3/11/15 kmjan
Digitaler Wandel bedeutet nicht nur technologischen und ökonomischen Wandel, ebenso gesellschaftliche Veränderungen, die Art wie Menschen sich organisieren und ihre Beziehungen gestalten.
Sicher kann man auch Vernetzte Sozialität sagen, der Anglizismus war aber schon eher da. Networked Sociality stammt von dem deutschen, in England lebenden Kulturwissenschaftler Andreas Wittel, 2001 – demselben Jahr wie Manuel Castells Netzwerkgesellschaft. Netzwerke sind ein Gegenmodell zu hierarchisch organisierten Organisationen, in der menschlichen Geschichte gab es sie immer zu Kooperation und gegenseitiger Unterstützung. Als Gesellschaftsmodell in neuerer Zeit spricht man seit einigen Jahrzehnten davon, bei vormals alternativ genannten Szenen, in der Kulturindustrie, generell in urbanen Umgebungen – beim Übergang von der Industrie- (und manchmal auch Agrar-) zur Informationsgesellschaft. Individuelle Wahl gewinnt Vorrang vor traditioneller Sozialität. Digitalisierung ist nicht der Auslöser, treibt aber die Entwicklung an.
Vernetzter Individualismus unterscheidet sich nur geringfügig von Networked Sociality, in seiner Verwendung richtet sich der Begriff mehr auf konkrete Auswirkungen und bewußte Steuerung. Er kommt bei Manuel Castells (2005) vor, und wurde von Lee Rainie & Barry Wellman in Networked – The New Social Operating System (2012) ausgearbeitet. In einer Übersicht von 12 Grundsätzen stellen die Autoren Charakteristika heraus.
Das neue soziale Betriebssystem bedeutet einen Wandel in Sozial- und Arbeitsbeziehungen und verlangt neue Strategien und Fähigkeiten, Probleme zu lösen und Handlungen zu planen. Das gilt für einzelne, wie für Unternehmen und Organisationen. Grenzen zwischen Information, Kommunikation und Aktion verblassen. Technische und mediale Möglichkeiten werden genutzt, dabei stehen keine einzelnen Dienste im Vordergrund – entscheidend ist die Kompetenz, sich jeweils geeignete Formate nutzbar zu machen. Dazu gehören auch Sozialtechniken wie Reputationsmanagement.
“Moving among relationships and milieus, networked individuals can fashion their own complex identities depending on their passions, beliefs, lifestyles, professional associations, work interests, hobbies, or any number of other personal characteristics” (Rainie & Wellman S. 15).
Vernetzter Individualismus bedeutet ein mehr an offenen sozialen Systemen und weniger geschlossene soziale Systeme. Mit der Digitalisierung erschliessen sich die Möglichkeiten von Netzwerken erst wirklich, mit immer geringeren Einschränkungen durch geographische Entfernung, sie werden nach Interessen, Wertvorstellungen, Sympathien und Projekten aufgebaut und sind oft thematisch focussiert (vgl. Castells 2000 u. 2005).
Kennzeichnend für die Digitalisierung ist die individualisierte Ansprache: von einer Gesellschaft der Massenmedien zu einer der personalisierter Medien; von breitgestreuter Werbung zum personalisierten Marketing. Es ist das, was Michael Seemann (Autor “Das Neue Spiel“) als die Organisationsmacht der Query bezeichnet. Die Query ist die Abfrage an eine Datenbank zu zutreffenden Matchings. So können Ressourcen verknüpft und koordiniert werden. Etliche der neueren Geschäftsmodelle beruhen darauf: So funktionieren Uber und AirBnB, Dating Apps und unzählige andere. Diese Plattformen vermitteln standardisierte Transaktionen von Anbieter zu Abnehmer, jeder kann Sender und Empfänger, Verkäufer und Kunde sein. Ähnlich ist die Verknüpfung über gemeinsame Merkmale, Interessen, Leidenschaften – in der Sprache des Social Web ein gemeinsamer #hashtag. Für die Verbindungen, die dadurch entstehen gibt es bereits den Begriff consocial – oder, wenn wir in deutscher Schreibweise bleiben wollen, konsozial.
Denken wir 15 Jahre zurück, spielte Online-Kommunikation eine ganz andere Rolle als heute: man sprach (noch) von virtuellen sozialen Beziehungen in einer Parallelwelt, experimentell oder beschränkt auf Informationsaustausch in Foren. In mehreren Schüben schob sie sich in den Alltag, mit der Verbreitung von SocialMedia Diensten und v.a. der Allgegenwart des mobilen Netzes. Der Prozeß der Digitalisierung reiht sich ein in andere längerfristige Entwicklungen, den der Individualisierung und der Informalisierung und den der Ablösung der Industrie- durch die Informationsgesellschaft. Strukturell ist manches vorgegeben, der Prozeß selber gestaltbar.
Manuel Castells: Die Internet-Galaxie: Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, 2005 (Orig.: The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business, and Society, 2001), 300 S. Wiesbaden 2005; Lee Rainy & Barry Wellman (2012) Networked: The New Social Operating System. Cambridge, MA and London: MIT Press; Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. 256 S. Orange Press, Freiburg 2014, gebunden 20,-€ /28 ‚- SF; E-Book 5,- bei iRights-Media Andreas Wittel,: Toward a Networked Theory, Culture & Society December 2001 vol. 18 no. 651-76