung der Wirtschaftswissenshcaften und als Ziellinie die Bausteine einer zukunftsfähigen Politik (415 ff). Darunter finden sich so oft diskutierte Themen wie  Mobilitäts, – Energie-  und Ernährungswende und ein Kurswechsel auf soziale Gerechtigkeit.

Zentral ist die Kritik an den aktuellen Wirtschaftswissenschaften, an ihrer  Herauslösung aus gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere einer Mathematisierung der BWL. Pfriem bezeichnet die BWL, immerhin sein eigenes Fach,  als implizite Rechtfertigungswissenschaft kapitalistischer Marktwirtschaften (128). Gegenentwurf ist eine Transformative Wirtschaftswissenschaft (369 ff), die den bestehenden Mainstream der Wirtschaftswissenschaften, der auf subjektunabhängige Objektivität, Identifikation von Gesetzmässigkeiten und Messbarkeit/Quantifizierbarkeit zielt (370; vgl. Pfriem 2000), ablöst, zumindest ergänzt: Eine Handlungswissenschaft, die Beiträge zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leistet, Zukunft für die Menschen zu einem erstrebenswerten Projekt macht.   

Genau wie die zeitgenössische BWL steht  auch die aktuelle Soziologie, der er eine Ökonomievergessenheit attestiert, in der Kritik. Im Kapitel Gesellschaftstheoretische Sackgassen werden soziologische Autoren der letzten Jahre, das waren v.a. Hartmut Rosa mit dem Konzept der Resonanz  und Andreas Reckwitz mit der Gesellschaft der Singularitäten, auf ihr Potential abgeklopft. Beide Bücher hatte ich hier im Blog rezensiert (Rez. Rosa; Rez. Reckwitz).  So sinnvoll und eingängig das Konzept Resonanz grundsätzlich erscheint, so wenig überzeugt es als Grundlage einer Gesellschafttstheorie. Reckwitz stellt den im Konsum differenzierten singularistischen Lebensstil der Neuen Mittelschichten in den Vordergrund – Pfriem nennt es eine  Engführung – und vernachlässigt gesellschaftliche Ungleichheiten.  Allenfalls in später veröffentlichten Aufsätzen relativiert er eine an Konsumstilen ausgerichtete gesellschaftliche Schichtung.  Nebenbei: unter dem Titel Spätmoderne in der Krise: Was leistet die Gesellschaftstheorie? erscheint im Oktober ein von beiden Autoren gemeinsam verfasstes Buch, dazu hier dann mehr.
Weiteres Feld der Auseinandersetzung ist Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007), dem er einen sehr einseitigen Blick auf das Unternehmertum – allein ausgerichtet auf Markterfolg – vorhält. 

Polanyi ist epochaler Bezugsrahmen,  die Analysen von Thomas Piketty zu Ungleichheit und der Vertiefung der Spaltung zwischen arm und reich werden herangezogen. Auf Schumpeter geht der Blick auf die Rolle des Unternehmers incl. der Erkenntnis, dass unternehmerischer Erfolg und gesellschaftliches Wohlergehen auseinander treten können, zurück. Mit deutlicher Sympathie  verweist Pfriem auf Frithjof Bergmanns Neue Arbeit, Neue Kultur: die wunderbare Formulierung “was sie wirklich, wirklich wollen” (57). Etwas wundert mich, dass die in den letzten Jahren oft  diskutierten Arbeiten von Maja Goepel,  die sich ebenso mit einer Transformativen Ökonomie befassen, nirgends  erwähnt werden.

Die Neuerfindung  des Unternehmertums ist ein programmatisches, oft erstaunlich radikal- utopisch, nicht durchgehend analytisch gehaltenes Buch – der Autor nennt es selber eher wissenschaftlich gehalten. Er setzt sich mit bestehenden Wissenschafts- bzw. Gedankengebäuden auseinander um einer Handlungswissenschaft zur Gestaltbarkeit von Zukunft den Weg zu bereiten. Weitere Umsetzung ist stark von einer Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft (444) bestimmt.  Und manches scheint, dass jetzt der Zeitpunkt dazu ist.
481 Seiten sind per se eine Menge Material, die wahrscheinlich selten in einem Durchgang gelesen werden. Man kann das Buch als ein Compendium, eine Art Handbuch zu einer Transformativen Wirtschaftswissenschaft sehen und nutzen. Ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden der  Themenstränge, macht sie den laufenden Zukunftsdiskussionen zugänglich.

Zum Schluss der Gedanke der  Co- Evolution von Wissenschaft und Gesellschaft (könnte man das etwa Scientogenese nennen?), der ganz sicher an das Konzept Technogenese erinnert.  In den Gesellschaftswissenschaften lassen sich immer Phasen und Epochen finden, in denen  Forschungsfragen einmal eingefahrenen Mustern folgen. Hier ist ein Werk, das neue Wege beschreite will – dem kann man zustimmen bzw. sich damit auseinandersetzen.

Den Titel  des Einbands ziert übrigens ein Werk von Otto Freundlich (1878-1943), ein zu unrecht weniger bekannter Pionier abstrakter Malerei, der wie so viele andere von den Nazis ermordet wurde.

Reinhard Pfriem: Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution – 2021. 481 S.  Metropolis Verlag, 38 € –  Livestream- Interview mit Reinhard Pfriem  vom 28.07.2021



Digitaler Habitus?

Digitaler Habitus? Bild: @jamesponddotco /unsplash.com

Gibt es einen Digitalen Habitus? Spontan denkt man an Nerds, Gründer in Turnschuhen, Influencerinnen, Blogger und YouTuber  – und tatsächlich begegnet man immer wieder einem entsprechenden Habitus. Es geht aber weniger um  Klischees, als um die Ausrichtung an den Bedingungen und Möglichkeiten einer technisch vermittelten sozialen Welt – und was davon erkennbar bleibt.
Sozialkapital und das Werben darum spielt in der digitalen sozialen Welt eine oft übergrosse Rolle:  In einem Netz schwach institutionalisierter Beziehungen werden im Austausch von Aufmerksamkeit und Anerkennung Ressourcen ausgehandelt. Grundsätzlich ist das Feld  global und 24/7 erreichbar – im Detail aber auf Ausschnitte davon ausgerichtet.

Habitus ist ein zentrales Konzept in der Soziologie von Norbert Elias (1897- 1990) und von Pierre Bourdieu (1930 – 2002), in dem sich die  Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit, erworben durch Herkunft,  Bildung und gesellschaftliche Rolle, spiegelt. Nach Elias bildete sich in den von ihm untersuchten Schichten im Laufe des Zivilisationsprozesses ein jeweils spezifischer Habitus heraus (vgl.  Machtbalance und Figuration). Sozialer Wandel und der von Persönlichkeitsstrukturen sind dabei parallele Prozesse, die sich im  Habitus, in der Affektkontrolle niederschlagen. Spezifiziert und zusammengefasst hat Elias das Konzept erst ist in seinem Spätwerk (Gesellschaft der Individuen, posthum, 1991).

Klassiker zum Habitus: Bourdieu 1979, dt. 1984

Bourdieus Konzept des Habitus ist Teil einer Theorie der gesellschaftlichen Unterschiede, die über ökonomische Ungleichheit hinaus differenziert.  Keine Pyramide von oben nach unten, sondern ein Feld mit verschiedenen Einflussfaktoren. Soziales und kulturelles Kapital bestimmen die Position ebenso wie das ökonomische Kapital – nur an anderer Stelle.
In der kulturellen Praxis  formt sich ein bestimmter Habitus heraus, der sich im Lebensstil ausdrückt – der Habitus beinhaltet die Gesamtheit sozial vermittelter Persönlichkeit. Oft verfestigt er die Dominanz einer Schicht.  Bei Bourdieu war es das französische Bildungs- und Besitzbürgertum mit seiner langen Tradition kultureller Distinktion.
Soziale Ungleichheit ist seit dem Erscheinen (1979, bzw. 1984) der feinen Unterschiede nicht verschwunden, geschwunden sind aber die Bindungen an klassische Milieus und die Verbindlichkeit ihrer Kultur,  die lange Zeit den Habitus prägten. Vieles wurde von Popularkulturen und Lifestyle- Marketing umgedeutet, letztlich verflüssigt. Kulturelles Kapital bedeutet nicht unbedingt sozialen Aufstieg, aber doch Zugang zu den Diskursen. Herkunft bzw. kulturelle Prägung bleiben im Habitus erkennbar, selbst bei massivem sozialem Auf- bzw. Abstieg.  Simpel gesagt, werden Menschen, die gleiche prägende Erfahrungen verbinden, einander erkennen, genauso wie am Stallgeruch prägender Organisationen oder Subkulturen.

Digitaler Habitus? Bild: Marley.Clovelly_ Pexels

Digitaler Habitus wurde bereits mehrfach aufgegriffen, so im kürzlich erschienenen Materialienband Netnography Unlimited im Beitrag Netnography. Digital Habitus,  and Technocultural Capital von Rossella Gambetti (Mailand).  Die ausführliche Definition* (s.u.), passt sich in Bourdieus Konzept ein: … a set of learned preferences, dispositions and behavioral schemes whereby individuals craft their selves using information and communications tools and devices within an elaborate technologically mediates social space that includes the social media ecosystem. (Gambetti, Netnography Unlimited, S. 295).
Kommunikation in digitalen sozialen Räumen war in den frühen Jahren eher experimentell, sehr eingeschränkt, aber oft mit der Erfahrung verbunden, ohne die gängigen Bewertungsmaßstäbe weitgehend vorurteilsfrei zu kommunizieren.  Mit technischem  Fortschritt erweiterten sich die Möglichkeiten und bieten immer mehr Raum zur Selbstdarstellung und auch zum Selbstmarketing – mit Text/ Sprache, Bild, Video.  Selbstdarstellung ist ein performative act of identity construction (295). Im weiteren zitiert Gambetti Bollmer  – Theorizing Digital Cultures: “Identity work is based less on physical context and more on individuals intentional self-presentation”.
Man muss dem nicht unbedingt vollständig zustimmen, Habitus ist personengebunden und nicht beliebig konstruierbar, es ist sozialisierte Subjektivität, aber nicht die Konstruktion von Wunschidentität.  Nebenbei, Selbstdarstellung bedarf auch immer der Kontrollarbeit. Und meist ist es der Habitus, für den wir bevorzugt und ebenso auch benachteiligt werden.

Kommunikationsform im Netz war und ist immer noch v.a. verschriftlichte Umgangssprache, als Abruf Text mit Graphik und Bild, mehr und mehr auch Bild- und Tonübertragung. Neuere Social Media Formate wie Live Streaming und Social Audio –  unterscheiden sich  als öffentliche Auftritte mit Stimme und/oder Gesicht immer weniger von  anderen öffentlichen Auftritten. Teilnehmer daran sind sich bewusst in (teil-) öffentlicher Aufmerksamkeit  zu stehen, und sind meist bestrebt ihren Auftritt unter Kontrolle zu halten. Das Wissen um Wirkung und Resonanz wird wichtiger. Auftritt und Habitus sollen möglichst authentisch wirken, v.a. nicht in einem Bruch zum physischen Kontext.
Anderswo im Netz herrscht immer noch ein rauherer Umgangston, der leicht in latente bis direkte Agressivität abdriftet, bis hin zur Vulgarisierung.

An der Universität Giessen fand mittlerweile zum zweiten male (2020 online) eine Tagung bzw. Aktionswoche Digitaler Habitus statt – mit Beiträgen v.a.  aus  medienpädagogischer Perspektive, etwa der Bedeutung  des grundlegenden Wandels literaler (=verschriftlichter Kommunikation) Praktiken und Bildungsprozesse.
Bemerkenswert war u.a. eines der Themen von 11/2020 –  Incels ( “involuntary celibates”/unfreiwillig Zölibatäre, die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Szene, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Online-Lesung.   

Soweit eine erste Bestandsaufnahme zum Thema Digitaler Habitus in der Technokultur.

Gambetti, Rossella: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital, In: Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research 2021. Michael Reitz: Noch feinere Unterschiede? Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. DLF- Radio 26.11.2017  Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede Orig: La distinction. Critique sociale du jugement; 1979; dt. 1984.  Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Online-Lesung –   Turner, Graeme.: The Mass Production of Celebrity: Celetoids, Reality TV and the “Demotic Turn”. International Journal of Cultural Studies. 153 – 165;  Grant Bollmer, G.D.: Theorizing digital cultures. 2018



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