Die Macht der Plattformen (Rezension)

Eine Plattform ist ein Geschäftsmodell, das zwei (oder mehr) unterschiedliche Interessengruppen zusammenbringt, wie auf einem Markt. Nur wird dieser durch ein Unternehmen kontrolliert, das auch seine Strukturen vorgibt”* (24).

Die Macht der Plattformen ist als  (vorläufige) Plattformtheorie zu verstehen.  Vorläufig deshalb, da Plattformen längst keine abschliessend zu definierenden Gebilde sind. Sie sind im ständigen Wandel, somit politisch offen, gestaltbar (352). So wie wir sie heute kennen, sind sie in den beiden letzten Jahrzehnten gewachsen – weder beliebig noch zwangsläufig.
Das Buch war ursprünglich für Mai 2020 angekündigt, passend zur re:publica.  Grund für die Verspätung ist wohl die gleichzeitige Abgabe als Dissertation.

Im ersten Buch von Michael Seemann (@mspro) “Das neue Spiel – Strategie für die Welt nach dem digitalen  Kontrollverlust ” (2014)  ging es um neue Spielregeln für die Zeit danach. Kontrollverlust bedeutet, dass sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen. Niemand ist mehr Herr seiner eigenen Daten und das betrifft  alle Formen der Informationskontrolle.
Die folgende These zum Neuen Spiel lässt sich ohne weiteres einer Besprechung des vorliegenden voranstellen: Im Neuen Spiel treten Plattformen als neue, machtvolle Akteure auf den Plan. Sie bilden die Infrastruktur der kommenden Gesellschaft. Wer in Zukunft Politik machen will, muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Es begann mit Napster – ein Erweckungserlebnis, auf das im ganzen Buch hindurch immer wieder Bezug genommen wird. Das frühe Internet war von der Vision getrieben, Wissen und Information frei zugänglich zu machen, incl. Musik, Software.  Eine Diensteplattform für Musik- Nerds hebelte eine ganze Branche aus und führte zur  Disruption der Musikwirtschaft,  die  ein neues Paradigma des Wirtschaftens erzwang (277/78). Napster hatte die Kenntnis über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt (145). War Napster Datenpiraterie, war iTunes die folgende Legalisierung. Spotify u.a. folgten – und ist Gegenstand einer umfangreichen Plattformanalyse (340-352) – die Musikindustrie hatte aber inzwischen gelernt.

Der Untertitel Politik in Zeiten der Internetgiganten führt ein wenig auf die falsche Spur – lässt einen weiteren mahnenden Text vor der Macht der GAFAM- Giganten erwarten. Den Datensammel- und Überwachungsaspekt hält Seemann für überbewertet (404). Darum geht es zwar auch, vorrangiges Thema sind aber die grundsätzlichen Machtquellen, die Plattformen aus ihrer Funktionsweise erwachsen.  Netzwerkmacht ist hegemoniale Macht dessen, der Standardisierungen durchsetzen kann.
Plattformmacht beruht nach Seemann dazu auf Hebeln der Kontrolle, er nennt sie Kontrollregimes, insgesamt sechs.   Als erstes das Zugangsregime, in etwa ein Hausrecht, mit dem Zugang gewährt und verwehrt wird.  Im weiteren das  Query- Regime  als Instrument der Datenabfrage, eine Vorselektion potentieller Verbindungen mit erheblichen Möglichkeiten von Einflussnahme und Kontrolle.

Social Graph. Quelle:  mburpee/flickr.com

Eigentliches Machtzentrum ist – er nennt  es so  – das  Graphregime, dessen Name sich von Social Graph ableitet: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related“**.  Soziale Graphen kann man sich wie Territorien vorstellen – deren Einnahme im  Plattformkapitalismus Unternehmensziel wird. Graphname klingt wie Landnahme, und bedeutet auch die Einnahme eines  bereits existierenden Beziehungsnetzwerkes oder Interaktionszusammenhanges – Amazons Graphname war etwa zunächst der (Online-) Buchhandel, Facebooks die Campi von Universitäten. Beide wären nicht erfolgreich, hätten viele der Bedürfnisse nicht bereits existiert. Gefestigte Graphnamen bedeuten gefestigte Machtquellen: Facebook hat (incl. instagram und What’s App) ein Graphmonopol der sozialen Verbindungen, Google hat den Interest Graph, Amazon den Consumption Graph, Apple und Google teilen sich den Mobilfunkgraph (159). Das Wissen über die Verbindungen ist Machtfaktor.

Die Graphname ist auch die erste Phase im Lebenszyklus von Plattformen, der Keim, aus dem alles erwächst.  Es folgen Wachstum und Konsolidierung. Wachstum erfordert maximale Offenheit- man will die Welt erobern und verbessern – Don’t be evil fällt in diese Phase.  Konsolidierung stellt dann die  wirtschaftliche Reproduktion in den Vordergrund. In Phase 4, der Extraktion kippt das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit. Schliesslich der Niedergang – das öffentliche Interesse lässt nach, dennoch wird oft noch eine Rente erwirtschaftet.  Kaum jemand weiss, dass etwa MySpace und Second Life immer noch existieren. Andere, wie Ebay scheinen dauerhaft konsolidiert.

Soweit die zentralen Aussagen zur Plattformmacht, skizziert. Seemanns Arbeit berührt eine ganze Reihe weiterer Themenfelder, die Diskussionen anstossen können, etwa eine politische Ökonomie der Plattform. Oder zur Creators Economy als einer evtl.  erstrebenswerten Perspektive.
Es gibt auch Material zur boomenden Zukunftsdiskussion in Form von Zehn Prognosen (352ff).   Ob sich dabei bereits ein Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie (368 ff) ankündigt, ist eine gewagte These.  Ganz sicher verlieren die grossen, prägenden  Organisationen einer Massengesellschaft, darunter die Volksparteien,  massiv an Einfluss – Vergemeinschaftung und Interessenorganisation verlaufen oft in Mustern von Consozialität.
Die Wechselwirkung von Technologie und Gesellschaft wird angesprochen.  Seemann vertritt das Konzept der Affordanz, das meint den Angebotscharakter eines Objektes – anderswo taucht der Begriff Technogenese auf, der die parallele Entwicklung technischer und gesellschaftlicher Entwicklung betont.

War es Zufall, dass die Plattformisierung ausgerechnet von der Musikbranche ihren Ausgang nahm? Zum einen ist Musik (auf Tonträgern) zwar an ein Trägermedium gebunden, sie liess sich aber schon immer mit mehr oder weniger Aufwand  kopieren. Dazu war die Gründer- und Aufbaugeneration des Internet mit Popmusik bzw. Popkultur aufgewachsen und sozialisiert. Pop war Medium von Vergemeinschaftung und Distinktion und oft Gradmesser von  Coolness – ein sozialer Graph par excellence.

Obgleich Dissertation wirkt das Buch und sein Duktus kaum innerakademisch. Klassischer theoretischer Bezug ist das Konzept der Kontrollgesellschaft von Gilles Deleuze.  Ansonsten überwiegen in den Literaturverweisen  aktuelle Quellen bis zum Jahre 2020 – der Text ist also nicht beim zunächst vorgesehenen Erscheinungstermin stehen geblieben 😉
Die Argumentation folgt der eigenen Perspektive und spiegelt selbsterlebte Zeitgeschichte. Die Motivation, der Antrieb dazu ist gleich zu Beginn genannt:  “Diese Mechanismen sind so radikal anders als die Welt, in der ich aufgewachsen bin, dass ich alles darüber wissen muss.” Manchmal hat man etwas den Endruck, es gehe um soziale Physik.  Beim Lesen kommt man nicht aus dem Anstreichen heraus … ein wichtiges Buch.

Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten,  Berlin, Ch. Links Verlag 2021; 448    S. – auf Youtube: Napster, iTunes, Spotify und die Plattformisierung der Welt – Podcast bei Future  Histories 30.05.2021
*Jean-Charles Rochet, Jean Tirole, Platform Competition in Two-Sided Markets, Journal of the European Economic Association, Volume 1, Issue 4, 1 June 2003, Pages 990–1029,
**A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



“Tribes” in der globalen Zivilisation

Wenn es um neue, digitale Formen von Öffentlichkeit und Vergemeinschaftung geht, sind historische und archaische Sprachbilder immer wieder beliebt. So etwa das auf McLuhan zurückgehende Bild vom globalen Dorf, der digitale Salon und das digitale Lagerfeuer, verächtlich ist digitale Hordenbildung. Im neuen Buch von Christoph Türcke heisst es Digitale Gefolgschaft. Und immer wieder die tribale Metapher.
Neotribalismus, davon abgeleitet Digitaler Tribalismus, ist als Begriff seit längerem etabliert und geht auf den französischen Soziologen Michel Maffesoli zurück. In den Cultural Studies, von dort zu Netnographie, in die Marktforschung bis ins Tribal Marketing hat sich der Begriff verbreitet – und war hier im Blog schon mehrmals Thema (s. Stämme im Netz, Consumer Tribes, Tribes im Social Web). Darüber hinaus verbreitet sich der Begriff in einem erweiterten Sinne für gesellschaftliche und politische Strömungen auf der  Basis gefühlter gemeinsamer Identität.

Tribes? Bild: rclassen.photocase.de

Digitale Medien und die damit erweiterten Kommunikations- räume begünstigen zwar Bildung und Verbreitung solcher Tribes, sind aber nicht deren Auslöser. Grob gesagt, sind es  Formen von Vergemeinschaftung, die auf Individualisierung folgen. Letztere ist eine der Triebkräfte der nachlassenden Bindung an kollektive Identitäten und traditionelle, normsetzende Instanzen. In der industriellen Moderne dominierten grosse identitätsvermittelnde Organisationen mit einem Geflecht von Nebenorganisationen ihre Milieus – so etwa das gewerkschaftsnahe oder das katholische Milieu – oder auch grosse Unternehmen, die ganze Landstriche dominier(t)en. Bindungen an solche Milieus, Region und daran angepasste Arbeits- und Firmenkulturen prägten den Habitus. Neotribalismus füllt zumindest eine Lücke, die die schwindende Bindungskraft bis zum Substanzverlust grosser Organisationen (z. B. katholische Kirche, SPD) lässt.
Kein Zufall, dass sich gerade in popkulturellen Subkulturen, die neue öffentliche Kommunikation früh verbreitete.
Massimiliano Livi, Soziologe und Betreiber des Blog Tribes beschreibt Neotribalismus durchgehend als Metapher. Neo-Tribes sind informell, sie bestehen »in no other form but the symbolically and ritually manifested commitment of their members« (vgl. Livi, 2018). Vergemeinschaftung geschieht nicht aufgrund demographischer Merkmale, es sind “flüssige” Vergemeinschaftungen aufgrund von ästhetischen, emotionalen und manchmal auch von Konsum geprägten Bindungen. Menschen, die dieselben Lebensstrategien gewählt haben und dieselben Erfahrungen machen, suchen und leben ihre subjektive Identität in ähnlichen Mustern (Livi, 2017). 

Es gibt eine ganze Reihe von Konzepten, die sich mit dem der Neo- Tribes überschneiden.  Seit den 90er Jahren prägte Ronald Hitzler die nüchternere Bezeichnung Posttraditionale Vergemeinschaftungen und fasst sie so zusammen: “Gemeinsamkeit bzw. Übereinstimmung von Neigun­gen, Vorlieben, Leidenschaften und bestimmten, als ‚rich­tig’ angesehenen Verhaltensweisen” (2018). Cornelia Koppetsch stellt in “Die Gesellschaft des  Zorns” (162 – 168) v.a. die rechtspopulistischen  Neo- Gemeinschaften als Formen kollektiver Vergewisserung hervor.  Diese bieten einen moralischen Kompass, solidarische Bindungen und einen Gegenentwurf zur individualisierten Lebensführung (165).  Auch das wiederbelebte Konzept der Massen (Gebauer & Rücker, ) passt in diesen Rahmen, mit der Besonderheit, dass sich diese performativ – in der Aktion – zeigen.   Michael Seemann schließlich bringt Digitalen Tribalismus in Verbindung mit Fake News der Segregation der Öffentlichkeit in viele atomistische Suböffentlichkeiten und schliesst an den (eher umstrittenen) Aufsatz zu Memetic Tribes of Cultural War an. Christoph Türcke, emeritierter Philosophieprofessor in Leipzig, schlägt in eine andere Kerbe. Auch er bedient sich der Stammesmetapher: die Weltgesellschaft als Stammesgesellschaft mittels Telekommunikation. Skeptisch macht mich die These von suchtbasierten  Gefolgschaften globaler Plattformen (186), die  Abhängigkeit von Followern.  Google und Facebook stehen zu ihren Nutzern wie Dealer und Drogenabhängige. Da ist einiges gegenzusetzen: Plattformen haben viel Macht, aber nicht die alleinige Strukturierungsmacht. Das ist nicht alles in diesem Buch,  evtl. folgt eine Rezension.

Das Bild der Tribes/Stämme ist beliebt, lassen sich doch damit soziale Formationen in eine Perspektive bringen, die ansonsten kaum fassbar sind. Oft bestehen sie nur gefühlt.  Der Focus der Vergemeinschaftung kann ganz unterschiedlich sein: Schönes Beispiel ist etwa die Critical Mass, eine monatlich wiederkehrende Fahrraddemo, die Begeisterung für  Schokolade – genauso können es aber auch gemeinsame Ressentiments, der Glaube an Nachrichten, ob sie nun wahr oder falsch sind, sein. Menschen suchen Gemeinschaft dort, wo ihre Gedanken und Interessen anschlussfähig sind, sie emotional Resonanzen erleben können und wo sie Solidarität erleben.
Das Bild hat allerdings seine Grenzen, archaische Stämme können wohl sehr unterschiedlich, streng hierarchisch bis partizipativ  strukturiert sein, sie haben aber einen kaum beschränkten Zugriff auf die Person. Neo- Tribes sind kaum verpflichtend.  Stattdessen sind es allesamt mehr oder weniger fluide soziale Formationen innerhalb einer globalen Zivilisation mit imperialen Zügen. Das wird in der gesamten Diskussion kaum thematisiert.  Auch wenn sie diese Zivilisation ablehnen, existieren sie doch in deren technischer und sozialer Infrastruktur.  Es gibt zwar unzählige atomistische Suböffentlichkeiten, aber es sind eben nur Teil- Öffentlichkeiten.

 

Christoph Türcke: Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft    Verlag C.H. Beck, München 2019.  250 S.  –  Massimiliano Livi: Neo-Tribes und TrIBES: Eine Einführung (2018) . Neotribalismus als Metapher und Modell. Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse emotionaler und ästhetischer Vergemeinschaftung in posttraditionalen Gesellschaften. In: Archiv für Sozialgeschichte 57, 2017,  S. 365 – 383. – Michael Seemann: Memetischer Tribalismus – atomistische Suböffentlichkeiten im digitalen Kulturkampf. Peter N. Limberg & Conor Barnes: The Memetic Tribes Of Culture War 2.0. How their rise made in-fighting the norm — and how we can navigate the resulting culture war



Innovation und Gesellschaft

Sind Geistesblitze Auslöser von Innovationen – oder sind sie seriell?

Innovation bzw. innovativ zählt zu den Begriffen, die derart  inflationär gebraucht werden, dass man sie oft gleich in die Buzzword Ecke legen will. Dennoch bleibt der Begriff zentral und es haftet ihm ein Zukunftsversprechen an.
Imaginationen der technologischen Zukunft
nennt der Autor Jens Beckert sein Kapitel zu Innovation. Innovationsraten haben enorme Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Unternehmen, Regionen und ganzen Volkswirtschaften. Würden sie sich signifikant verlangsamen, würde die Wirtschaft stagnieren  (Beckert, S.  267). Das macht Innovationen zu systemimmanenten Notwendigkeiten. Doch bedeutet Innovation mehr – neues nützliches Wissen zu erkennen und zu verarbeiten, neue Lösungswege zu suchen, hat Menschen immer angetrieben – nicht nur im wirtschaftlichen Handeln. Im Gefolge der Digitalisierung ist v.a. eine Definition von Joseph Schumpeter einflussreich: „the doing of new things or the doing of things that are already done, in a new way“.

Betriebswirtschaftlich ist Innovation in mehr oder weniger institutionalisierten Verfahren durchdekliniert. Innovativ können Produkte, Prozesse, Geschäftsmodelle, Bildungsformate, Technologien, Materialien etc. sein. Es gilt nicht der Entwurf, sondern die praktische und geschäftstaugliche Umsetzung. Neue Produkte werden entwickelt, bestehende verbessert, Prozesse optimiert und digitalisiert. Open Innovation, weitergehend CoCreation bezieht externes Wissen ein.  Das kann z.B. auch Netnographie sein,  wie etwa in dem von der Münchner Fa. Hyve entwickelten Ansatz. Man unterscheidet zwischen der stetigen Weiterentwicklung (inkrementelle Innovation) und den disruptiven Innovationen, die mit einer neuen Logik bestehende Märkte neu definieren.
Innovationsmanagement in Deutschland ist strukturiert und effizienzgeleitet – Forschung & Entwicklung, Ideenmanagement + agiles Projektmanagement, Creative Hubs etc. – so erfolgreich, dass das Land nach einer Analyse des Weltwirtschaftsforums (2018) als innovationsfreundlichster Standort weltweit an erster Stelle steht. Kriterien dazu sind u.a. die Anzahl der Patente. Besondere Stärke ist das Komplexitätskapital, was bedeutet, dass eine Volkswirtschaft bzw. ein Wirtschaftscluster in der Lage ist, schwierige, komplexe Aufgaben zu lösen – es setzt voraus, dass spezialisiertes Wissen aus ganz unterschiedlichen Feldern miteinander verbunden werden kann (vgl brandeins. Innovation 2018, s.u.).

In disruptiven Innovationen setzt sich die Logik der Digitalwirtschaft durch: das möglichst unkomplizierte Matching von Anbieter zu Abnehmer. Beispiele werden seit langem immer wieder genannt: Die Disruption der Musikwirtschaft seit den 90er Jahren von Napster über iTunes zu den Streaming Diensten. Die Werbewirtschaft verlagert sich von den Printmedien zu den digitalen Intermediären – mit der Nebenwirkung der Krise des Journalismus, dessen wesentliche Finanzierung dahinschwindet. Werbung, Produkte, Dienstleistungen und auch persönliche Beziehungen (Dating) werden mit Hilfe von Algorithmen personalisiert vermittelt, die sog. Sharing- Economy fügt Bereiche, die vordem nicht ökonomisch organisiert waren, hinzu.  Gewinner sind die vermittelnden Plattformen bzw. Intermediäre. Viele der Innovationen folgen derselben Logik in ähnlichen Mustern – man könnte sie als serielle Innovationen bezeichnen.
Lange Zeit war die Steigerung von Speichervolumen ein Innovationstreiber. Erst mit der besseren Verfügbarkeit von Speichermedien konnten sich Techniken in der Breite durchsetzen (z. B. Video- Streaming) – Komprimierungsformate wie mp3 und jpg zeugen noch immer vom nötigen sparsamen Gebrauch. Heute sind es die Datenströme, die Innovationen antreiben. Datenaufzeichnung begleitet mittlerweile unser Leben. In Social Media auf das engste mit der personalisierten Werbewirtschaft verbunden, stehen weitere Felder an: autonomes Fahren ist ohne umfangreiche und detailreiche Mobilitätsdaten nicht möglich; ohne Bargeld wird jeder Zahlungsverkehr (und damit auch Bewegungsprofile) in der Aufzeichnung nachvollziehbar. Immer wird ein Verhaltensüberschuss erhoben, der mehr Informationen sammelt, als für die jeweiligen Dienste erforderlich. eue Vorhersageprodukte ermöglicht.
Innovativ kann vieles sein – Patente können auch das (rechtliche) Handtuch sein, mit dem man sich den Platz sichert. Ist etwa ein neues Material für atmungsaktive Outdoor- Kleidung, die dann beim Waschen Microplastik in den Wasserkreislauf schleust, innovativ? … oder der verschliessbare Waschbeutel aus Baumwolle, der eben das verhindern soll? Sind es Müsli- Riegel mit Öko- Marketing? … oder sind es doch nur die Produkte und Verfahren, die unser Leben verändern, zumindest beeinflussen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten neu bestimmen?

Empfehlenswert zum Thema ist die Diskussion “Wie entsteht Innovation” mit Wolf Lotter und Thomas Ramge. Zwei wesentliche (nicht immer entgegen gesetzte) Positionen zum Thema Innovation werden deutlich: Läuft unter dem Dauerrauschen Innovation eine Verlängerung der Logik industrieller Produktion, Effizienzsteigerung, weiter? Ist es nicht vorrangig, die neuen technischen Möglichkeiten zur Lösung von in der Folge der industriellen Logik entstandenen Probleme zu nutzen? Davon gibt es schließlich genug. Mehrwertgetriebene Produktion ging/geht oft genug zu Lasten von Mensch und Umwelt. Oder liegt die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft in den datengetriebenen Innovationen, im Verlass auf aus Daten lernenden Systemen. Nicht unbedingt ein Widerspruch, aber zwei Pole in einer wesentlichen Diskussion.

Steve J. – Innovator in informellem Outfit

Wird von Innovation gesprochen, geht es oft um deren (angenommene) Träger: den in schöpferischer Zerstörung Neues schaffenden  Unternehmerpersönlichkeiten – den Entrepreneurs. Angelehnt an Schumpeter (1912) gelten sie als die innovativen Akteure der Wirtschaft, die bestehende Regeln aushebeln.  Steve Jobs ist wohl der Prototyp solcher transformatorischer Helden. Technologien ermöglichen die Umsetzung neuer Vorstellungen der Zukunft – fiktionale Erwartungen nennt es Jens Beckert (s.u.). Innovationen setzen sich durch, wenn sie von einer Kultur/Zivilisation angenommen werden. Das war so beim SmartPhone, wie es beim Buchdruck war. Oder auch beim Penicillin, beim Massengut PKW. Bei den dazu erzählten Geschichten gibt es immer einen als Held strahlenden Innovator.  Auch für gescheiterte Innovationen gibt es genügend Beispiele. Warum blieb etwa die Erfindung des Buchdrucks in China, die Entdeckung Amerikas durch die Wikinger folgenlos? Einmal passte das Schriftsystem nicht, das andere mal stand keine organisierte Macht dahinter.

vgl. Jens Beckert: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018. 568 S. – Besprechung folgt in Kürze Peter Laudenbach: Der Kapitalismus der Innovation, brandeins. Innovation 2018. S. 56 – 60 Bildnachweis (oben): Marie Maerz / photocase.de



2018 – 10 Jahre Social Media

Abb.: Social Media Map 2018; nach Klick Ansicht in voller Auflösung

Social Media (immer im Plural) sind seit gut 10 Jahren Thema. Damals  hatte der Begriff  den des Web 2.0 abgelöst. Web 2.0 war partizipativ konnotiert,  Kennzeichen der Social Media ist User Generated Content auf einer von Betreibern bereitgestellten Plattform. Und letztlich bestimmen die Betreiber auch die Regeln. Teilhabe am Social Web wurde damit einfach, kaum schwieriger als eine TV- Fernbedienung zu bedienen. Das mobile Netz brachte dann den großen Sprung nach vorn – Inhalte ließen sich nun jederzeit, von jedem Ort,  verbreiten, gute Verbindung vorausgesetzt. Die Nutzung von Social Media breitete sich auf (fast) die gesamte Gesellschaft aus, wurde zur Massenerscheinung.  Social Media wachsen weiter – und stehen dabei immer öfter in der Kritik.

Vergleicht man Übersichten, wie die obenstehende Social Media Map 2018 mit  der von 2014, oder auch die Graphik Social Media Landscape 2018 mit denen von 2012 und 2016 scheint sich in den letzten Jahren wenig verändert zu haben. Facebook ist seit seiner Gründung ununterbrochen gewachsen, von der Zahl der User, ebenso wie in den Funktionen. Instagram, seit 2012 im Facebook- Imperium,  begann als Sharing App von Handy-Photos und erweiterte sich zur führenden Plattform visueller Inhalte zur Sofort- Veröffentlichung. YoutubeLinkedIn und Twitter machen den Kernbereich vollständig. LinkedIn hat sich zur im professionellen Bereich (Xing spielt nur im deutschsprachigen Raum eine Rolle) führenden Plattform entwickelt. Twitter hat weniger Nutzer, seine Bedeutung erhält es durch die schnelle Nachrichtenverbreitung.
Man kann den gesamten Umfang von Social Media in Kategorien fassen, in der Social Media Map sind es 24, oder auch einigen Grundfunktionen zuordnen: Publishing, Sharing, Networking, Messaging, Discussing, Collaborating, wie in der Social Media Landscape  von F. Cavazza. Die meiste aktuelle Entwicklung zeigt der Bereich Collaborating. Auch in den einzelnen Kategorien dominieren einzelne Plattformen, man denke etwa an TripAdvisor oder Spotify

Die grundlegenden Geschäftsmodelle sind nicht neu:  Monetarisierung des Publikums durch Werbung. Die Schaltung von Werbung war immer der lukrativste Teil der Medienwirtschaft. So ist es in unterschiedlichem Ausmaß bei den meisten Medien, im Privat- TV vollständig. Der Unterschied ist, dass SocialMedia- Plattformen  keine Redaktion betreiben – das Publikum erstellt das Programm und hinterlässt seine Datenspuren. Und diese ermöglichen die personalisierte Ansprache. Werbung, Marketing und PR gehen immer dorthin, wo die Menschen sind.

Jaron Laniers  Buch “Zehn Gründe … ” ist ein  Rant, eine Art Brandrede, Beschimpfung, streckenweise pöbelig,   gegen BUMMER (Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent). Manipulationen, Fake-Profile, Sucht, Hasskommentare  – die Liste der Kritikpunkte ist lang und hart und es wird wenig ausgelassen – und das Buch entstand noch vor dem Cambridge Analytica Skandal.
Manipulative Werbetreibende und machtbesoffene Technologiekonzerne (89) betreiben Verhaltensmodifikation, so in etwa. Die meisten Einwände hat man schon oft gehört, einige davon lassen sich zumindest einfach relativieren. Medien haben grundsätzlich ein Potential zur Manipulation, es ist und bleibt die Aufgabe jedes einzelnen zu entscheiden, welchen Quellen man vertraut – Social Media haben keine redaktionelle Bearbeitung.
Suchtpotential wurde immer wieder jeweils Neuen Medien vorgehalten, bereits im 18. Jahrhundert, später Film, TV, Comics und anderen Genres. Medien können Menschen neue Welten erschliessen und von anderen abkoppeln – das ist ihr Potential. Als Sender kann jeder im Social Web Aufmerksamkeit und Anerkennung gewinnen, das kann beflügeln bzw. zu Dopaminausschüttungen führen. Aber lässt sich der Effekt automatisieren? Mit Klingeltönen? Menschen erkennen schnell, ob eine Anerkennung von Belang ist, ob wir wirklich gemeint sind oder eben Bots und Fake- Profile so eingestellt wurden. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, eine begrenzte Kapazität bewussten Erlebens (G. Franck).

Sammeln einzelne Unternehmen allzuviel Macht und Einfluß, wecken sie Mißtrauen und werden dementsprechend beobachtet. Derzeit gilt es dem Facebook- Imperium und seiner Marktmacht. Um die Jahrtausendwende war es Microsoft mit den quasi- Monopolen Windows und Office, vordem IBM. Die Frage, welche Macht ein Unternehmen wie Facebook tatsächlich hat, bleibt. Was Facebook bietet, ist v.a. Convenience im Social Web mit all seinen Möglichkeiten.

Social Media 2018, das ist mittlerweile ein weitgefasster Gattungsbegriff, der unterschiedlichste Dienste und Plattformen umfasst. Messaging Dienste wurden zu Werkzeugen der Alltagskommunikation. Wie die E- Mail Adresse ist der Social Media Account zu einem Boarding Point des Social Web geworden. Hatte das Web 2.0 teilweise den Charakter einer basisdemokratischen Bewegung (wie man es auf Barcamps oder auf der alljährlichen re:publica noch spürt), sind Social Media 2018 ein Massenmedium, zudem ein Kristallisationspunkt des Digitalen Kapitalismus.   Personenbezogene Daten dienen der personalisierten Ansprache und individualisierter Angebote.
Es gibt einzelne Phänomene, wie twitternde Politiker, die Unmittelbarkeit popularisieren, einen gigantischen Resonanzboden der Selbstinszenierung aller Art von Micro- Celebrities.
Kurzum: Nach 10 Jahren sind Social Media omnipräsent und wesentlicher Teil der Digitalen Ökonomie – der Begriff hat allerdings seine Halbwertszeit überschritten. Die Kritik am Monetarisierungsmodell nimmt zu, hat aber kaum Auswirkungen auf die Nutzung.

Social Media Map 2018: https://www.ovrdrv.com/overdrive-releases-2018-social-media-map/ Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst. 2018,  204 S. – Eine detailliertere Besprechung dieses Buches folgt in Kürze. 



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