Freie Planwirtschaft? (Rez. zu “Die unsichtbare Hand des Plans”)

Planwirtschaft und Kybernetik sind verbrannte Begriffe. Gedanken an realsozialistischen Muff, an Planungs- und Steuerungsphantasien vergangener Jahrzehnte werden geweckt. Auf der Futures Lounge am 1.12. warf Jan Groos, Autor des hörenswerten  Podcast Future Histories, beide Begriffe ein und stiess unverzüglich auf  Abwehr.

Dahinter öffnet sich  eine breite Diskussionslandschaft zu der der Sammelband Die unsichtbare Hand des PlansKoordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus einen  Einstieg bietet. 16 Beiträge in drei Teilen – (1) Planung – Theorie und Geschichte, d.h. historische Planungsdebatten; in (2) geht es um Planung im digitalen Kapitalismus, vorrangig um Plattformen;  (3) bündelt bisherige Diskussionen zu Alternativen zum digitalen Kapitalismus + daran schliessen weitere Publikationen im thematischen Umfeld an (s.u.).
Leitfrage ist Wie eine Alternative zum Digitalen Kapitalismus aussehen könnte, in der der Markt ersetzt wäre durch ein soziales Arrangement, das kybernetische Steuerungsprozesse nutzt um möglichst ressourcenschonend und arbeitssparend zu produzieren? –  weiter:  wie die Ambivalenz digitaler Technologien als politische und nicht technologische  Herausforderung begriffen werden kann? (16)  Im Kern geht es immer wieder um die Frage, inwieweit die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien  Grundlage einer nachhaltigen, demokratischen Wirtschaftsplanung sein können, die mit emanzipativen Grundsätzen vereinbar ist. Eine einleitende Rolle spielt der Essay Digital Socialism (2019) von Evgeny Morozov, der darin eine neue Planungsdebatte fordert.

Wieviel Markt und wieviel Plan ist in der digitalen Ökonomie, in der wenige Technologiekonzerne zentrale Infrastrukturen beherrschen? Sind Planwirtschaft und freier Markt etwa zwei Seiten ein und derselben KI- gestützten Vermessungs-, Verkaufs- und Kontrollmaschinerie (15)? Insbesondere Amazon (und der “traditionelle” Einzelhandelsriese Walmart) wird als Beispiel einer gigantischen Planwirtschaft – in hierarchischer und undemokratischer Form – beschrieben (vgl. Philipps & Rozkorwski). Die flächendeckende Erfassung von Verhaltensdaten und ihre Weiterverarbeitung ist Grundlage einer Vorhersage- Ökonomie, die versucht unsere Bedürfnisse zu antizipieren, Planung ist datengesteuert, algoritmisch organisiert. Und hier wirkt die titelgebende Unsichtbare Hand des Plans (15).

Das chinesische Modell eines staatlich betriebenen Plattformkapitalismus ist zweimal Thema,  es  gibt Rückblicke auf die fast vergessenen dissidenten DDR- Autoren Wolfgang Harich,  Rudolph Bahro und Robert Havemann als Ansätze einer ökosozialistischen Planwirtschaft (76-90), und auf das chilenische Cybersyn– Projekt  der Allende- Zeit (217 ff).  Kybernetik kommt in vier Beiträgen vor, so in einem Rückblick auf eine Reformperiode der DDR – ein historischer Text (Georg Klaus: Kybernetik in der Welt des Menschen, 68ff) ist zudem als Beitrag eingeschoben. Von Amazons algoritmischer Planung geht eine besondere Faszination aus, als einer Art logistisch perfektionierter  kybernetischer Kapitalismus – der sich aber kaum in eine Art Cybersozialismus übertragen lässt, wie der Beitrag von Armin Beverungen (95-109) festhält.

Jan Groos stellt in seinem Beitrag Distribuierter Sozialismus – Ein Anfang den Entwurf einer digitalen – nicht zentralistischen – sozialistischen  Planwirtschaft von Daniel Saros (Valparaiso University, Indiana) vor. Mit erkennbarer Begeisterung kündigt er das Thema im Podcast wie im Buch als tiefgründiges,  fundamental anderes Modell durchdachter, alternativer politischer Ökonomie  an – etwas was wenige Kapitalismuskritiker liefern.  Groos stellt Saros’ Vorschlag in den Grundzügen dar,  ein Modell, das eine zentrale Online- Plattform, Räte, ein Credit-System beinhaltet. Saros zeigt sich allerdings offen für Kritik und verweist auf die Flexibilität des Modells.  Das, was ich bis jetzt darüber weiss, überzeugt mich jedenfalls nicht.  In der weiteren Diskussion fällt die Kritik u.a. an einem impliziten Arbeitszwang, der emanzipativen Erwartungen widerspricht.  Für eine weitere Auseinandersetzung lohnt sich das 2- teilige Interview im Podcast von Jan Groos – wahrscheinlich auch eine Sicht darauf als einer erweiterten Vorstellung von Zukunft.
Dominik Piétron (110-124) bleibt in seinem Beitrag Vergesellschaftung digitaler Infrastrukturen in einem Feld, in dem konkrete Vorschläge viel eher umzusetzen sind. Übrigens einer der lesenswertesten Beiträge. Es geht um Plattformökonomie und die Möglichkeiten öffentlicher Plattformen. Plattformen monopolisieren ganze Märkte – sie entwickeln sich nach nach einer eigenen Logik (111)  und verfügen über enorme Macht in Form algorithmischer Steuerungsmöglichkeiten, werden zu Kuratoren moderner Öffentlichkeit. Michael Seemann hatte das auch in Die Macht der Plattformen unter dem Begriff der Graphname herausgearbeitet.  Piétron hält dagegen die Alternative öffentlicher Plattformen, so als Mobilitäts-, Wohnungs-, Gesundheits- und Energieplattformen. Eine Art   gemeinwohlorientierterFeedback-Infrastrukturen“. Möglichkeiten und Falllstricke darin werden thematisiert. Neben Die sozialistische Kalkulationsdebatte und die Commons (171-183) von Jens Schröter bedeutet dieser Beitrag auch einen Bezug zu den vielfältigen Transformationsdebatten der letzten Jahre.

Die unsichtbare Hand des Plans ist eine Bestandsaufnahme aktueller + ein Rückblick bzw. Bezugnahme auf ältere Diskussionen. Manchmal hat man den Eindruck, dass es auch darum geht, ältere Traditionslinien, u.a. solche aus der DDR, an aktuelle Debatten anzuknüpfen.  In einer Rezension zu einem Sammelband bleiben viele Stränge in und zwischen den Beiträgen unerwähnt -es gibt noch mehr Stränge, die sich durch das Buch ziehen, so das Thema der (Socialist) Calculation Debate – der Frage nach der Wertbemessung in einer nicht- kapitalistischen Ökonomie.
Kein Zweifel, dass Plan und damit auch Planwirtschaft fast überall gegenwärtig ist. Viel eher als an Planwirtschaft sträube ich mich am Begriff der Kybernetik, zu sehr ist er mit dem Bestreben Gesellschaft zu steuern verbunden. Mit Effizienzschwärmereien verbunden bringt er für manche  eine gewisse Attraktivität mit sich.  Lohnt es sich, diesen Begriff zurückzuholen?
Für eine Weiterführung im Themenfeld empfiehlt sich v.a. der  – redaktionell und rhetorisch sehr gut gemachte – Podcast von Jan Gross, den man auch so nehmen sollte, wie er im Beinamen heisst:  Zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft.
Unsere Gesellschaft hat für die Zukunft v.a. zwei Aufgaben zu bewältigen: möglichst vielen Menschen die Voraussetzungen für ein Gutes Leben zu sichern und dies in Einklang mit den natürlichen Ressourcen zu bringen. Digitale Technologien sind dabei so selbstverständlich wie unverzichtbar.

Timo Daum/ Sabine Nuss (Hrsg.):  Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus. Berlin 2021, 268 S. ; Beiträge u.a. von Timo Daum, Dominik Piétron, Jan Groos, –  Über die unsichtbare Hand des Plans – Interview mit Sabine Nuss und Timo Daum   Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft.   —  Distributed Planned Economies in the Age of their Technical Feasibility. In: BEHEMOTH A Journal on Civilisation 2021 Volume 14 Issue No. 2 Simon Sutterlütti/ Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben, Hamburg 2018. Daniel E. Saros: Information Technology and Socialist Construction: The End of Capital and the Transition to Socialism (2014); für alle, die sich näher mit dem Ansatz von Daniel Saros auseinandersetzen wollen: Principles of Political Economy, 2e  (2019; 1375 S.) steht als pdf zum download bereit. s. auch: Leigh Philips & Michal Rozworski: The People’s Republic of Walmart. How the World’s Biggest Corporations are Laying the Foundation for Socialism. London/ New York 2019. Evgeny Morozov: Digital Socialism? The Calculation Debate in the Age of Big Data. In: New Left Review 116/117 2019, S. 33-67

 



Soziologie im Duett – Reckwitz & Rosa: Spätmoderne in der Krise (Rez.)

Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa  zählen (neben Armin Nassehi und Harald Welzer) zu den bekanntesten Soziologen ihrer Generation.
Beide haben in den letzten Jahren Bücher veröffentlicht, die man als ihr jeweils Grosses Werk verstehen kann – mit entsprechender Medienresonanz und nachfolgender Breitenwirkung.  Bei Reckwitz steht das neue Schlüsselmilieu der urbanen Mittelschichten im Mittelpunkt; Rosa ist mit den Begriffen  Entschleunigung und Resonanz verbunden. Beide Bücher habe ich auch hier im Blog besprochen (Reckwitz: Singularitäten; Ende der Illusionen; Rosa: Resonanz). Beide Bücher wurden aber auch als  gesellschaftstheoretische Sackgassen kritisiert (vgl.  R.Pfriem).
Beide Autoren sind auch seit langem miteinander bekannt. Jetzt haben sie sich zusammengetan und gemeinsam Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? geschrieben. Kein gemeinsamer Text, sondern zwei aufeinander folgende Beiträge + eine abschliessende  Gesprächsdokumentation (255-310).

Gesellschaftstheorie ist soziologische Kernaufgabe: sie soll die Gegenwartsgesellschaft in ihren Strukturen und Dynamiken verständlich machen  (34) – eine Kulturtechnik des generalisierenden Weltverstehens (25). Gesellschaftstheorien setzen den Rahmen für empirische Forschung, sie geben der öffentlichen Diskussion Impulse, bieten Argumentationsstränge. Sie vermitteln ein Big Picture, in dem Veränderungserfahrungen verortet werden können und sie bedienen das Interesse an der Frage nach dem Wohin der Gesellschaft und der Gestaltung von Zukunft.

In beiden Beiträgen geht es zunächst auf einer metatheoretischen Ebene um die Abgrenzung von Gegenstand bzw. dem Feld der Theorie: was ist Moderne?, darum, was Gesellschaftstheorie leisten kann – dem Buchtitel entsprechend. Beide Autoren sind aber auch ganz offensichtlich Vertreter ihrer eigenen Ansätze und gehen schnell dazu über, diese jeweils eigene Gesellschaftstheorie zu untermauern.
In der Alltagssprache meint Moderne die gerade aktuelle Epoche, die sich durch Wandel und Modernisierungen von der vorhergehenden unterscheidet.  Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wurde der Begriff der Moderne von Autoren mehrerer Generationen geprägt, die bis zurück in die Ablösung  traditioneller, religiös grundierter Gesellschaften reichen (also bis ca. 200 Jahre zurück).

performative Selbstentfaltung. Bild: kallejipp/photocase.de

Reckwitz unterscheidet zwischen bürgerlicher, industrieller und Spät- Moderne, genannt wird auch eine Art Postspätmoderne (119). Für unsere Gegenwart interessiert davon die Spätmoderne bzw. der Übergang der industriellen Moderne zu ihr. Der Wandel von Massenproduktion, Massenverkehr und Massenmedien zur Digitalisierung.  Für Reckwitz ist es der Wechsel von einer Logik des Allgemeinen zu einer der Singularisierung.  In einer ganzseitigen Synopse  (118) stellt er die Ausformungen wesentlicher Eigenschaften in den drei Modernen dar. In der Sozialstruktur ist es die Entwicklung vom Gegensatz Bourgeoisie/ Proletariat über die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der industriellen Moderne zu einer Drei- Klassen- Gesellschaft mit besonderer Relevanz einer Neuen Mittelklasse. Letztere wird vor allem in der Kultur einer performativen Selbstentfaltung sichtbar, die eine normierte Angestelltenkultur ablöst. Der Druck zur Normierung hat nachgelassen.
Die Modellierung der Gesellschaft richtet sich bei Reckwitz im wesentlichen nach den Sinus- Milieus, die wohl durchaus nah an der Lebenswelt sind,  in erster Linie aber eine Differenzierung nach Konsumstilen bedeuten.

In seiner Hälfte des Buches bezieht sich Hartmut Rosa v.a auf den institutionellen Steigerungsimperativ, der sich in Beschleunigung, Wachstum, Zwang zu Innovation ausdrückt. Bei den zur Argumentation genutzten Quellen bezieht er sich auf das Konzept des Best Account (166), darunter ist die Heranziehung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen, wie statistische Daten, Interviews, Selbstbeobachtungen, aber auch Gerichtsurteile, Schulbücher, Erzählungen sozialer Bewegungen, Literatur, Kunst, Kino etc., sämtliche Quellen aus denen sich interesseleitende Fragestellungen ergeben, zu verstehen (166).

Es fällt mir aber schwer Rosas Ansatz als Gesellschaftstheorie im  oben genannten Sinne zu verstehen. Der Begriff Resonanz  ist grundsätzlich einleuchtend und überzeugend. Versteht man die moderne Gesellschaft als einen wenig umgrenzten Informationsraum  (vgl. Andreas Boes) ermöglicht Resonanz erst die Herstellung eines Bezuges,  oft in einem geradezu digitalen Sinne (vorhanden/ nicht-vorhanden), im weiteren hat sie eine jeweils eigene Beschaffenheit. Jedes Matching beruht auf einer Resonanz. Dort, wo wir keine Resonanz finden, hält uns nichts länger, wir gehen dort Bindungen ein, wo wir Resonanzen spüren. Etwas funktionaler sprechen wir von Markt- wie von Medienresonanz.   In einer Welt vieler Möglichkeiten bzw. Angebote wählen wir meist solche mit der besten Resonanz.

resonante Welt jenseits der Steigerungslogik? Bild: photocase.de

Das Konzept Resonanz ist bei Rosa allerdings viel weiter gefasst, er nennt es u.a. eine alternative Konzeption des gelingenden Lebens (248), es steht für eine Art energetischer Verbundenheit mit der Welt, der Natur und überwölbt  gefühlte Bedeutungen, oft geht es um Erfüllung – Momente der wahren Empfindung möchte man sagen. ,Resonanzverlangen gilt als zentrale energetische Quelle menschlichen Handelns (246). Aus einem Interview (2017):  Die Resonanzsehnsucht jedoch wird nicht verschwinden und deshalb wird das religiöse Grundbedürfnis bleiben.
Rosa macht immer wieder die Steigerungslogik der Moderne für das Scheitern von Resonanz verantwortlich – Gegenfrage: War die vormoderne Welt resonanter? Sicherlich in der religiösen Überwölbung des Lebens. Darin wurden aber auch Massen von Menschen geknechtet. Bedürfnisse nach Erfüllung, nach Spiritualität  stehen oft im Widerstreit zu Forderungen nach Funktionserfüllung.
Rosas Thesen erinnern oft an Erich Fromm – und passenderweise erhielt er auch 2018 den Preis der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft. Seine hellsichtige Analyse mache die entfremdenden Wirkungen der Beschleunigungsprozesse in der Moderne deutlich. Er stelle die Frage danach, was eine gute Gesellschaft und ein gelingendes Leben ausmacht – und welche Wege aus einer kranken Gesellschaft es gebe  – so steht es im Text zur Preisverleihung. Kritik an Rosas Ansatz kommt oft mit dem Unterton, dass sich Begriffe wie Entschleunigung und Resonanzerfahrung bestens für Angebote der Wellness- Branche eignen, die ein eher finanzkräftiges Klientel ansprechen.

Gesellschaftstheorie gibt Impulse – sie kann Strukturierungen, Tendenzen, Machtverschiebungen deutlich machen – aber nicht alle Aspekte abbilden. V.a. der Ansatz von Reckwitz ist derzeit erfolgreich, bestimmte Umstrukturierungen werden deutlich. Befasst man sich damit, sollte man beide Bücher (Singularitäten; Ende der Illusionen) berücksichtigen. Singularisierung bedeutet nicht unbedingt Individualisierung, man kann sie als Ergebnis digitaler Zuordnung verstehen – digitale Angebote können passgenau als serielle Singularitäten erstellt werden. Der Ansatz von Hartmut Rosa spricht eine bestimmte Zivilisationskritik an, durchaus in der Tradition von Erich Fromm.
Aber auch andere Werke nicht- soziologischer Herkunft haben in den vergangenen Jahren gesellschaftstheoretische Diskussionen mindestens genauso sehr beeinflusst, so etwa Thomas Piketty und auch Maja Göpel. Wahrscheinlich auch Maria Mazzucato, ich habe sie aber noch nicht gelesen.


Andreas Reckwitz & Hartmut Rosa:  Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin 2021, 310 S. – Das Grundbedürfnis nach Religion wird bleiben. Gespräch mit dem Soziologen Hartmut Rosa.In: Herder- Korrespondenz Heft 10/ 2017. – Verleihung des Erich Fromm- Preises 2018 an Hartmut Rosa.

 

 



Krisen und der Zukunftsdiskurs – #Corona #Klima

Ist Corona ausgestanden? Bild: Guido Hoffmann. unsplash.com

Ob Corona im Herbst 2021  ausgestanden ist, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Manches spricht dafür und mit der Impfkampagne  sind die spürbarsten Einschränkungen aus dem Alltag verschwunden.
Gesellschaftliche Folgen bzw. Auswirkungen lassen sich aber resumieren, zumindest  einschätzen – nach gut anderthalb Jahren ist die Zeit dazu, Schlüsse zu ziehen. Übrigens auch auf der subjektiven Ebene der Empfindungen, wie ein Blick in die literarischen Neuerscheinungen in den Auslagen der Buchhandlungen zeigt.

Corona- Erfahrungen – nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seie

Gleich zweimal wurden die Zukunftsannahmen aus den 2017 vorgestellten Szenarien von D 2030 auf ihre Gültigkeit überprüft.  Zu Beginn der Pandemie und im Sommer 2021. Die letzten Auswertungen waren im September abgeschlossen. Grundlegende Fragestellung war Wie weit hat die Pandemie unsere Zukunftserwartungen beeinflusst?
Bei den Befragten zeigt sich ein deutlicher Wunsch nach einer Nachhaltigen Transformation (25) – bzw. der positiven Zukunftserwartung der Neue Horizonte – Szenarien. Im Vergleich zur frühen Phase der Pandemie fielen die Einschätzungen im Sommer 2021 dazu pessimistischer aus. Erlebt wurde oft eine schnelle Rückkehr zu alten Routinen, einer (manchmal) hohen staatlichen Lösungskompetenz steht ein Mangel an Teilhabe gegenüber. Deutlich werden Wertekonflikte zwischen  konträren Positionen, wie etwa Digitalisierungsschub vs. Mangelhafte Digitalisierung; Corona hat Veränderungsfähigkeit gezeigt vs. Corona hat Beharrungstendenzen aufgezeigt (4).
Zu den zentralen Erfahrungen der Pandemie zählt, dass Ereignisse, die  gesellschaftliche Änderungen in großem Maßstab zu Folge haben jederzeit möglich sind. Wer hätte etwa 2019 einen Lockdown für möglich gehalten? Erlebt wurden die Chancen, manchmal auch die Grenzen der Digitalisierung: flexibles, mobiles Arbeiten, Online- Konferenzen, die Mobilität einsparen, der Boom des Online- Handels. Andere Auswirkungen treffen unterschiedlich hart: ein Lockdown im Haus mit Garten wird anders erlebt als in beengten Verhältnissen. Das soziale Leben wurde erschüttert, incl. der damit verbundenen Branchen: Kunst und Kultur in ihren Live- Events, Gastronomie, Tourismus.
Übereinstimmung herrscht in zwei Punkten: 1. Die Klimakrise war zwar zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt, wird aber das beherrschende Thema der PostCoronaZeit sein. 2. Die Veränderung der Arbeitswelt ist durch Corona beschleunigt worden. Hier wird sich eine Neue Normalität einstellen. — Bildung, Klima und Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Partizipation, aber auch Deutschlands geopolitische Rolle werden als vordringliche Themen eines öffentlichen Zukunftsdiskurses genannt.  Soweit ein zusammenfassender Einblick, mehr im Ergebnisdokument CoronaStresstest 2 .

Armin Nassehi war als Mitglied der Leopoldina-Expertengruppe während der Pandemie der wohl medienpräsenteste Soziologe und  äusserte sich in verschiedenen Phasen der Krise dazu, wie Corona unsere Gesellschaft verändert. Seine Positonen standen immer wieder im Gegensatz zu den  Haltungen, die in der Krise die Chance zur Veränderung sehen: «Gesellschaften sind träge, sie ändern sich in und nach Katastrophen nicht grundlegend. Die Routinen werden sehr schnell wiederkommen, wenn diese Krise vorbei oder zumindest leichter beherrschbar ist» meinte er im April 20 in der NZZ – und das trifft seine Haltung ziemlich gut.
In seinem neuen Buch Unbehagen- Theorie der überforderten Gesellschaft (9/21) ist die Pandemie nicht direkt das Thema, sondern neben der Klimakrise – aufs allgemeingültige herausgehoben – Referenzkrise.  Nassehis Blick darauf ist theoriegeleitet, das heisst bei ihm systemtheoretisch.  Der Gegensatz Sachdimension vs Sozialdimension  (vgl. 106-109) zieht sich durch die Argumentationen. Die Sozialdimension erzeugt eine Art Überzeitigkeit des Gemeinsamen,  die Sachdimension eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (123). Sozialdimension beschreibt Gesellschaft als integrierte oder integrierbare Einheit von Kollektiven, ihre Öffentlichkeit als Arena aufeinandertreffender Strömungen. Ordnungsaufbau findet über die Sachdimension statt, dem System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, der Eigendynamik  der Funktionssysteme Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht  und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Funktionssysteme reagieren entsprechend ihrer eigenen Logik.
Nassehis grundlegendes Thema ist die Frage, warum Gesellschaften darin scheitern, wenn sie sich kollektiv verändern wollen. Die Eigendynamiken von technisch aufgerüstetem Wirtschaftssystem, auf Gleichheitsversprechen und Inklusion ausgerichtetem Rechtssystem, flächendeckendem Bildungssystem, das sowohl ungleiche Positionen zuweist als auch Aufstiegschancen moderieren kann, Mediensystem etc. entzieht sich zentraler Koordination (312). In der Gesellschaft bilden sich Handlungsmöglichkeiten daraus.
Krisen unterbrechen den Ablauf des Gewohnten, es gibt für sie keine Routinen. Krisen sind disruptiv, gesellschaftliche Veränderung verläuft aber evolutionär.  Zu erreichen ist sie über die Veränderung von Organisationsroutinen.
Nassehis Buch enthält zahllose Beobachtungen, Beschreibungen und Detailanalysen, und auch einige abschliessende Erfahrungen, die Erkenntnisse in der (Post-) Corona- Diskussion vermitteln, aber es ist sicher nicht lösungsorientiert im Sinne eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Das war aber auch von vornherein klar.

In der ersten Phase der Pandemie beeindruckte v.a. die Akzeptanz und das Tempo der Durchsetzung von Home-Office und digitaler Kommunikation. Home Office setzte den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitätsaufkommens. Die Graphik links zeigt eindrucksvoll den steilen Rückgang im  Frühjahr 2020.  Ein Ereignis gesellschaftlicher (incl. staatlicher) Einhelligkeit. Die späteren Lockdowns im Winterhalbjahr 20/21 bilden sich deutlich schwächer ab – sie pendelten sich     spätestens in der zweiten Hälfte des  Sommers 2021 wieder auf das Niveau der Zeit vor Corona ein. Etwas anders entwickelte sich die Mobilität auf kürzeren Distanzen (<5km) die bis dahin  weniger zurückgegangen war.
Noch deutlicher lässt sich dieselbe Entwicklung  an der nebenstehenden Übersicht zum Verkehr auf Autobahnen sehen: Der markante (disruptive?) Knick im April 20, die leichte Abschwächung zum Jahresende und die Annäherung an die Prä- Covid Ära  bis zum Sommer 2021.
V.a. am Rückgang der Pendlermobilität und den Möglichkeiten der dezentralen Arbeit/Remote Office hatten sich Erwartungen eines mit der Krise beschleunigenden Wandels festgemacht. Entsprechend enttäuschend wird diese Entwicklung wahrgenommen, gesellschaftliche Lernschleifen werden nicht gesehen. Reaktionen auf die Pandemie allein machen keine Transformation, das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer Verkehrswende liegt in der Arbeitsorganisation.

Corona- Krise und Klimakrise werden zwar oft nebeneinander gestellt, unterscheiden sich aber grundlegend. Corona brach plötzlich in eine globalisierte, funktionsteilig organisierte Welt ein und man wusste wenig davon.  Die Sachzusammenhänge der Klimakrise (+ Folgen der Zerstörung von Lebensräumen, wie das Artensterben) sind seit langem bekannt. Die Klimakrise ist menschengemachte Folge gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlich- industriellen Handelns und sie hat dystopisches Potential. Wenn man es so ausdrücken will: Entfesselte Funktionssysteme. Von einem Krisenmanagement ist zu erwarten, sie einzuschränken. Wie, ist die Aufgabe eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Demokratische Gesellschaften  sind nicht zu führen wie Organisationen.

Deutschland 2030+: Corona Stresstest 2 – Ergebnisse.  – Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. 9/ 2021 384 S. –Interview mit Armin Nassehi: Wie verändert Corona unsere Gesellschaft?  12.07.21.  Untere Graphiken aus:  Statistisches Bundesamt: Mobilitätsindikatoren auf Basis von Mobilfunkdaten.  und Bundesanstalt für Strassenwesen: Verkehrsbarometer: Monatliche Entwicklungen des Strassenverkehrs 2020/2021.  Ifo- Institut: Home Office im Verlauf der Corona- Pandemie.   Juli 2021—
Zu den Graphiken: (obere): Veränderung der Mobilität 1/20 bis 9/21 nach Distanz- nach Klick in voller Grösse auf neuer Seite. Quelle: Statistisches Bundesamt; (untere: Monatliche Entwicklungen des Straßenverkehrs auf Bundesfernstraßen und Auswirkungen der Corona-Pandemie. Verkehrsbarometer).



Die Neuerfindung des Unternehmertums (Rez.)

Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution (2021) Themen, die in den Zukunftsdiskussionen eine zentrale Rolle spielen der lange Titel ist bereits eine kurze Inhaltsangabe. Auf das Buch  wurde ich durch einen Livetalk aufmerksam – und es ist das erste aus den Wirtschaftswissenschaften, das ich hier bespreche.
Reinhard Pfriem, emeritierter Prof. der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Oldenburg,   Mitbegründer (1985) des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung,  ist seit langem mit dem Themenfeld befasst – das Buch ist sein Opus Magnus und lässt sich durchaus als Zusammenfassung seines Lebenswerkes lesen. Es  geht um die zukunftsfähige Neuverbindung von Ökonomie und Politik, um unternehmerische Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Gleich zu Beginn knüpft Pfriem an die Great Transformation von Karl Polanyi (21) an – und setzt damit  einen Rahmen. Great Transformation bedeutete letztlich Industrialisierung, Marktwirtschaft und grenzenlose Wachstumsökonomie als gesellschaftliche Organisationsprinzipien. Vor dem Hintergrund ökologischer Risiken und Katastrophen, sozialer Verwerfungen und ökonomischer Krisen stellt sich die Frage nach einer lebenswerten Zukunft,  einem guten Leben für alle, neu.
Pfriem geht es um eine Transformation vergleichbaren  Ausmasses, bei der ausgerechnet Unternehmen als wichtigste Organisationskörper moderner kapitalistischer Gesellschaften (21) eine besondere Rolle zukommt. Vom Unternehmertum gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen, klassisch ist die des mittelständischen Eigentümers, neuerdings auch die der oft wie Popstars gefeierten Entrepreneure. Pfriem hält sich wenig mit diesen Ausformungen auf, er fasst zehn Merkmale und Wissensdimensionen transformativer Unternehmen  (281 ff) zusammen.
Übergreifendes Postulat ist Enabling, das Möglichmachen – die Gestaltung von Gesellschaft durch unternehmerisches Handeln.  Bereits vor einigen Jahren hatte Pfriem den Begriff der Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft in die Welt gesetzt. In diesem Kontext sind Transformative Unternehmen Akteure des Wandels, einer Systemwende zu gemeinschaftsorientierten Formen des Wirtschaftens.   Das Teilsystem Wirtschaft ist dominant. Eine derart von ökonomischen Kalkülen bestimmte Gesellschaft ist nur transformierbar, wenn die Ökonomie transformiert wird.
Die einzelnen Themenfelder werden in 15 übersichtlich angelegten Kapiteln behandelt. Es geht um transformative Unternehmen, Nachhaltigkeit, solidarische Ökonomie, radikale Demokratie, bis zum Entwurf einer  Neuausrichtung der Wirtschaftswissenshcaften und als Ziellinie die Bausteine einer zukunftsfähigen Politik (415 ff). Darunter finden sich so oft diskutierte Themen wie  Mobilitäts, – Energie-  und Ernährungswende und ein Kurswechsel auf soziale Gerechtigkeit.

Zentral ist die Kritik an den aktuellen Wirtschaftswissenschaften, an ihrer  Herauslösung aus gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere einer Mathematisierung der BWL. Pfriem bezeichnet die BWL, immerhin sein eigenes Fach,  als implizite Rechtfertigungswissenschaft kapitalistischer Marktwirtschaften (128). Gegenentwurf ist eine Transformative Wirtschaftswissenschaft (369 ff), die den bestehenden Mainstream der Wirtschaftswissenschaften, der auf subjektunabhängige Objektivität, Identifikation von Gesetzmässigkeiten und Messbarkeit/Quantifizierbarkeit zielt (370; vgl. Pfriem 2000), ablöst, zumindest ergänzt: Eine Handlungswissenschaft, die Beiträge zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leistet, Zukunft für die Menschen zu einem erstrebenswerten Projekt macht.   

Genau wie die zeitgenössische BWL steht  auch die aktuelle Soziologie, der er eine Ökonomievergessenheit attestiert, in der Kritik. Im Kapitel Gesellschaftstheoretische Sackgassen werden soziologische Autoren der letzten Jahre, das waren v.a. Hartmut Rosa mit dem Konzept der Resonanz  und Andreas Reckwitz mit der Gesellschaft der Singularitäten, auf ihr Potential abgeklopft. Beide Bücher hatte ich hier im Blog rezensiert (Rez. Rosa; Rez. Reckwitz).  So sinnvoll und eingängig das Konzept Resonanz grundsätzlich erscheint, so wenig überzeugt es als Grundlage einer Gesellschafttstheorie. Reckwitz stellt den im Konsum differenzierten singularistischen Lebensstil der Neuen Mittelschichten in den Vordergrund – Pfriem nennt es eine  Engführung – und vernachlässigt gesellschaftliche Ungleichheiten.  Allenfalls in später veröffentlichten Aufsätzen relativiert er eine an Konsumstilen ausgerichtete gesellschaftliche Schichtung.  Nebenbei: unter dem Titel Spätmoderne in der Krise: Was leistet die Gesellschaftstheorie? erscheint im Oktober ein von beiden Autoren gemeinsam verfasstes Buch, dazu hier dann mehr.
Weiteres Feld der Auseinandersetzung ist Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007), dem er einen sehr einseitigen Blick auf das Unternehmertum – allein ausgerichtet auf Markterfolg – vorhält. 

Polanyi ist epochaler Bezugsrahmen,  die Analysen von Thomas Piketty zu Ungleichheit und der Vertiefung der Spaltung zwischen arm und reich werden herangezogen. Auf Schumpeter geht der Blick auf die Rolle des Unternehmers incl. der Erkenntnis, dass unternehmerischer Erfolg und gesellschaftliches Wohlergehen auseinander treten können, zurück. Mit deutlicher Sympathie  verweist Pfriem auf Frithjof Bergmanns Neue Arbeit, Neue Kultur: die wunderbare Formulierung “was sie wirklich, wirklich wollen” (57). Etwas wundert mich, dass die in den letzten Jahren oft  diskutierten Arbeiten von Maja Goepel,  die sich ebenso mit einer Transformativen Ökonomie befassen, nirgends  erwähnt werden.

Die Neuerfindung  des Unternehmertums ist ein programmatisches, oft erstaunlich radikal- utopisch, nicht durchgehend analytisch gehaltenes Buch – der Autor nennt es selber eher wissenschaftlich gehalten. Er setzt sich mit bestehenden Wissenschafts- bzw. Gedankengebäuden auseinander um einer Handlungswissenschaft zur Gestaltbarkeit von Zukunft den Weg zu bereiten. Weitere Umsetzung ist stark von einer Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft (444) bestimmt.  Und manches scheint, dass jetzt der Zeitpunkt dazu ist.
481 Seiten sind per se eine Menge Material, die wahrscheinlich selten in einem Durchgang gelesen werden. Man kann das Buch als ein Compendium, eine Art Handbuch zu einer Transformativen Wirtschaftswissenschaft sehen und nutzen. Ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden der  Themenstränge, macht sie den laufenden Zukunftsdiskussionen zugänglich.

Zum Schluss der Gedanke der  Co- Evolution von Wissenschaft und Gesellschaft (könnte man das etwa Scientogenese nennen?), der ganz sicher an das Konzept Technogenese erinnert.  In den Gesellschaftswissenschaften lassen sich immer Phasen und Epochen finden, in denen  Forschungsfragen einmal eingefahrenen Mustern folgen. Hier ist ein Werk, das neue Wege beschreite will – dem kann man zustimmen bzw. sich damit auseinandersetzen.

Den Titel  des Einbands ziert übrigens ein Werk von Otto Freundlich (1878-1943), ein zu unrecht weniger bekannter Pionier abstrakter Malerei, der wie so viele andere von den Nazis ermordet wurde.

Reinhard Pfriem: Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution – 2021. 481 S.  Metropolis Verlag, 38 € –  Livestream- Interview mit Reinhard Pfriem  vom 28.07.2021



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