Chat GPT und der Kitty Hawk Moment von KI

Stufen von Hypes & Trends. Mediacamp NRW 2023 (erscheint nach Klick in voller Grösse) Graphik: Johannes Meyer

Was ist kurzfristiger Hype, was langfristiger Trend? Besonders zum Jahresbeginn immer wieder Thema- so auch auf dem Media Camp NRW in Duisburg (1/23).
Vor zwei Jahren startete die Live- Talk App Clubhouse mit einem grandiosen Hype. Im ganz besonders tristen Corona- Januar 2021 machte sie ein Fenster auf in eine schmerzhaft vermisste Öffentlichkeit.  Die fand sich zusammen und tagte ein, zwei Wochen lang fast ununterbrochen, wie um das Lagerfeuer herum – mit auffallend reger Beteiligung von Politikern, Keynote- Speakern und Comedians. Bald danach versandete Clubhouse dann aber immer mehr in der Bedeutungslosigkeit.
Der Hype lässt sich mit dem Zeitpunkt, aber auch Vorzügen wie einfacher Bedienbarkeit etc. erklären – aber wie der freie Fall danach? Dass ein Hype abflacht liegt in der Natur der Dinge, es bleiben dauerhaft nutzbare Möglichkeiten.

Auch KI, künstliche Intelligenz, kannte eine ganze Reihe von Hypes mit nachfolgendem Absturz, man spricht sogar von den KI-Wintern, in denen das allgemeine Interesse, öffentliche und private Förderung, Investitionen und StartUp- Finanzierungen zurückgingen. Nach anderer Zählweise erleben wir heute den dritten KI- Frühling.
Im Winter 2022/23 ist unbezweifelt Chat GPT der Hype – und durchgehend  Thema zahlloser Artikel, Podcasts, Diskussionen, Zoom- Konferenzen etc., es steigert sich fast von Tag zu Tag. Hype und Zeitpunkt sind eine Parallele zu Clubhouse, ansonsten ist Chat GPT  weit mehr als das. Der brandeins- Autor Thomas Ramge** hatte 2018 das Bild des  Kitty Hawk Moment* für den entscheidenden Durchbruch einer Branche eingebracht – und  für  KI bzw. AI/ Artificial Intelligence  damals Autopiloten, Gesichtserkennung angenommen.

Kitty Hawk: wenn eine Technologie abhebt Bild: History in HD. unsplash.com

Kitty Hawk ist der Ort im amerikan. Bundesstaat North Carolina, wo den Gebr. Wright im Jahre 1903 der Durchbruch im Motorflug gelang. Immer wieder hatten sie ihn angekündigt und immer wieder waren sie gescheitert.  Dann passte es auf einmal und der Flug gelang.  Davon stammt das Bild:  Die Technologie hebt ab und plötzlich klappt, was vor wenigen Jahren noch eine grossprecherische Behauptung war (Ramge, 2018, 7).  ChatGPT drückt es so aus: den Moment, an dem eine Technologie einen entscheidenden Durchbruch erreicht und von da an nicht mehr aufzuhalten ist.

Welchen Stand von Entwicklung und Resonanz man nun als Durchbruch der KI ansieht, ist Ansichtssache – aber noch niemals stand KI so sehr im öffentlichen Interesse, so sehr in der Diskussion über Möglichkeiten und Folgen – und wird so schnell nicht wieder daraus verschwinden. Chat GPT wird als der Moment in Erinnerung bleiben, an dem KI in den Alltag eintrat – vor allem auch deshalb, da es sich an eine unbegrenzte Öffentlichkeit wendet.  Millionen von Menschen testen Chat GPT weltweit auf seine Möglichkeiten – was den Server auch immer wieder in die Knie zwingt: at capacity right now.
Der Gebrauch von Chat GPT ist durch den dialogischen Zugang (Chat) bestimmt, GPT steht für Generative Pre-trained Transformer – die Ergebnisse sind so gut, wie der Zugang bedient wird, Qualität und Relevanz hängen davon ab. ChatGPT kann auch Unsinn schreiben, wenn es keine klare Anfrage oder keine klare Vorgabe für eine Antwort gibt. Es ist jedoch trainiert, um möglichst relevante und sinnvolle Antworten zu liefern, indem es auf seine Datenbank aus dem Internet zurückgreift.
Chat GPT lässt sich vielseitig verwenden und das eben auch ausserhalb professioneller Umfelder: als Lexikon, zur schnellen Abfrage von Wissen aus dem worldwideweb, zur Automatisierung von Routinen. Dabei so gut wie immer in sprachlich akzeptabler Form. Auf Englisch ist Chat GPT noch besser trainiert und erreicht eine höhere Genauigkeit und Effizienz.
Wo Sprache unterschiedlich akzentuieren, wo sie aus einem gleichförmigen Rhythmus heraustreten soll, ist der Aufwand für die Bearbeitung von Anfragen dann wieder so gross, dass es sich wenig lohnt. Die Sprachausgabe von Chat GPT bewegt sich dann doch an dem Sprachstandard, an dem sie trainiert und definiert wurde – man kann sagen an einem  Median des Mainstreams.

Beispiele, in denen Chat GPT wohl jetzt schon disruptiv wirkt, kommen schnell zusammen:  ein Wunschtraum so vieler Schülergenerationen ist eingetreten – ChatGPT kann eingesetzt werden, nicht nur um Fragen zu beantworten und Wissen zu erschliessen, zumindest die gängigen Formate von Hausaufgaben können in aller Schnelle erledigt werden – mehr Freizeit für Schüler. Die Nutzung lässt sich zwar vermuten, nachweisbar ist sie nicht. Aus Chat GPT lässt sich genauso beliebig Text herauskopieren, evtl. abändern, wie aus anderen Textdokumenten.
Das kann sich fortsetzen in Referate, wie sie in Proseminaren üblich sind, wo ein jeweils in sich abgeschlossenes Thema vorgestellt wird. Ein Test zur Systemtheorie nach Niklas Luhmann brachte durchaus brauchbare Ergebnisse. Wo allerdings eigene Standpunkte ausgearbeitet und begründet werden sollen, wird es schwieriger. Immerhin nimmt Chat GPT die Angst vor dem leeren Blatt.
Dann sind es die vielen, spachlich eher einfacheren Texte,  die nach Standards geschrieben werden müssen,   in Agenturen, in der Kundenkommunikation, ob  journalistisch oder nicht. Ganz besonders scheint es auch für juristische Texte mit ihrer streng formalisierten Sprache zu gelten.

Chat GPT meint dazu selber: ChatGPT wird in verschiedenen Branchen schnell verbreitet, darunter Kundenservice, E-Commerce, Bildung, Finanzen und Healthcare. Es wird verwendet, um automatisierte Gespräche und Interaktionen mit Kunden oder Benutzern zu ermöglichen, die Zeit und Ressourcen sparen und gleichzeitig eine personalisierte und effiziente Erfahrung bieten. Und auch: ChatGPT kann einfache Verträge und Vertragsklauseln entwerfen oder auch Urteile oder juristische Fundstellen aus Kommentaren zusammenfassen (s. auch  legal-tech.de)

Ein weiterer Punkt: Seit der Jahrtausendwende wurde der Zugang zum Wissen im Netz zum grössten Teil über Google gewährt. Google hatte damals mit einer minimalistischen Suche die aufwändig gestalteten hierarchischen Portale, wie Lycos, Altavista, etc. abgelöst. SEO/ Suchmaschinenoptimierung war seitdem fast immer gleichbedeutend mit Optimierung für die Google- Suche.
Jetzt wackelt die Dominanz  – neben die  Suchabfrage von Google tritt das Dialogsystem von ChatGPT – es geht um nichts anders als  den Interest Graph (vgl. Die Macht der Plattformen), d.h. Google kennt unsere Suchanfragen, und weiss daher  was uns interessiert – diesen Interest Graph macht ihm nun ChatGPT streitig. Kein Wunder, das Google mit Bard schnell nachlegt.

** Thomas Ramge, 2018: Der Kitty Hawk Moment – warum jetzt alles ganz schnell gehen wird. – In: Mensch und Maschine. Wie künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern  S. 7 – 11  Reclam Verlag, Stuttgart 2018.. 6 € . Tom Braegelmann: Ist der neue Chatbot/Text-Generator ChatGPT für den deutschen Rechtsmarkt relevant? – Sundar Pichai: Ein wichtiger nächster Schritt auf unserer KI-Reise 2/23.



2023 – Was geht voran?

»Zeitenwende«  wurde zum Wort des Jahres 2022 – das Kanzlerwort bezog sich auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den Bruch der bestehenden Friedensordnung. Im weiteren auf dessen Folgen und Konsequenzen: Energiekrise und Inflation, aber auch eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschafts- und Energiepolitik.
In den Vorjahren hatte Corona fast alles andere überschattet. Corona ist  zwar nicht  vorbei, aber in Folge der Impfkampagnen entschärft.  Dennoch bleiben die Spuren und Erfahrungen. Klima- und andere Umweltkrisen waren nicht unterbrochen, sind aber 2022 wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gestossen.
So stehen zum Jahreswechsel 2022/23 Krisen im Vordergrund. Krisen, die nicht abstrakt im Hintergrund stehen, sondern auf individueller wie kollektiver Ebene erfahren werden – man spricht von multiplen Krisen, auch eine neue Wortschöpfung tritt auf: Stapelkrise.

Die Krisen trafen auf eine vielfach durchgetaktete und optimierte digitale Consumer Culture. So durchgetaktet, dass sich selbst kleinere Störungen in Lieferketten schnell bemerkbar machen. Jedenfalls ist die Welt eine andere, als sie es vor etwa drei Jahren war. Krise bedeutet die Abwesenheit stabiler Zustände, die kommenden Jahre scheinen wenig klar – eine Gelegenheit für einen  Blick zurück und nach vorn: Welche Zeit geht zuende und was treibt eine neue an?

Plattform nach dem Social Graph Bild: mburpee/flickr.com

Im Blick zurück war das vorhergehende Jahrzehnt, nicht ganz exakt die 10er Jahre,  geprägt von der rasanten Verbreitung des mobilen Internet, von Social Media, der Landnahme der GAFAM-Konzerne und der Verbreitung einer digitalen Consumer Culture.
Landnahme bedeutet die Einnahme von oft  bereits bestehenden Beziehungsnetzwerken bzw. Interaktionszusammenhängen entlang sozialer Graphen durch  Plattformunternehmen. Zusammenhänge, die bereits bestanden, denen bis dahin aber wenig Bedeutung zukam (mehr dazu, vgl. Seemann:  Die Macht der Plattformen). Der wesentlichste Kritikpunkt ist die umfangreiche Sammlung persönlicher Daten durch Plattformunternehmen.
SmartPhone und mobiles Netz verbreiteten sich so schnell und in solcher Breite, wie selten eine Technologie zuvor – und das weltweit.   Sie bündelten Funktionen, die bereits vorhanden waren: Telephonie, Internet, Fotografie & Video, Tracking etc. Social Media gaben den Raum für performative Selbstentfaltung – ein Merkmal der Spätmoderne.
Mittlerweile gibt es Social Media schon mehr als ein Jahrzehnt – Facebook hat sich umbenannt, Twitter gerät ins Trudeln. Geht ihre Zeit  und mit ihnen auch die der Mega – CEOs, den Superstars aus der digitalen Wirtschaft, vorüber? Instagram und LinkedIn stehen allerdings in ihrer Blüte, will man unsere Gegenwart beschreiben, kann man gleich dort  anfangen.
Machen nun neue Technologien den Trend – oder wird Digitalisierung von der  treibenden zur dienenden Technik? Jede technologische Entscheidung hat entsprechende, oft weitreichende Veränderungen zu Folge.

Metaverse und Web3  werden oft in einem Zug als Zukunftstechnologien, als neue Stufen der digitalen  Evolution genannt, so waren sie auch gemeinsam Gegenstand einer Anhörung im Bundestag am 14.12. Ansonsten sind es zwei völlig voneinander unabhängige Entwürfe. Beide sind zudem mit wirkmächtigen Erzählungen/ Narrativen verknüpft, die ihre Popularität stützen. Der Hype ums Metaverse (mehrfach Thema im Blog) währt nun etwas mehr als ein Jahr – ausgelöst mit der Umbenennung von Facebook zu Meta.
Matthew Ball, Protagonist und Investor, hat vor einigen Monaten ein Standardwerk vorgelegt, das sich als Guide zum Thema nutzen lässt,  incl. allgemein akzeptierter Definitionen. Finale Vorstellung bleibt ein zusammenwachsender Raum aus virtueller und physischer Realität – im besten Falle ein Collective Virtual Open Space – ein solcher Raum würde tatsächlich Revoluzionize Everything (Ball). Es könnte vieles sein, von einem gigantischen Disneyland zum Common Meeting Ground einer Weltgesellschaft.
Für jeden, der sich neu mit dem Thema befasst, ist es zunächst verwirrend, dass so intensiv über etwas diskutiert wird, was es (noch) nicht gibt. In der Diskussion wird Metaverse oft mit XR/Extended Reality zusammengeworfen. Nicht ganz falsch, immerhin ist es die Technologie, die ein Metaverse erst ermöglicht. Immersive Techniken (Oberbegriff zu AR/VR/Mixed Reality) sind eine aufstrebende Branche, die immer mehr Anwendungsfelder findet. 

Web3 – nicht zu verwechseln mit Web 3.0, dem semantischen Web,  basiert auf der Blockchain- Technologie, einem gemeinsam geführten Register für die Aufzeichnung von Transaktionen. Web3 ist verbunden mit  Kryptowährungen, Smart Contracts und NFTs (non-fungible tokens/ virtuelle Originale).  Wesentliches Pro- Argument war immer die dezentrale Orgnisation, im Gegensatz zu dem von grossen Konzernen beherrschten Web2.
Kritik richtete sich v.a. auf den überdimensionalen Energieverbrauch. In der Anhörung fiel die Kritik noch stärker – harsch bis vernichtend – aus: Als unregulierte Finanzprodukte  seien Kryptowährungen v.a.  zur Steuerhinterziehung und den Handel mit illegalen Waren geeignet.  Protagonisten von Web3 argumentieren, dass Web3 das Internet demokratischer, freier, dezentraler, zensurresistenter mache. Mit Zensur seien v.a. Regulierungsauflagen gemeint. Geschäfts- und Governance-Prozesse könnten keinesfalls auf eine Plattform ausgelagert werden, die dafür gebaut ist, Regulierung zu unterlaufen. **
Web3 rückt  demnach in die Nähe libertärer Ideologien + Begünstigung krimineller Geschäfte – hinter einer Rhetorik von Dezentralität und Freiheitlichkeit. Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute wird damit (u.a.) die schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung  von Oligarchen verbunden.

Einschränkungsflanke jeden technischen Fortschritts ist die Versorgung mit möglichst emissionsfreier Energie –  darüber hinaus ist der Erhalt der natürlichen Ressourcen, von Klima, Artenvielhalt u.v.m. die grosse Einschränkungsflanke aller Zukunftsvisionen und der gesamten menschlichen Zivilisation. Etliche frühere Zivilisationen sind am Verlust naürlicher Ressourcen zu Grunde gegangen – unsere heutige Zivilisation ist aber global, Bewahrung der Ressourcen die grosse gesellschaftliche Herausforderung.
Für Strategien, die diese Voraussetzungen berücksichtigen, sei der Report  Digital Reset. Für eine grundlegende Neuausrichtung von Technologien für die sozial-ökologische Transformation  genannt – der von einem Europäischen Expertenpanel ausgearbeitet wurde. Es geht um die Ausrichtung von Digitalisierung auf Nachhaltigkeit, die dann in zehn Leitsternen als Empfehlungen für einen digitalen Reset vorgestellt wird. Politik wird als Primat  digitalen Innovationen vorangestellt. Letztere stehen somit in einer dienenden Funktion.
Philipp Staab, einer der Beteiligiten, hatte kürzlich in Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft Anpassung als neue gesellschaftliche Strategie beschrieben – ich stimme nicht ganz damit überein (s. Rezension). Man kann jetzt noch die Arbeiten von Bruno Latour heranstellen – später mal …

**vgl.: Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Antworten zur Öffentlichen Anhörung “Web 3.0 und Metaverse” am Mittwoch, 14.12.2022 –  S02E34 – zu Crypto-Imaginaries und alternativen technologischen Infrastrukturen  in: Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft. Digital Reset. Redirecting Technology for the deep Sustainability Transformation. Technische Universität Berlin, Fachgebiet Sozial-ökologische Transformation: (10/2022)

 



Metamoderne – erster Überblick

In der Diskussion auf der letzten FuturesLounge im Mai kam die Sprache auf Metamodernity/ Metamodernism – international und v.a. auch in Nachbarländern wie den Niederlanden und Dänemark ein bereits seit längerem verbreiteter Begriff, im deutschen Sprachraum allerdings nur sporadisch gebraucht.
Metamoderne ist Reaktion und Abkehr von der verblassenden  Epochenbezeichnung Postmoderne, ein Branding  für das, was danach kommt, was manchmal auch aus Verlegenheit Post- Postmoderne genannt wurde. Unter dem Label metamodern (in mehreren Verbegrifflichungen) kristallisiert sich ein neuer Blick auf die gegenwärtige und in die zukünftige Welt heraus. Die Periodisierung ist eher zweitrangig.

Der Begriff selber ist gar nicht mehr so neu. Den Durchbruch hatte er mit dem Essay (2010) und dem darauf folgenden Webzine (2009 – 2016, archiviert) Notes on Metamodernism der Rotterdamer Kulturwissenschaftler Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker. Themen des Webzine waren Trends und Tendenzen in  Current Affairs, in der Netzkultur und aus fast allen Kultursparten von Architektur über Tanz und Performance bis Film und Literatur. Als prominente Beispiele für eine Ästhetik, die nicht länger mit den Begriffen der Postmoderne erklärt werden kann, wurden u.a. die Hamburger Elbphilharmonie – 2010 im Rohbau -, die Filme von David Lynch  und die Literatur von Jonathan Franzen genannt. Man muss sich schon länger damit befassen, um diese Werke miteinander in Verbindung zu bringen –  sie sind dazu noch mit dem Merkmal  neoromantisch versehen.
Metamoderne ist demnach eine in den 2000er Jahren gewachsene Grundstruktur, die seitdem zu einer dominanten kulturellen Logik vorrangig in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften geworden ist. Vermeulen & Van den Akker  verwenden den Begriff Metamoderne als heuristisches Etikett, um ästhetische und kulturelle Entwicklungen zu erklären, und gleichzeitig auch zu periodisieren.

Die History- Matrix von Lene Andersen (42/43) – erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Die dänische Philosophin und Bildungsaktivistin Lene Andersen unterscheidet (82) in  dem Einführungsband Metamodernity – Meaning and Hope in a Complex World  (6/2019) zwischen Metamodernity und Metamodernism. Während letzterer in etwa den Ausführungen von Vermeulen und van den Akker folgt, verbindet  ihr Begriff von Metamodernity sämtliche vorhergehenden kulturellen Codes: die indigenen, prämodernen, modernen und postmodernen. Indigene Codes können etwa auf eine Verbindung  mit der  Natur verweisen, die wir brauchen, um Kreisläufe wiederherzustellen, so u.a. zur Lösung der Klimakrise. Metamodernity integriert solche kulturellen Codes und bietet so einen Rahmen, uns selbst und unsere Gesellschaften auf komplexe Art zu verstehen, soziale Normen und ein moralisches Gefüge für Intimität, Spiritualität, Religion, Wissenschaft und Selbsterkundung.
In einer History– Matrix (s. Abb.) setzt Andersen universelle Grössen, wie Wissen, Machtstruktur und vorherrschende Narrative in bezug zu Epochen, die nach den jeweils höchst entwickelten Technologien abgegrenzt sind. Derzeit haben wir die Transition von der industriellen Epoche zum ICT Age (Information and Communication Technologies) hinter uns, bald folgt das BINC Age (Bio-, Information-, Nano & Cogno- Technologies.  Vom Aufbau erinnert die Matrix an die von Dirk Baecker (2018), der die zivilisatorische  Entwicklung in vier Medienepochen gliedert und der modernen die nächste Gesellschaft folgen lässt.
Lene Andersen gehört dem Think Tank Nordic Bildung – Better Bildung,  Better Future, an –  sehr deutlich mit dem auf einer breiten Volksbildung basierenden skandinavischen Gesellschaftsmodell verbunden. Ebenso damit  verbunden ist Hanzi Freinacht, Autor von Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics (2019).   Sicherlich sind die kulturell homogenen skandinavischen Gesellschaften in der Entwicklung einer Collective Imaginary -in etwa eine kollektive Zukunftsvision – a Shared Vision of the good society, begünstigt und Vorreiter. Der Anspruch eines von den nordischen Ländern ausgehenden Weges in eine metamoderne Gesellschaft, die die Welt vor einem System- Kollaps bewahrt, zeugt aber auch von Sendungsbewusstsein (vgl. Freinacht). 

Jason Storm – Autor “Metamodernism”

Metamodernism. The Future of Theory von Jason Storm(Chicago) erschien 7/2021 und wurde in Kommentaren teilweise enthusiastisch gefeiert: als Öffnung zu neuen Denkweilten, der Autor schöpfe mühelos  aus scheinbar unendlichen Ressourcen, um die Aufgabe zu bewältigen, die er sich selbst gestellt hat.
Jason Storm  ist Universitätsprofessor, bezeichnet sich selber als Philosopher of the Human Science und ist zugleich Rockmusiker, bis dato eine eher ungewöhnliche Kombination – beim Autorenbild dachte ich tatsächlich an Wild at Heart von David Lynch – Humanwissenschaftler in Rockstar- Pose.  Storm versteht sein Werk selber als ein  First- Order Philosophy mit dem Anspruch für sich allein zu stehen. Kein programmatisches metamodernes Paradigma soll beschrieben werden, sondern das Werk soll einen Paradigmenwechsel auslösen.  Mehr zu diesem ambitionierten Titel in Kürze: ist bestellt und Rezension vorgesehen.

Postmoderne war als Epochenkonzept seit ca. 40 Jahren in Verwendung – langsam verblassend. Ausgangspunkt war 1979 der Essay Das postmoderne Wissen/ La condition postmoderne von Jean- François Lyotard. Sie machte es möglich,  uns selbst, unsere Kultur und unsere Zivilisation von außen zu betrachten, sie zu dekonstruieren, um ihre Teile und ihre inneren Strukturen zu untersuchen. Poststukturalismus, Kontextualität, das Führen von Diskursen sind zugehörige Schlagwörter, ironische Distanz eine verbreitete Attitüde. Der Begriff wurde damals schnell populär, besonders in Philosophie, Kunst und Architektur.  Später wurde der Begriff oft bis zum Überdruss und darüber hinaus verwendet, und weckte so auch immer wieder Gegenreaktionen.
Die Moderne gab uns gleiche Rechte und Chancen, Demokratie, Wissenschaft incl. wissenschaftlicher Medizin, und die Verpflichtung, zu zweifeln und zu denken, ihr verdanken wir den – linearen – Fortschritt als solchen, sie ist untrennbar mit der wissenschaftlichen Revolution verbunden.  Klischeehaft war der Weisse Mann ihr Träger.
Metamoderne Philosophie tritt auf in einer Zeit, in der Internet und Social Media für einen Grossteil der Menschen eine selbstverständliche Umgebung sind. Ausdruck der Zukunftsfragen postindustrieller Gesellschaften, in der immer weniger Menschen an den industriellen Prozesse und der Distribution ihrer Produkte beteiligt sind.  Metamodernism doesn’t just generate mixed feelings – it’s about mixed feelings (Jonathan Rawson).
Zum Metaverse hat Metamoderne übrigens keine direkte Verbindung – wenn nicht eine aktuelle Vorliebe für weit überwölbende Begriffe, die mit Meta gekennzeichnet sind, für beides zutrifft. Parallelen werden zu entdecken sein.

Lene Rachel Andersen: Metamodernity. Meaning and Hope in a Complex World . Nordic Bildung, 2019, 137 S.  Jason Ananda Joseph Storm: Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 2021. Jonathan Rowson, Layman Pascal: Dispatches from a Time Between Worlds. Crisis and emergence in metamodernity. 376 S. 6/2021 Hanzi Freinacht (ein Pseudonym für ein Autoren- Duo) Nordic Ideology: A Metamodern Guide to Politics, Book Two (Metamodern Guides, Band 2), 2019  Robin van den Akker, Alison Gibbons, and Timotheus Vermeulen (Eds) Metamodernism: Historicity, Affect, and Depth after Postmodernism (2017) Robin van den Akker, Timotheus Vermeulen: Notes on metamodernism. Journal of Aesthetics & Culture. Vol. 2, 2010  , S. 3- 14. auf youtube: Metamodernity Versus Metamodernism w/ Lene Rachel Andersen  — Metamodernism: The Future of Theory w/ Jason Josephson Storm



König von Deutschland – Blaupausen für Zukünfte

 König von Deutschland war ein Popsong  des späten Rio Reiser (✝1996) und wahrscheinlich sein einziger, der zum Gassenhauer wurde.
#KönigvonDeutschland- ist hier titelgebendes Motto bzw. Rahmenerzählung einer Sammlung von insges. 18 Gesprächen, geführt zwischen 2017 und 2020, die zuerst als Podcast, dann als Buch erschienen ist.  Drei Fragen waren jedem Gespräch vorangestellt: Was bewegt Dich? Welche Zukunft siehst Du? und Was würdest Du tun, wenn Du König von Deutschland wärst? Die gesprochene Sprache des Podcast wurde transkribiert,  die Gespräche lesen sich ganz anders als mehrfach redigierte Texte, Momente sind weit stärker eingefangen. Vor einigen Wochen gab es dazu bereits einen Online- Themenabend incl. Exkursen zur Science- Fiction. Die Herausgeber Gunnar Sohn, Live- Streamer, und Lutz Becker, HS Fresenius, beide Ökonomen, haben  mir ein Exemplar zur Rezension zugeschickt, hier ist sie nun.

Einige der Gesprächspartner sind mir persönlich bekannt, andere dem Namen nach,  und es sind einige prominente Politiker, wie Marina Weisband und Uwe  Schneidewind dabei, dazu auch der Science- Fiction Spezialist Hans Esselborn. Utopien sind hier nicht freischwebende Weltentwürfe, sie bleiben pragmatisch auf einem Boden und dienen als Blaupause eines positiven Zustands in der Zukunft (14). Themen, die im Rahmen der Transformationsdiskurse diskutiert werden, kommen mehrfach zur Sprache,  so Mobilitätswende, Ressourcenbewirtschaftung, ökologische Erneuerung; insgesamt  geht es aber vorrangig um die Rolle der Ökonomie als einer Gestaltungswissenschaft für einen demokratischen Kapitalismus.
Immer wieder wird die Perspektive von Ökonomen, die mit der in der Mainstream- Ökonomie vorherrschenden Kennzahlen- Orientierung hadern, deutlich. Gleich im ersten Gespräch mit Reinhard Pfriem (vgl. Rez.) “Neue Ökonomie mit mehr demokratischer Beteiligung” geht es um die Öffnung der Ökonomie zu einer Möglichkeitswissenschaft, die Wege  dahin öffnet, wie denn eine Gesellschaft und eine Wirtschaft der Zukunft aussehen könnten (27). In Es fehlen die Utopien mit dem Ökonomen Frank Witt fliessen Thomas Pikettys  Kapital und Ideologie, an anderen Stellen immer wieder Joseph Schumpeter in die Diskussion ein, auch die Freiburger Thesen der FDP von 1971.  Weltverbesserungskompetenz und Demokratie 4.0 (199) sind autretende Schlagwörter.  Science Fiction wird nach Zukunftserzählungen abgeklopft.
Gegenpole, das was man nicht, bzw nicht mehr will, sind  Überwachungskapitalismus und Big Nudging, das chinesische Scoring- Modell, das heute dominierende Finanzwirtschaftssystem, die Durchsetzung des sog. Neoliberalismus,  die Stories vom anarchischen Silicon Valley (239), die oft als  freche Hacker- Kultur inszeniert werden, die monokausalen Erklärungsmodelle und Fallstudien der BWL (241).  Sind Utopien die Brücke zu Innovationen? Wahrscheinlich, als vorausgedachte Entwicklung und Veränderung. Ich mag selber das Wort Innovationen nicht mehr, zu oft ist damit reines Effizienzstreben verbunden.

Dem Klappentext der Rückseite nach richtet sich das Buch an Leser, die sich für Utopische Weltentwürfe  interessieren. Man kann es so sagen …  viel mehr aber geben die Gespräche einen Einstieg in Diskussionen, hin zu  – durchaus realistischen – Zukunftsvisionen eines demokratischen Kapitalismus (188). Ganz sicher auch für die Lehre – oder besser gesagt, in die Bildungsanteile, die einer Normierung des Denkens entgegenwirken, ob in Schule, Universität und Business Schools oder Weiterbildung. Die Gesprächsform macht die Themen zugänglicher, über 500- 1000 Seiten Piketty oder Schumpeter können immer noch folgen.  Ein wenig regionallastig sind die Beiträge: Wuppertal und das Bergische Land sind mehrfach der geographische Ausgangspunkt – liegt es nur an Herkunft und Verbundenheiten eines der Autoren (Lutz Becker)- oder doch an der längsten Industriegeschichte Deutschlands? Soweit – nicht jeder Beitrag eines Sammelbandes kann erwähnt werden, aber alle bieten sie einen Einstieg in eine spezifische Sicht.

Schliesst man dann den Bogen zurück zu Rio Reiser und den Scherben, war der #König von Deutschland der Song, der ihm von Fans als kommerziell vorgeworfen wurde – von den Scherben erwartete man Solidaritätsauftritte. Sie waren der Soundtrack zu Demos, Hausbesetzungen, von erkämpften Utopien und Freiräumen, gerne illegal. Ein Soundtrack mit einer Radikalität des Herzens und dem Stinkefinger gegenüber Staatsgewalt und Kapital – in der Zeit, als man noch nicht von Zivilgesellschaft sprach.  Heute gehören sie zum kulturellen Erbe.

Lutz Becker & Gunnar Sohn : Was würdest Du machen, wenn de “König von Deutschland” wärst? – Utopische Gespräche. Klingen Verlag, Solingen, 2021. 391 S.



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