Neue Soziale Dynamik im Common Meeting Ground

Die Acht Szenarien

Noch einmal ein Einstieg mit Postcorona – Szenarien: Kürzlich wurden die aktualisierten Ergebnisse vom  ScMI (zum direkten download auf der Seite der ScMI; vgl. auch die Landkarte der Zukunft) vorgestellt. Ganz aktuell ist der Stand nicht, die Ergebnisse beruhen auf den Daten von 11/2020. Die Ergebnisse von 4/2020 hatte ich im letzten Frühjahr gemeinsam mit einigen anderen Modellen und Sichtweisen (D2030, Zukunftsinstitut) in einem längeren Blogbeitrag vorgestellt. Vor ein paar Wochen dann ein Beitrag zur Diskussion darüber, ob die Perspektive Neuer Horizonte mehr verbreiteten Wunschvorstellungen entspricht – und ob nicht eine schnelle Restauration des Alten Normal wahrscheinlicher ist.
Szenarien sind  »Denkwerkzeuge«, denen keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet sind. Sie sollen uns ermutigen, bisher wenig genutzte Denkpfade zu beschreiten. Und zwar nicht nur unmittelbar nach der Corona-Pandemie, sondern auch in den Jahren danach. Um nicht nur das Denken, sondern auch das anschließende Handeln zu unterstützen, stellen sich weitergehende Fragen: Wie viel Veränderung ist von heute aus gesehen – mit einem Szenario verbunden? (52)

Erwartete Zukunft 2030 – Stand Nov. 20

Dass ein Szenario Neue globale Dynamik, das Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Dynamik miteinander verbindet, als wünschenswert gilt, liegt nahe. Was macht es aber realistisch?  Hintergrund sind Zukunftsaussagen mit hohen Erwartungswerten, etwa eine deutlich flexibler organisiertes Arbeitsleben und die weiter zunehmende Bedeutung der Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit (58,59). Im weiteren, ein Vertrauen darauf, dass sich die deutsche und europäische Wirtschaft in ihrer Struktur erneuern. Wer sich von dieser Perspektive überzeugen lassen will, lese die Seiten 30/31 – zudem ist das Szenario mit guter Laune verbunden: Herausforderungen werden mit Offenheit und Neugier begegnet – Freude an Innovationen dominiert.
Ein derart positives Szenario setzt einen  gewachsenen Konsens voraus:   Die 2020er-Post-Corona-Dekade wird von struktureller Veränderung geprägt sein, die wir zu einem großen Teil selbst beeinflussen können (74).  Andere Szenarien der Veränderung sind weniger attraktiv, wie (6) In Corporate Hands, in dem globale Unternehmen immer mehr Lebensbereiche dominieren. Oder der  (3) Abschied von Gewohntem mit De-Globalisierung und Konsumverzicht. Zukunft ist auch das Ergebnis von gesellschaftlicher Auseinandersetzung.

In den letzten Wochen wurde deutlich, dass gegenüber dem ersten Jahr der Pandemie das Vertrauen in die Politik der Regierung nachgelassen hat. Vor einem Jahr wurde diese Politik als alternativlos akzeptiert, Fundamentalkritik sammelte sich am rechten Rand. Kritik heute hat eine ganz andere Basis. Ein Jahr Pandemie mit intensivster Berichterstattung und Diskussionen dazu brachten einen verbreitet hohen Informationsstand mit sich. Massnahmen werden an Möglichkeiten gemessen, das gilt nicht nur für den Verzug beim Impfen, ebenso an einer mangelnden Nutzung digitaler Möglichkeiten, der  Kombination von Öffnungen mit Tests und Rückverfolgungs – Apps  (z.B. recover), dazu die Reihe von Skandalen persönlicher Bereicherung.
Andere sehen Kritik als bedenklich. So spricht der Content- Strategieberater Mirko Lange** eindringlich von der Gefahr, dass alles, was aktuell das Vertrauen in die Bundesregierung (weiter) untergräbt, es nur noch schlimmer macht**. Und es sind auffallend viele Stimmen, die Kritik einer unbestimmten Menge – den Leuten, manchmal scheint eine Art pöbelnder, zivilisationsferner Masse gemeint, zuweisen. Wirtschaftsblogger Gunnar Sohn sieht hier die Tendenz in Wortwahl und Habitus eine vermeintlich richtige Gesinnung zum Ausdruck zu bringen.
Was ist schlecht daran, wenn die Zustimmung zu einer Regierung in der Gesellschaft nachlässt? Eine ganz normale gesellschaftliche Entwicklung und die Eröffnung eines Diskurses für die  Zeit danach.

Jede (demokratische) Gesellschaft braucht einen Common Meeting Ground gemeinschaftlich als wichtig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, was in ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf – so schrieb 2008 der 2015 verstorbene Schweizer Soziologe Kurt Imhof. Dafür ist die Zeit. Und es gehört vieles in einen übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs und muss verhandelt werden. So viele sind in ihrer Existenz getroffen, so viel wird in der Krise deutlich.

Gut 20 Jahre liegen die Reformen der Ära Schröder zurück. Mit reichlich  Hintergrundmusik von  Selbstverantwortung, Flexibilisierung  und weniger Staat. Herausgekommen sind u.a. Hartz 4, und immerhin ein eher halbherziger Rahmen für Solo- Selbständigkeit. Manches wurde überdeckt durch den  rapiden digitalen Wandel, und einen langanhaltenden Wirtschaftsboom, der immer wieder Nischen bot – und mittlerweile ganz andere Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation.  Eine neue globale Dynamik braucht auch eine neue soziale Dynamik – sie fällt nicht in den Schoss, sie braucht eine Gesellschaft, die sie anstrebt.

 ScMi (Scenario Management International, Paderborn)  Download Post- Corona Szenarien. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik im Jahre 2030.  Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89)  **Mirko Lange auf Facebook:  Gunnar Sohn: Im Einzelfall-Empirismus “die Leute”​ abkanzeln. LinkedIn 24.03.21    



Post Covid – Neue Horizonte oder Goldene Zwanziger?

Ein Jahr Corona- Krise, das heisst auch ein Jahr Zukunftsdiskussion mit (unbestimmter) Terminierung: Das Thema Post Covid spielt immer im Hintergrund und mischt sich mit den schon länger geführten Zukunftsdiskussionen.
Im Laufe der  Corona- Krise wurde Zukunft zum Buzzword. Ganz sicher bedeutet die Pandemie einen Einschnitt, der die Zeit in vor oder nach Corona trennt. Wirklich abzuschätzen sind die Folgen noch längst nicht, wirtschaftlich sind sie sehr ungleich verteilt – gesellschaftlich sind Corona und Lockdown aber auch kollektive Erfahrungen. Ein Neustart/Wandel sollte demnach einem neu ausgehandelten Konsens entsprechen.
Weit verbreitete Erwartung ist ein Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft, mit einer Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Dagegen stehen Auffassungen, die man in etwa mit einer Macht der Muster zusammenfassen kann. Die Beharrungskräfte einmal eingespielter, dominierender Muster bleiben – und der damit verbundene Lebensstil behält für viele seine Attraktivität. Nicht immer ist es eine Gegenposition, oft Skepsis gegenüber einer allzu zwangsläufig erscheinenden Entwicklung. Und es gibt  starke Positionen, denen v.a. daran liegt, Wirtschaft und Konsum so wie sie waren schnellstmöglich  wiederherzustellen. Frage ist, inwieweit die Corona- Krise tatsächlich einen Anstoss zum Strukturwandel gibt.

erwartete Veränderungen nach Corona: 73% erwarten Neue Horizonte; 4/2020 – Graphiken erscheinen nach Klick in neuem Fesnster

Neue Horizonte und Goldene Zwanziger sind bildhafte Bezeichnungen für Szenarien beiderseits der Scheidelinie von “traditioneller” und “transformierter Wirtschaft“, vgl. rechts auf der Landkarte der Zukunft (nach ScMI*). Goldene Zwanziger knüpft als Wortspiel an die Dekade vor 100 Jahren an. Neue Horizonte ist eines der vier Szenarien zu 2030 (vgl. hier), und passt m. E. besser als  “Neue globale Dynamik” zu einer  Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. In einer Aktualisierung im Frühjahr 2020 stimmten fast drei Viertel der in einem „Corona-Stresstest“ befragten Experten damit überein (vgl. hier).
Ähnlich  äusserte sich das Wien/Frankfurter Zukunftsinstitut und sprach von gesellschaftlichen Tiefenströmungen in Richtung Postwachstum, Wir-Kultur, Glokalisierung und Post-Individualisierung. Trends die bereits vor der Krise existierten, würden durch die kollektive Corona-Erfahrung von der Nische in den Mainstream katapultiert. Mehr oder weniger finden sich ähnliche Haltungen und Erwartungen in zahllosen Zukunftsdiskussionen.

Szenarien sind keine eindeutigen Beschreibungen, sondern machen mögliche Zukünfte sichtbar. »Denk-Werkzeuge«, die mögliche Zukunftsverläufe aufzeigen, so die Szenario- Spezialisten des  ScMI*. Big Pictures  von dem, was wir erwarten können, und sie sollen in sich widerspruchsfrei sein.
Goldene Zwanziger/Roaring Twenties ist eine schöne Metapher, knüpft an die kulturell attraktive Vorstellung einer Dekade, die zwischen den Katastrophen des 20. Jh. für einen kurzen Aufbruch stand und dabei Klassiker der Moderne (wie das Bauhaus) schuf. Aber gibt es mehr an Parallele als die Dekadenfolge? Die Katastrophe des 1. WK, die den 1920ern vorausging war ganz anderer Dimension, auch die damalige Spanische Grippe  lässt sich nur sehr bedingt mit Corona vergleichen. Als Szenario bedeutet Goldene Zwanziger einfach die möglichst schnelle und ungebrochene Rückkehr zum alten Normal incl. Mobilität und Konsum.
Die heutige Krise traf eine globalisierte Welt und ist seitdem durch die weitreichenden Folgen ihrer Eindämmung geprägt.  Sie wird oft mit einer Krise von Leitmodellen, die seit 30 Jahren mehr oder weniger dominieren, verbunden: Ein Unbehagen an der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, dem Vorrang des ökonomischen Erfolges in einer individualisierten Gesellschaft (vgl. Reckwitz, Das Ende der Illusionen, 2019). Sind die  Neuen Horizonte ein realistisches Ziel, Wunschvorstellung oder doch ein zu verfolgendes Leitbild, das sich eben immer nur in Teilen und Schüben umsetzt? Die Unterschiede zwischen den Szenarien sind letztlich graduell. Eine Rhetorik mit Werten der Nachhaltigkeit und Diversität ist weit verbreitet.
Gunnar Sohn, Live- Streamer zu Wirtschaftsthemen, zieht mittlerweile andere  Schlüsse und hat eine Diskussion dazu angeregt – selber hält er mittlerweile die Restauration des Vorhergehenden für wahrscheinlicher.

Anteil Home Office 20/21 Abb: Statista nach Hans-Böckler-Stiftung;  – nach Klick in neuem Fenster
Mobilitätsveränderung 2020 durch Corona. Abb.: Statista nach Statist. Bundesamt

Was wird von Veränderungen bleiben, die in der  Krise angestossen wurden? Home Office setzt den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitäts-aufkommens. Aber zunächst ist es Ersatz. Das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Die Möglichkeiten dezentraler Arbeit – Remote Office – werden nur angedeutet. Mittlerweile (2. Hälfte Febr.) unterscheidet sich das  Mobilitätsaufkommen nur wenig von der Zeit vor Corona.

Mobilitätswende ist eines der Kernstücke Neuer Horizonte. Die Wende vom Verbrenner- zum Elektromotor ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber bedeutet der Austausch des Antriebs bereits einen Neuen Horizont? Die Energiequelle verschiebt sich, der Raumbedarf von fahrendem und ruhendem Verkehr bleibt derselbe. Tesla ist der neue Benz – ein Statussymbol. Fahrradverkehr, auf der Nahstrecke unschlagbar, wird immer noch benachteiligt. Öffentliche Verkehrsmittel stehen während der Pandemie auf der Verliererseite, sind auf Dauer aber unverzichtbar. Gefragt sind intelligente Mobilitätskonzepte, die ein Leben ohne Auto attraktiv machen.
Einige Branchen standen im Laufe der Krise unter Beschuss: Massentierhaltung und Fleischindustrie sind seit langem aus ethischen, ökologischen und vielen anderen Gründe in der Kritik. Es ist eine Schlüsselbranche mit weitreichenden Verkettungen, zunehmend exportorientiert. Abgenommen hat der Fleischkonsum nur minimal, aber  dass sich scheinbar eingefleischte Konsumgewohnheiten langfristig ändern können, zeigt etwa der Rückgang des Bierumsatzes um ein Drittel von 1993 bis heute.
Tourismus findet derzeit nur eingeschränkt statt. Kreuzfahrtschiffe und Après- Ski im Wintertourismus waren zeitweise Spreading Events und sind seitdem komplett ausgefallen. Manches spricht dafür, dass sich die Attraktivität touristischer Formate verschiebt. Fernreisen sind und bleiben aber als grosse Erlebnisse eine attraktive Verlockung, ob arrangiert oder selbst organisiert. Der Tourismus, manchmal  Overtourismus, der Jahre vor Corona war bereits das Golden Age of Budget Tourism, auch dank der oft sehr einfachen digitalen Möglichkeiten von Planung und Buchung. Ganz sicher gibt es Nachholbedarf – ebenso wie bei den ganz elementaren Dingen des öffentlichen Lebens: Begegnung, Kultur, Gastronomie, Nachtleben, Sport. Nur menschlich. Tourismus bleibt eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen, entfernt sich aber immer mehr von der klassischen 2-3 Wochen Buchung, vermischt sich weiter mit dem Lebensstil und kann mit Remote- Arbeit Teil einer neuen Arbeitswelt sein.

Eine der kulturellen Formen von Digitalität ist Gemeinschaftlichkeit, s. Stalder: Kultur der Digitalität

Direkte Auswirkungen im Sinne Neuer Horizonte scheinen begrenzt zu sein. Bleiben die längerfristigen, die auf sich ändernden Haltungen beruhen.  Vieles wird sich zeigen, wenn sichtbar wird, wie sehr Kultur, Gastronomie und die bestehenden Nischen der Solo- Selbständigen geschädigt sind. Gerade diese Bereiche sind eng mit urbanen, gesellschaftlichen Infrastrukturen verbunden. Viele werden gezwungen sein, sich neu zu strukturieren.
Zu den Möglichkeiten einer Kultur der Digitalität zählen  Formen von Gemeinschaftlichkeit, wie sie in  Konzepten von Community of Practice deutlich werden:  informeller, aber strukturierter Austausch, gerichtet auf neue Wissens- und Handlungsmöglichkeiten (vgl. Stalder 129 – 164). Entsprechend intelligenter, ressourcenschonender Lösungen vernetzter Mobilität, ein Modell von Sozialität und Arbeit. Neue Horizonte sind untrennbar von digitalen Innovationen.  Sie sind keine Selbstläufer, sie bedürfen Einsatz, sie müssen  gelebt,  politisch und diskursiv weitergetrieben werden. Die grossen Systeme entwickeln ihre Sachzwänge, die sich weitreichend auswirken. Technologie ist nicht allein fortschrittstreibend, aber Werkzeug  zur Umsetzung von  Perspektiven.

Schliessen möchte ich mit dem (schon mehrfach zitierten) Satz von Harald Welzer “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”.

Der Link zur Diskussion:  Goldene Zwanziger oder Neue Horizonte?

Vgl.: Post- Corona – Szenarien für die Zeit danachCorona-Stresstest-Pressemitteilung.pdf Ökonom Schulmeister: “Das Schlimmste kommt erst“. Wiener Zeitung , 25.02.21 . *ScMI: Post Corona Szenarien. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, edition suhrkamp 2679, 2016; Rezension *ScMI = Scenario Management International, Paderborn



Neues Wirtschaftswunder 2.0?

Remember the Wirtschaftswunder, Bild: HerrSpecht / photocase.de

Das Wirtschaftswunder der 50er Jahre ist wohl immer noch der Gründungsmythos der Bundesrepublik. So scheint es ganz selbstverständlich, dass in der Coronakrise an diese Erzählung angeknüpft wird – gleich mehrfach.
Ausgangspunkt zahlreicher Initiativen war der Hackathon #WirVsVirus im März (20.-22.). Insgesamt sind (nach Angaben des Bundespresseamtes) 147 Projekte daraus hervorgegangen, die in den letzten sechs Monaten Lösungen für Probleme im Zuge der Pandemie entwickelt und getestet haben. Darunter das Antirassismus-Projekt Ichbinkeinvirus.org und die Ursprünge der Contact-Tracing App.

Neues Wirtschaftswunder für eine sozial- ökologische Transformation

Ebenso die Initiative Neues Wirtschaftswunder– für eine sozial-ökologische Transformation. Ausgangslage ist der tiefgreifende Einschnitt, den Covid-19 für fast alle Lebensbereiche bedeutet – und die folgenden Entscheidungen zu umfangreichen Konjunkturpaketen. Hier geht es um die konsequente Ausrichtung dieser Konjunkturpakete an sozial-ökologischen Leitlinien.  Investitionsvorschläge für ein sozial- ökologisches Wirtschaftswunder werden im Maßnahmenkatalog Für ein nachhaltiges Konjunkturpaket, JETZT! vorgelegt. Der Einschnitt durch Corona bietet die historische Gelegenheit, Wirtschaft und Gesellschaft sozial und ökologisch zu transformieren – vor allem, wenn gesamtgesellschaftlich aus einem Konsens gehandelt wird : Ein neues Wirtschaftswunder ist möglich, wenn wir bewusst und entschlossen neue Wege gehen. Schritt für Schritt. Nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit unseres Landes steht auf dem Spiel!. 
Erstunterzeichner sind v.a. Unternehmen und Organisationen aus dem sozialökologischen Umfeld, darunter die GLS Bank, u.a. auch die Zukunftsinitiative D2030. Inwieweit von D2030 entwickelte Szenarios, wie Neue Horizonte, Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl  dabei als Leitbild dienen (vgl. Post- Corona – Szenarien für die Zeit danach) wird nicht explizit genannt.   

In einem Gastkommentar im Handelsblatt (25.05.) schrieb Thomas Sattelberger (vgl. Neuausrichtung der Gesellschaft nach Corona?) von einer Zukunft für Unternehmer, Macher und Gründer, für eine Deep-Tech-Republik, die einen Narrativ à la Wirtschaftswunder 2.0. braucht. Man mag dabei an Tat- und Machtmenschen, an eine MINT- Elite denken – der Beitrag enthält aber auch die Forderung von Bildung im Sinne von Emanzipation und lebenslanger Berufsbefähigung, sowie den Satz „Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.“

Wirtschaftswundertour Sommer 2020

Birgit Eschbach, Event- Managerin, derzeit ohne Events,  liess sich dadurch inspirieren. Zunächst zu einer  Wirtschaftswundertour durch die Provinz, zu wirtschaftlich blühenden und zu darniederliegenden Landstrichen. Weiter zu regionalen Projekten, verbreitet über den (hashtag) #Wirtschaftswunder20.  Aber es sind nicht nur wirtschaftliche Fragen, genauso die, wie wir in Zukunft leben wollen, und wo? – Co- Working, Co- Living.  Unternehmen brauchen neues Know-how, um sich für die neuen Herausforderungen zukunftsfähig aufzustellen. Es geht um die Werkzeuge und Bedingungen des mobilen Arbeitens, angefangen mit der nötigen und möglichen Hard- und Software, zu den kulturellen Voraussetzungen, wie Diversität  – und schliesslich um Inspiration und Mut zur Umsetzung. Die Entwicklung von Potentialen der Kreativwirtschaft hängt davon ab. Kommunale  Wirtschaftsförderungen sieht sie als Partner bzw. Plattformen in einer Schlüsselrolle. Infrastrukturen, die mobile bzw. remote Arbeit ermöglichen, sollen geschaffen bzw. gefördert werden. Die Vernetzung regionaler Akteure, wie Wirtschaftsförderer, Bürgermeister, Unternehmen und anderer Engagierter ist dabei ein wesentlicher Schritt.

Nicht überall war Wirtschaftswunder: Obermoschel (Nordpfalz)

Als wegweisendes Projekt fand bereits 2019 in Wittenberge (Elbe) der “Summer of Pioneers” statt. Digitalarbeiterinnen und Kreative konnten für ein halbes Jahr Leben und Arbeiten abseits der Metropolen ausprobieren. Im Gegenzug brachten sie einen Ideentransfer von digitaler Expertise, ortsunabhängigem Arbeiten und urbaner Kultur mit. Ein Modell, das mittlerweile von anderen Kommunen aufgegriffen wurde, so Altena im Sauerland und Homberg, Nordhessen.
Regionale Entwicklung verläuft oft sehr unterschiedlich. Manche Regionen, wie Teile Württembergs oder Ostwestfalen, prosperieren mit Hidden Champions, andere sind vom Wegfall des produzierenden Gewerbes gekennzeichnet. Junge Menschen wandern ab, Leerstände und Industriebrachen folgen.  Mancherorts beschränkt sich die Infrastruktur auf Supermärkte an Kreuzungen von Überlandstrassen. Die Pendlergesellschaft sammelt sich in den Ballungsräumen und zersiedelten Speckgürteln.    

Zentral bleibt das Thema Remote Work, derzeit wird der Gesetzentwurf zu  einem Rechtsanspruch darauf verhandelt.  Gunnar Sohn hat in einem sehr engagierten Beitrag bereits so detailliert dazu Stellung genommen, dass ich dem kaum etwas hinzufügen kann: Bessere Vereinbarkeit, weniger Wege, mehr Selbstbestimmung – Arbeit, die zum Leben passt. Und Arbeit mehr zum Menschen bringen.  Wahrscheinlich ist die fast flächendeckende Verbreitung des home office eine der folgenreichsten Erfahrungen des Jahres.

Neues Wirtschaftswunder 2.0? Die abrupte, erzwungene Unterbrechung von Routinen birgt Chancen neuer Orientierung. Daran schliesst eine Frage  an, die bereits in den Szenarien zur Gesellschaft nach Corona gestellt wird: Wie schaffen wir die Überwindung des lediglich auf die alte Normalität zielenden Krisenmodus und erreichen eine Entwicklung in Richtung breiterer Innovation und signifikantem Strukturwandel?
Zukunft ist nicht mehr ohne weiteres die Fortsetzung der Gegenwart. Ein breit getragener Konsens ist  Voraussetzung für langfristige Entwicklungen. Zwar sind die Formulierungen neuer Wirtschaftswunder unterschiedlicher Herkunft – aber sie sind vereinbar. Es geht um die Verbindung von Digitalisierung und nachhaltiger Orientierung. Im Detail um Raum für lokale und regionale Projekte und Entwicklungen. Viele Menschen haben die Geschichte der Bundesrepublik als eine stabile liberale Erfolgsgeschichte erlebt, andere als eine mit einigen Brüchen.
Als Bezugspunkt taucht New Work zwar immer wieder auf, ist  als Begriff aber wohl zwischen ganz unterschiedlichen Bedeutungsebenen zerschlissen. Von der Lebensreform nach Frithjof Bergmann bis zu Verbesserungen für ohnehin Privilegierte.  Allerdings hat die Diskussion darüber  Perspektiven geöffnet. Lebens- und Arbeitsmodelle, die nicht in vorhandene Muster passten, fielen noch lange in die Kategorie untypischer Berufsbiographien bzw. atypischer Arbeitsverhältnisse. Letztlich geht es darum, menschliches Potential sinnvoller einzusetzen, übrigens auch eine Form von Effizienz, wie Winfried Felser anmerkte.

vgl:  Birgit Eschbach: wie gelingt uns mit analogen und digitalen Konzepten das nächste Wirtschaftswunder nach der Corona Krise? Gespräch am 9.09.20; Gunnar Sohn Plädoyer für das Mobile-Arbeit-Gesetz. 8.10.20  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: #WirVsVirus Umsetzungsprogramm beendet – Pressemitteilung 348/20 vom 30. 09. 2020 Neues-Wirtschaftswunder.de Für ein nachhaltiges Konjunkturpaket, JETZT! Investitions-vorschläge für ein sozial-ökologisches Wirtschaftswunder. Juni 2020. Verantwortung im globalen Lieferkettenmanagement. 17.09.20. Summer of Pioneers. Wittenberge. Altena. Homberg

 



New Work und Flexibilisierung

flexibel und agil

New Work ist Buzzword geworden – als eigener Begriff und unter der etwas seltsam konstruierten, von Industrie 4.0 abgeleiteten Bezeichnung Arbeit 4.0. Letztere v.a. im Umfeld staatlicher Stellen (so das Weißbuch Arbeiten 4.0  des Ministeriums für Arbeit und Soziales).
Als Begriff geht New Work auf den deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann zurück. In dessen Verständnis von Arbeit stehen drei Formen gleichrangig nebeneinander: die klassische Erwerbsarbeit, eine modernisierte Subsistenzwirtschaft (so High-Tech-Self-Providing) und die leidenschaftliche Arbeit, die man wirklich, wirklich tun will – in Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen, Träumen und Begabungen.
Soweit ein Ansatz zur Lebensreform, der sich mehr an Menschen richtet, die für sich selber entscheiden, als an Entscheider, die dies für andere tun. Es geht um den Anspruch, die eigene Lebenswirklichkeit selber zu gestalten oder zumindest eine  persönliche Balance abzusichern. Die aktuelle Diskussion zu New Work findet hingegen im Kontext von Personalführung und Organisationsentwicklung statt – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: der von Unternehmen und Organisationen, der von Beratern, von staatlichen Stellen und den ganz individuellen Sichtweisen.
So ist New Work in der begrifflichen Verwendung sehr weitgespannt,  fast überdehnt. Wo eine Grenze bzw. ein Übergang zwischen Neuer und dementsprechend Alter Arbeit liegt, bleibt weitgehend unscharf. Bedeuten neue Kommunikationsmittel, etwas Hierarchieabbau, einige Anpassungen an technische Innovationen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse gleich Neue Arbeit?  Erwerbsarbeit gilt als Gradmesser gesellschaftlicher Integration, Vollbeschäftigung als politischer Erfolg. Kulturelle Dominanz und Deutungshoheit in diesem Feld bedeuten reale Macht, vorherrschende kulturelle Standards haben normative Kraft.  All das trägt zur Attraktivität des Begriffs New Work bei.

Aufzeichnungen zur Arbeitswelt (World Café Transformation der Systeme)

Digitalisierung ermöglicht ganz andere Organisationsformen und ein mehr an Flexibilität als vordem jemals möglich war. Das ist das kollaborative Potential. Grundlage ist das Prinzip der Konnektivität, dass sich grundsätzlich jeder mit jedem verbinden kann, ergänzt durch das der Consozialität – der Verbindung über Gemeinsamkeiten. Das ergibt neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Akteuren, Inhalten und Ideen – auch in ergebnisorientierter Kooperation: Arbeit.

Flexibilisierung (eine Form der Individualisierung) war und ist zum einen eine der wesentlichen Forderungen der neoliberalen Agenda seit den 80er Jahren – im betriebswirtschaftlichen Sinne. Abbau bürokratischer Hemmnisse, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, generell aller wirtschaftlicher Aktivitäten und der Beschäftigungsverhältnisse im besonderen – und ebenso der Systeme der sozialen Absicherung.
Eine immer wiederkehrende These ist die, erst die sozialen Bewegungen der 60er bis 80er Jahre hätten die neoliberale Transformation des Kapitalismus seit den 80er Jahren ermöglicht. Beide Strömungen operierten mit dem attraktiven Begriff der persönlichen Freiheit, beide wandten sich gegen verkrustete Strukturen  hierarchisch-  bürokratischer Organisationen. Felix Stalder nennt in Kultur der Digitalität beide Strömungen als Treiber der gesellschaftlichen Transformationen (S. 32), die die Gegenwart der digitalen  Moderne prägen. In ihrem Ursprüngen liegen sie weit auseinander – ging es den Neuen Sozialen Bewegungen um Beteiligung, Zusammenleben und Persönlichkeitsentwicklung, ging es den Marktradikalen (“there is no such thing as society“, Thatcher) um die Freiheit des Marktes. Verbunden mit der Kritik am Wohlfahrtsstaat sollte jeder selber für sein Leben verantwortlich sein.
Pop- Autor Diedrich Diedrichsen spricht von der Lockerungsrevolte, in deren Folge Kreativität zu einer ökonomischen Ressource wurde. Kalifornischer Flower Power zählt zumindest zu dem Humus, auf dem die digitale Revolution gedieh.

Man denke an die Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre, in denen man anstrebte, Arbeit außerhalb des “Systems” zu organisieren. Die damals vorherrschende Unternehmenskulturen hielt man oft für unerträglich. Zwanzig Jahre später scheute die Digitale Bohème nicht mehr dessen Nähe. “So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen” wurde zum Leitspruch, der in der Breite nachwirkt.
New Work ist letztlich eine kulturelle Frage, in der Begriffsverwendung unscharf, aber attraktiv. Arbeit ist ein mehrschichtiger Begriff, Erwerbsarbeit bedeutet letztlich das, was andere (Kunden) bereit sind, für das, was wir tun (bzw. liefern), zu zahlen. Für Arbeitnehmer in privilegierten Situationen bedeutet es, individuell bestmögliche Bedingungen auszuhandeln. Und es ist ein vortreffliches Geschäftsfeld für Berater. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse finden ohnehin statt – neue Arbeitsumgebungen entstehen immer wieder.

Dieser Beitrag ist Teil der von Winfried Felser initiierten Blogparade zu New Work – #newwork17

Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679;  283 S., 18 €; Wolf Lotter: Gute Arbeit. In: Brand Eins 03/2017 – Schwerpunkt Neue Arbeit. S. 32 – 40; Header: kallejipp / photocase.de;


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