Digitale Bildung

Alles was sinnvoll digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert. Das gilt für Medienformate, wie für Dienste und Branchen, die darauf zurückgreifen. Digitaler Wandel ist technologischer und gesellschaftlicher Wandel, eine Medienrevolution, die höchstens mit der Einführung des Buchdruck vergleichbar ist. Es gibt unzählige Möglichkeiten Wissen zu verbreiten – Bildung ist es, der Wissensvermittlung eine Form zu geben.  Genau wie die Zukunft der Arbeit ist die Zukunft der Bildung eines der ganz großen Themen der Digitalisierung. Digitaler Wandel kann in einigen Fällen disruptiv sein und bestehende Angebote verdrängen, kann aber auch eine langfristige Entwicklung bedeuten.

Jeder ist Sender und Empfänger
Jeder ist Sender und Empfänger – und kann auch Lehrender und Lernender sein

Entscheidend sind zwei Möglichkeiten. Die Konnektivität: Jeder Teilnehmer des Social Web kann sich mit jedem anderen verbinden. Jeder kann Sender und Empfänger, Kunde und Anbieter – und auch Lehrender und Lernender sein. Die minimal nötige technische Ausstattung ist nahezu weltweit verbreitet und braucht kaum jemandem mehr  erklärt zu werden. Kommunikation im Netz ist längst nicht mehr an die Schriftform gebunden, sondern in weiten Teilen visuell. Videos, Podcasts und Life- Streaming können mit einfachen Mitteln erstellt und verbreitet werden. Erklärvideos, im Bildungsbereich oft zu Mathematik, beruhen darauf. Gut gemachte Videos ersetzen z.B. unzählige Nachhilfestunden.
Und es gibt die Möglichkeit der Personalisierung: ein Verteiler von Bildungsangeboten kann maßgeschneiderte Angebote erstellen. Ohne persönliche Daten ist Personalisierung aber nicht zu haben – genauso wenig wie ein maßgeschneiderter Anzug ohne Maße. 
E-Learning
zählt seit ca. 20 Jahren zu den verbreiteten Lernangeboten, anfangs oft mit Lern- CDs, mit dem schneller werdenden Internet online. Blended Learning verbindet online mit Präsenzveranstaltungen. Zumeist bedeutet es didaktisch aufbereitete, in Weiterbildungsangebote integrierte Lehrinhalte. Dabei wird sehr oft die (open source) Lernplattform Moodle genutzt.
Was unterscheidet die aktuellen Trends bzw. die neueren  Möglichkeiten der digitalen Bildung davon? “Klassisches” E-Learning findet meist in geschlossenen Lerngruppen mit begrenzter Teilnehmerzahl statt. “Digitale Bildung” richtet sich potentiell an eine unbeschränkte Nutzerzahl. Das gilt für die Erklärvideos, wie auch für Moocs – Massive Open Online Courses – für die online Verbreitung aufgezeichnete Vorlesungen, wie sie zunächst von Sebastian Thrun (Vizepräs. von Google, ehem. Prof. für KI in Stanford, Gründer der Online Akademie Udacity) – entwickelt worden sind.

In der Diskussion
In der Diskussion

Eine eingängige Einführung und Zusammenfassung aktueller Entwicklungen bietet “Die Digitale Bildungsrevolution” von Jörg Dräger (Vorstandsmitglied der Bertelsmann- Stiftung, ehem. Bildungssenator in Hamburg) und Ralph Müller-Enselt. Mit Begeisterung vertreten die Autoren ein Leitbild Zugang für jeden und Personalisierung für alle – und sehen darin eine Demokratisierung wissenschaftlicher Bildung. Moocs stehen dabei im Vordergrund und bisher haben sich mehrere Millionen Nutzer zu solchen angemeldet, hauptsächlich in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern.  Sicherlich ist die digitale Öffnung bislang limitierter Hochschulbildung insbesondere im kostenpflichtigen Bildungssystem der USA eine Innovation – und Moocs bieten einige Vorteile gegenüber Massenveranstaltungen in Hörsälen. Genauso erschliessen sie Unternehmen talentierte Mitarbeiter minder privilegierter Herkunft, das pakistanische Mädchen mit dem Berufsziel Physikerin ist da ein beliebtes Beispiel.  Personalisierung für alle bedeutet einen hohen Datenbedarf – in den Händen der Bildungsanbieter. Die Autoren thematisieren die Problematik und fordern gesetzliche Regelungen zur Datensouverainität. Dazu ‘neigen digitale Märkte zu Monopolen’ (s. S. 171).

Ob mit Moocs und personalisierten Angeboten bereits eine Bildungsrevolution beginnt, sei dahingestellt. Besonders bei der Personalisierung schimmert für mich eine Art ‘wohlmeinender Bevormundung ‘durch. Bildung ist vieles: ein riesiger Markt mit zahlreichen Akteuren mit jeweils eigenen Interessen, ein öffentlich finanziertes, zumindest reguliertes System, sie ist ein Teil der Arbeitswelt, sie ist informeller und institutioneller Wissens- und Befähigungserwerb. Letztendlich ist jede Bildung eine Frage menschlicher Kommunikation und sie ist Teil der Persönlichkeitsentwicklung – nur selten führt sie bruchlos zu einem vorgesehenen Ziel. Zu allen Zeiten dienten Bildungsinstitutionen auch der Vermittlung eines jeweils speziellen Habitus – der Einheit von Haltung, Auftreten, Sprache und Geschmack – oft war es dieser Habitus, der den beruflichen Erfolg garantierte. Digitale Technik ermöglicht uns neue Kommunikationsformen und sie nimmt uns standardisierte Arbeit ab. So wird sie auch den Bildungsbereich immer stärker durchdringen. Warum sollte sich nicht jeder Teilnehmer an Bildungssystemen eigenständig Bildungsumgebungen zusammenstellen können?

Dräger, Jörg & Müller-Eiselt, Ralph.: Die Digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können, 2015, 240 S. –  Dem Beitrag liegt außerdem ein Gespräch mit Pirmin Vlaho, Gründer im Bereich Bildungsmanagement, zu Grunde



Machtbalance, Figuration und digitaler Wandel

In einem der letzten Beiträge hatte ich den digitalen Wandel in die Perspektive der Zivilisationstheorie von Norbert Elias gestellt. Digitaler Wandel lässt sich so als ein langfristiger Prozess verstehen, in dem technologische und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander verknüpft sind. Digitaler Wandel bedeutet nicht, dass bestehende Strukturen in ein neues Format übersetzt werden, diese wandeln sich ebenso. Möglichkeiten und Handlungsspielräume des einzelnen verbreitern sich, werden aber auch durch neue Strukturen bestimmt. – Die Soziologie von Norbert Elias bietet zu diesen Wandlungsprozessen einige erhellende, bisher wenig beachtete Sichtweisen.

Norbert Elias (1897 – 1990)

Verglichen mit anderen soziologischen Theoriegebäuden, wie der soziologischen Systemtheorie nach Niklas Luhmann oder der Theorie des kommunikativen Handelns nach Habermas hat das Werk von Elias wenig Wirkung in Anwendungen wie Kommunikations- und Unternehmensberatung hinterlassen. Populär wurde Elias erst in den späten 70er und 80er Jahren, v.a. als der Soziologe, der die Entwicklung der Tischsitten und das Beziehungsgeflecht der höfischen Gesellschaft beschrieb. Sein wesentliches Verdienst ist es, die langfristige Herausbildung des Habitus im Zusammenhang von Machtstrukturen deutlich gemacht zu haben.  Sprach Elias im Prozeß der Zivilisation von der Umformung von Fremdzwängen zu Selbstzwängen (ihrer Internalisierung), spricht man später von Selbstkontrolle und heute ist Selbstmanagement der passende Begriff. Die dabei entwickelten Gesetzmäßigkeiten der langfristigen Entwicklung wurden erst später von ihm publiziert, zwei Begriffe spielen eine wesentliche Rolle: Machtbalance und Figuration.

theoretische Schlüsse wurden erst später publiziert

Macht hat im Deutschen  meist eine Konnotation zu etwas absolutem, oft zu Zwang und Gewalt, man denkt an die dunkle Seite der Macht, zumindest an Herrschaft. Im französischen le pouvoir – (das Können – im Sinne der Möglichkeit) erkennt man schon eher ein relationales Verständnis. Elias verstand Macht als Beziehungsbegriff, der erst durch das Mitdenken der Gegenmächte jeder Macht verstehbar wird. Machtbalancen sind demnach überall dort vorhanden, wo eine funktionale Abhängigkeit (Interdependenz) zwischen Menschen besteht. Wie alle Beziehungen sind dies zumindest bipolare und meistens multipolare Phänomene.

Der Begriff Figuration erklärt sich daraus.  Figurationen bilden die Handlungsspielräume, innerhalb derer Individuen agieren. Im Sinne der zielgerichteten Nutzung von Möglichkeiten, ebenso wie im Hinblick auf soziale Zwänge, Barrieren und Begrenzungen, die sich aus wechselseitiger Abhängigkeit ergeben. Es sind Netzwerke von Individuen, die durch Interaktionen eine grössere soziale Einheit bilden. Gegenüber anderen Begriffen hat Figuration den Vorzug, dass die Dynamik der Interaktion einbezogen ist. Das besondere an der Elias’schen Soziologie ist die spezifische Aufhebung eines Gegensatzes Individuum – Gesellschaft. Nach Elias ist der Entstehungszusammenhang von Persönlichkeitsstrukturen und Institutionen ein einheitlicher, sich gegenseitig bedingender Prozeß.

Der Elias’sche Machtbegriff lässt sich mit dem Kapitalbegriff von Pierre Bourdieu (1930 – 2002) ergänzen. Neben das dominierende ökonomische Kapital mit Tauschwert treten soziales, kulturelles und symbolisches Kapital. Soziales Kapital bedeutet letztlich funktionierende Netzwerke, kulturelles Kapital umfasst Bildung und das im jeweiligen Umfeld anerkannte kulturelle, oft zu Distinktionszwecken gebrauchte  Wissen und  ist mit dem Habitus verbunden. Symbolisches Kapital fasst die vorhergenden als Prestige, Ruhm, Rang etc. zusammen. Gelegentlich werden weitere Ableitungen genannt – bis hin zu spirituellem oder erotischem Kapital. Ohne näher darauf einzugehen, lassen sich daraus Ressourcen von Macht im Sinne der Durchsetzung von Handlungschancen verstehen.

Bisher wurde die Elias’sche Soziologie nur selten auf den digitalen Wandel bezogen. Ausnahme ist die Verbreitung von Verhaltensstandards, die Zivilisierung des Social Web. Wer das Social Web erfolgreich nutzen will, muß mit seinem Gegenüber genauso taktvoll umgehen wie irgendwo anders. Das beginnt mit der Einführung der Netiquette und entwickelt sich in den unterschiedlichsten Teilöffentlichkeiten weiter. Zudem ist das Social Web mittlerweile auch ein visuelles Medium geworden.
Die Elias’sche Soziologie ist aber nicht auf die Entwicklung von Verhaltensstandards beschränkt. Zum einen ist der Prozess der Digitalisierung ein langfristiger Prozess, der die Verteilung von Macht und die Möglichkeiten der Individuen massiv verändert. In Anlehnung an ein Forschungsprogramm an der Universität Hamburg, Kommunikative Figurationen, kann man von Digitalen Figurationen sprechen. Menschen bilden Figurationen, die von ihren Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt sind. Das gilt für digitale Umgebungen genauso wie analoge.

Über den Prozess der Digitalisierung

Über den Prozeß der Digitalisierung – auch so kann man den Digitalen Wandel betrachten: angelehnt an den Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias als einen langfristigen Prozess in dem sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wandelt und neu geprägt wird. Es sind technologische und gesellschaftliche (bzw. kulturelle) Entwicklungen, die im digitalen Wandel miteinander verknüpft sind – mit erheblichen ökonomischen Auswirkungen. Der Begriff Technogenese verdeutlicht eine parallele Entwicklung von Technologie und Gesellschaft.

ein Klassiker langfristiger gesellschaftlicher Entwicklung

In der Elias’schen Soziologie geht es um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen – Sozio– und Psychogenese. Geschichte und Gesellschaft sind demnach ein einheitlicher Prozeß, der von handelnden Menschen gemacht wird, sich aus ihnen zusammensetzt und sie wiederum prägt. Elias hatte im wesentlichen zwei langfristige Prozesse in eine gemeinsame Perspektive gerückt: den der Staatsbildung (incl. des Gewaltmonopols) und den der Ausformung individueller Selbstkontrolle. Der Prozeß der Zivilisation ist nach ihm ein Prozeß der Disziplinierung der Individuen, der zunehmenden Unterwerfung des Verhaltens unter straffere Regulierungen.
Elias’ Untersuchungen endeten mit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Anschluß daran wurde die Entwicklung der späteren Jahrzehnte, von den 60ern bis zur Jahrtausendwende, von dem niederländischen Soziologen Cas Wouters als Informalisierung beschrieben: Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, das Management des Selbst wird zur Aufgabe. Die neuen Ideale fließen ein in neue Verhaltensstandards.

Digitalisierung
Digitalisierung beschäftigt uns schon  seit einigen Jahrzehnten

Digitalisierung beschäftigt uns schon seit einigen Jahrzehnten – in mehreren Schüben. Man denke zurück an die Einführung der Textverarbeitung, der CD, von desktop publishing und Bildbearbeitung, electronic beats und digital games, von Navigationssystemen, an Excel und PowerPoint in der Bürowelt – und noch viele Beispiele mehr. Die Einführung     neuer Techniken war in manchen Fällen disruptiv (so z.B. in der Druckvorstufe), manchmal bescherte sie Branchen eine zwischenzeitliche Blüte, bevor sie selber wieder disruptiv ersetzt wurden (wie z.B. die CD in der Musikbranche). Andere digitale Neuerungen setzten oft auf vorhandene Strukturen. So unterschiedliche Lebenswelten, wie der Dancefloor und das Büro, wurden von diesen Schüben der Digitalisierung erfasst. Zunächst waren es Digitale Inseln, Daten wurden über magnetische (Disketten) und optische Datenträger (CDs) oder E-Mail (mit beschränkter Kapazität) zwischen Endgeräten getauscht.
Warum sprechen wir ausgerechnet jetzt vom Digitalen Wandel bzw. der Digitalen Transformation? Die Digitalisierung hat nun eine Stufe erreicht an der die Digitalen Inseln zu einem – dreht man das Bild um – digitalen Ozean geworden sind. Das Netz ist zentraler Medienverteiler und Marktplatz. Fortwährend fließen Datenmengen hinzu: aus der Online-Kommunikation, aus Aufzeichnungssystemen (GPS, Sensoren, Kameras etc.) – das, was man derzeit als BigData bezeichnet. In dem sehr lesenswerten Buch “Das Neue Spiel” (Michael Seemann, 2014) sind die immer wirksamer werdenden Effekte ausgearbeitet: zum einen der digitale Kontrollverlust (d.h., daß sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen.), zum anderen die Macht der Query als Instrument der Datenabfrage: entscheidend ist nicht die aufgezeichnete Information, sondern deren Abfrage.

Entscheidend in der Entwicklung ist die von Lee Rainie und Barry Wellman so genannte Triple Revolution: 1) der als Social Network Revolution zusammengefasste gesellschaftliche Wandel, der in etwa mit der oben beschriebenen Informalisierung übereinstimmt. Generell ist der Rückgang traditioneller Formen von Gemeinschaft gemeint, anstelle derer individuell gestaltete Netzwerke treten, 2) die Internet Revolution (Verbreitung und Nutzung vernetzter digitaler Kommunikation) und  3) die mobile Revolution, die das Netz von stationären Geräten löste.
Die gegenwärtige Stufe des digitalen Wandels wirkt sich nicht mehr nur auf einzelne Branchen bzw. Branchencluster aus – sondern auf die Gesamtheit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation. Von dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett stammt das schöne Bild (wenn auch in einem etwas anderen Blickwinkel) von der Playlist als Organisationsmuster:  Organisation und Handlungsabläufe bestehen aus aneinander anschlußfähigen Teilen. Vom Individuum verlangt das ein ganz anderes Wissen und eine ganz andere Aufmerksamkeit als etwa Anpassung an Bestehendes.

Norbert Elias:  Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. (Orig.Basel 1938) TB Frankfurt 1969; Cas Wouters:  Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990;  Lee Rainy & Barry Wellman (2012) Networked: The New Social Operating System. Cambridge, MA and London: MIT Press; Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. 256 S. Orange Press, Freiburg 2014, gebunden 20,-€ /28 ‚- SF; E-Book 5,- bei iRights-Media Jan-Hinrik Schmidt,: Linked: Vom Individuum zur Netzgemeinschaft. In: Christian Stiegler, Patrick Breitenbach, Thomas Zorbach (Hg.):New Media Culture: Mediale Phänomene der Netzkultur – Transcript Verlag,, Bielefeld 5/2015 S. 84-95  

Networked Sociality/Vernetzter Individualismus

Digitaler Wandel bedeutet nicht nur technologischen und ökonomischen Wandel, ebenso gesellschaftliche Veränderungen, die Art wie Menschen sich organisieren und ihre Beziehungen gestalten.
Sicher kann man auch Vernetzte Sozialität sagen, der Anglizismus war aber schon eher da. Networked Sociality stammt von dem deutschen, in England lebenden Kulturwissenschaftler Andreas Wittel, 2001 – demselben Jahr wie Manuel Castells Netzwerkgesellschaft. Netzwerke sind ein Gegenmodell zu hierarchisch organisierten Organisationen, in der menschlichen Geschichte gab es sie immer zu Kooperation und gegenseitiger Unterstützung. Als Gesellschaftsmodell in neuerer Zeit spricht man seit einigen Jahrzehnten davon, bei vormals alternativ genannten Szenen, in der Kulturindustrie, generell in urbanen Umgebungen – beim Übergang von der Industrie- (und manchmal auch Agrar-) zur Informationsgesellschaft. Individuelle Wahl gewinnt Vorrang vor traditioneller Sozialität. Digitalisierung ist nicht der Auslöser, treibt aber die Entwicklung an.

NetworkedVernetzter Individualismus unterscheidet sich nur geringfügig von Networked Sociality, in seiner Verwendung richtet sich der Begriff mehr auf konkrete Auswirkungen und bewußte Steuerung. Er kommt bei Manuel Castells (2005) vor, und wurde von Lee Rainie & Barry Wellman in Networked – The New Social Operating System (2012) ausgearbeitet. In einer Übersicht von 12 Grundsätzen stellen die Autoren Charakteristika heraus.
Das neue soziale Betriebssystem bedeutet einen Wandel in Sozial- und Arbeitsbeziehungen und verlangt neue Strategien und Fähigkeiten, Probleme zu lösen und Handlungen zu planen. Das gilt für einzelne, wie für Unternehmen und Organisationen. Grenzen zwischen Information, Kommunikation und Aktion verblassen. Technische und mediale Möglichkeiten werden genutzt, dabei stehen keine einzelnen Dienste im Vordergrund – entscheidend ist die Kompetenz, sich jeweils geeignete Formate nutzbar zu machen. Dazu gehören auch Sozialtechniken wie Reputationsmanagement.  

“Moving among relationships and milieus, networked individuals can fashion their own complex identities depending on their passions, beliefs, lifestyles, professional associations, work interests, hobbies, or any number of other personal characteristics” 
(Rainie & Wellman S. 15).

Vernetzter Individualismus – ein neues soziales Betriebssystem

Vernetzter Individualismus bedeutet ein mehr an offenen sozialen Systemen und weniger geschlossene soziale Systeme. Mit der Digitalisierung erschliessen sich die Möglichkeiten von Netzwerken erst wirklich, mit immer geringeren Einschränkungen durch geographische Entfernung, sie werden nach Interessen, Wertvorstellungen, Sympathien und Projekten aufgebaut und sind oft thematisch focussiert (vgl. Castells 2000 u. 2005).
Kennzeichend für die Digitalisierung ist die individualisierte Ansprache: von einer Gesellschaft der Massenmedien zu einer der personalisierter Medien; von breitgestreuter Werbung zum personalisierten Marketing. Es ist das, was Michael Seemann (Autor “Das Neue Spiel“) als die Organisationsmacht der Query bezeichnet. Die Query ist die Abfrage an eine Datenbank zu zutreffenden Matchings. So können Ressourcen verknüpft und koordiniert werden. Etliche der neueren Geschäftsmodelle beruhen darauf: So funktionieren Uber und AirBnB, Dating Apps und unzählige andere. Diese Plattformen vermitteln standardisierte Transaktionen von Anbieter zu Abnehmer, jeder kann Sender und Empfänger, Verkäufer und Kunde sein. Ähnlich ist die Verknüpfung über gemeinsame Merkmale, Interessen, Leidenschaften – in der Sprache des Social Web ein gemeinsamer #hashtag. Für die Verbindungen, die dadurch entstehen gibt es bereits den Begriff consocial – oder, wenn wir in deutscher Schreibweise bleiben wollen, konsozial.

Denken wir 15 Jahre zurück, spielte Online-Kommunikation eine ganz andere Rolle als heute: man sprach (noch) von virtuellen sozialen Beziehungen in einer Parallelwelt,  experimentell oder beschränkt auf Informationsaustausch in Foren. In mehreren Schüben schob sie sich in den Alltag, mit der Verbreitung von SocialMedia Diensten und v.a. der Allgegenwart des mobilen Netzes. Der Prozeß der Digitalisierung reiht sich ein in andere längerfristige Entwicklungen, den der Individualisierung und der Informalisierung und den der Ablösung der Industrie- durch die Informationsgesellschaft. Strukturell ist manches vorgegeben, der Prozeß selber gestaltbar.

Manuel Castells: Die Internet-Galaxie: Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, 2005 (Orig.: The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business, and Society, 2001), 300 S. Wiesbaden 2005; Lee Rainy & Barry Wellman (2012) Networked: The New Social Operating System. Cambridge, MA and London: MIT Press; Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. 256 S. Orange Press, Freiburg 2014, gebunden 20,-€ /28 ‚- SF; E-Book 5,- bei iRights-Media Andreas Wittel,: Toward a Networked  Theory, Culture & Society December 2001 vol. 18 no. 651-76  

 

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