Qualitative Online-Forschung – Zuhören statt fragen

Mit der Nutzungsevolution zum Social Web steigt das Interesse an qualitativen Online-Methoden. Qualitative Forschung zieht ihre Erkenntnisse aus der Analyse von Einzelfällen, sie geht zumeist induktiv vor, d.h der Forscher „hört  zu“ – er bezieht Erkenntnisse und entwickelt Theorie aus den Einblicken, die das vorhandene Material gewährt. Zuhören listening heißt oft das Schlagwort und klingt wunderbar partizipativ, passend zur Forderung nach Kommunikation auf Augenhöhe im Social Web.

Quantitative Online-Forschung zählt zu den Erfolgsgeschichten des Internets im vergangenen Jahrzehnt: von einer Innovation zum Branchenstandard innerhalb weniger Jahre. Möglich war dies einerseits durch die rasante Entwicklung des Internets, die die anfangs entscheidende Frage der Repräsentativität in den Hintergrund drängte – andererseits durch das enorme Rationalisierungspotential  bei hohen Fallzahlen: Druck-, Versand- bzw. Interviewerkosten entfallen, die Daten können ohne Medienbruch in Analyseprogramme wie SPSS weitergeleitet und ausgewertet werden.
Aktuelle Softwarelösungen und spezialisierte Dienstleister bieten heute einen optimierten Workflow von der Erstellung der Fragebögen über die Auswahl  passender Stichproben bis zur Auswertung. Im wesentlichen wird das Internet als Medium genutzt, in das die entwickelten Methoden der empirischen Forschung übertragen und angepasst wurden.

In der qualitativen Forschung gibt es wenig Rationalisierungsvorteile. Die gängigen Formen qualitativer Forschung, narrative und Tiefen- Interviews, Gruppendiskussionen, Diaries, ethnographische Beobachtung, erfordern einen direkten Kontakt zum Probanden.
Zu unterscheiden ist die Nutzung von Online-Methoden als Medium zur Anpassung bereits entwickelter Methoden im Forschungsprozess an die digitale Umgebung – oder aber die Forschung im Internet als einem sozialen Raum, in dem u.a. Meinungsbildung und (Kauf-) entscheidungen stattfinden.
Online bedeutet oft einfach einen Convenience-Faktor: Probanden können orts- und zeitunabhängig befragt werden, so bei der Rekrutierung schwer erreichbarer Zielpersonen. Online-Gruppendiskussionen bzw. moderierte Chats haben sich erst spät mit der weitgehenden Gewöhnung an online-Medien verbreitet. Ein Instrument, dass die (online) Möglichkeiten innovativ nutzt, sind Online-Tagebücher/Diaries, das auch den Einsatz audiovisueller Medien umfassen kann.

MROCs – Market Research Online Communities sind in der Regel geschlossene, gated Communities, entweder von Forschungsdienstleistern oder Unternehmen selber betrieben. Softwareanbieter treten verstärkt mit entsprechender  Community-Software auf  den Markt. Als Panel-Communities setzen sie auf den in Online-Panels vorhandenen Pools von Probanden mit  allen wichtigen soziodemographischen Daten auf. Ebenso können sie sich aus Kunden und anderweitig rekrutierten Interessenten zusammensetzen. MROCs bieten einen Rahmen, in dem die oben genannten Methoden angewandt werden können, sie sind ein kontollierbarer Raum in dem Unternehmen und Organisationen Feedback als Kritik und Anregung erhalten, in einer entwickelteren Form auch Co-Creating. Grundsätzlich finden alle Formen gemanageter  Communities ihre Grenze in der Teilnahmebereitschaft ihrer Mitglieder. Entweder besteht eine hohe  Motivation sich zu beteiligen, etwa wegen einer besonderen Bindung oder einem besonderem thematischen Interesse – oder/und sie müssen in irgendeiner Form incentiviert werden.

Netnographie steht in diesem Zusammenhang für die qualitative Forschung im natural setting. Manch einen mag diese Bezeichnung bei online-Verfahren aufstossen – es geht darum, dass es sich eben nicht um eine für Forschungszwecke bereitgestellte Umgebung handelt. Ähnlich wie Socia Media Monitoring ist Netnographie eine beobachtende Methode – Quantitäten spielen aber geringere Rolle.
Zum Thema Netnographie gibt es auf dieser Website bereits eine ganze Reihe von Texten – und es werden weitere folgen, so zu Praxisanwendungen.

mehr zu qualitativen Online-Methoden gibt es im Handbuch Qualitative Online-Marktforschung von Elke Theobald und Lisa Neundorfer, eine Rezension dazu auf dieser Website.

Netnocamp revisited






Am 17.09. fand im Rahmen der Internetwoche Köln das Netnocamp als erstes Barcamp zu Netnographie und Web-Monitoring statt

„…eine international besetzte offene Tagung zum Thema qualitative Forschung im Social Web“ – so beschreibt die IHK Köln in Ihrem Newsletter das Netnocamp. Mit einer solchen Einschätzung kann man gut leben. Etwa 65 Teilnehmer hatten sich im Merkenssaal der IHK Köln eingefunden: (qualitative) Markt-und Sozialforscher, Kommunikationsberater, Studenten, Gründer, Soziologen, Social Web- Aktivisten. „No spectators, only participants“ – dieser Grundsatz von Barcamps traf zu: Es war eine sehr offene, konzentrierte und diskussionsfreudige Tagung, wenn auch die Anzahl der eingereichten Beiträge begrenzt blieb. Die internationale Besetzung stellte Prof. Rob Kozinets, Kulturanthropologe und Marketer aus Toronto, der zu einer Keynote per Livestream zugeschaltet wurde. Als Veranstalter des Netnocamp war es uns eine wesentliche Intention, das qualitative Konzept der Netnographie stärker in der Social Media Research zu verankern.

Netnocamp: Barcamp in gediegenen Räumen

Web– bzw. Social Media Monitoring erlebt derzeit einen Hype. Neue Softwarelösungen und neue Dienstleister streben fortlaufend auf den Markt. Monitoring ist eine Methode der Datenerhebung und bezeichnet die systematische, softwaregestützte, zumeist automatisierte Beobachtung und Analyse der öffentlichen digitalen Kommunikation. Die Hintergründe sind bekannt: Die zunehmende Nutzung von Social Web Funktionen hat die Reichweite und damit den Wert des Word of Mouse erhöht (kein Schreibfehler, sondern ein Wortspiel: die Verbreitung über die Computer-Mouse). Der gegenseitige Austausch von Informationen, Meinungen, Eindrücken und Erfahrungen hat einen entsprechend wachsenden Einfluß auf alle Stakeholder und ihre Einstellungen und Entscheidungen. Vom Ursprung her ein Werkzeug des Kommunikations-Controlling weiten sich die Anwendungsbereiche des Web-Monitoring in der Marktforschung aus. Die automatisierte Analyse findet v.a. bei der Einschätzung von Stimmungen (sog. Tonalitäts- oder Sentiment Analyse) ihre Grenzen.

Netnographie hat eine bereits etwas längere Geschichte (seit den 90er Jahren) und beruht auf der Übertragung ethnographischer Forschungsmethoden auf das Internet. Forschungsgegenstand von Netnographie kann sowohl eine spezielle Online Community als auch ein vorab definiertes Thema sein. Ausgangspunkt waren in den 90er Jahren (Online-) Fan-Communities, wie etwa zu Star Trek, zu Soaps und zur neuen Kaffeekultur – Themenfelder mit einer deutlichen Nähe zu den Cultural Studies. Dabei spielen auch Formen der Vergemeinschaftung über Popkultur und Konsum eine Rolle (vgl. Consumer Tribes). In der Folge wurde der Forschungsansatz weiterentwickelt und präzisiert (s. Rev. zu Netnography.Doing Ethnographic Research online/pdf). Grundsätzlich ist Netnographie ein qualitativer und explorativer Ansatz, zentral ist teilnehmende oder auch nicht-teilnehmende Beobachtung, eine Vielzahl weiterer Methoden kann einbezogen werden. Die internationale Diskussion dazu kann z.B. auf netnography.com verfolgt werden. Netnographie ist keineswegs ein auf die Marktforschung beschränkter Ansatz, Beispiele im nicht-kommerziellen Feld sind zahlreich.

Gemeinsam ist beiden Forschungskonzepten, dass sie im Internet forschen, im Gegensatz zur (mittlerweile) klassischen Online-Forschung, die lediglich die neuen Möglichkeiten des Internets als (Übertragungs-) Medium nutzt, in das die bereits entwickelten Methoden der empirischen Forschung übertragen werden. In der Praxis nähern sich beide Konzepte oft einander an: Netnographie nutzt Monitoring-Software zum Auffinden des geeigneten Zugangs, Monitoring-Anbieter begnügen sich nicht mit rein quantitativen Resultaten.

Zwar waren einige angekündigte Beiträge kurzfristig ausgefallen (darunter zu Online Fashion-Communities), doch tat dies der Diskussionsfreude und der thematischen Bandbreite keinen Abbruch. Der Eingangsvortrag von Klaus Janowitz (s.u.) zeichnete den thematischen Rahmen des Netnocamp, Grundlagen und Methoden von Netnographie vor. Im Anschluß daran berichtete Steffen Hück (Hyve AG, München) aus der Forschungspraxis zur Produktentwicklung. Die folgende Diskussion rankte sich v.a. um das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Analyse. Dabei nimmt Netnographie die qualitative, Web-Monitoring die quantitative Rolle ein. Steffen fasste Netnographie als Methode und Prozess – Web-Monitoring als Werkzeug und Technologie zusammen.

Zuschaltung aus Toronto: Robert Kozinets – “the Godfather of Netnography” – Stefanie Assmann (social-media-monitoring.blogspot)

In der live-zugeschalteten Keynote ging Rob Kozinets auf den aktuellen Stand von Netnographie ein, und beantwortete im Anschluß Fragen von Teilnehmern dazu. Stefanie Assmann, Absolventin der Informationswissenschaften aus Darmstadt stellte eine Vergleichsstudie verschiedener Social Media Monitoring Tools vor, mit einigen überraschenden Ergebnissen. Ihre Arbeit ist bei Scribd gegen Anmeldung erhältlich. Thilo Trump (Result, Köln) präsentierte eine Studie zu Twitter, dabei werden Nutzer entsprechend ihres Verhaltens und ihrer Ambition in neun Kategorien zusammengefasst, die sehr gut beschrieben werden – die komplette Studie ist bei Result als pay with a tweet erhältlich. Im Vortrag von Frank Sanders ging es um Reputationsanalysen aus der Kommunikation im Social Web – eine Anwendung für die PR. Eine Aufzeichnung ist bei vimeo zu sehen.

Veranstaltet wurde das Netnocamp von Wolfgang Drews (Wirtschaftsinformatiker, Universität Trier), Steffen Hück (Hyve AG, München) und Klaus Janowitz (Soziologe, Köln). Von der Idee bis zum Termin des Netnocamp vergingen nur drei Monate. Das zeigt zum einen eine sehr gute Zusammenarbeit der Organisatoren – zum anderen ein grosses Interesse, das der Idee Netnocamp von Beginn an entgegenkam. Die Internetwoche Köln bot den passenden Rahmen, die IHK Köln etwas ungewohnte, aber sehr schöne Räumlichkeiten. Bei allen Beteiligten möchten wir uns nochmals herzlich für Unterstützung und Interesse bedanken. Netnographie und Web-Monitoring sind Forschungsfelder in Bewegung mit einem großen Potential. Eine Weiterführung der Diskussionen und der Ideen ist wünschenswert. Eine Fortsetzung des Netnocamp im nächsten Jahr ist gut vorstellbar. Der Rahmen der Internetwoche Köln wäre wiederum die erste Wahl.

Weitere Berichte zum Netnocamp finden sich bei marktforschung.de von Holger Geissler, bei Planung & Analyse von Steffen Hück, sowie in den Blogs von Stefanie Assmann und von Tim Krischak.

Der Eingangsvortrag zeichnete die thematische Bandbreite des Netnocamp, die Grundlagen und Methoden von Netnographie vor.

Netnocamp englishsame presentation in English

Steffen Hück (Hyve AG, München) berichtete u.a. aus dem praktischen Einsatz von Netnographie bei der Produktentwicklung

Bilder: eigene, Bild in der Kopfzeile: photocase.com
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