Soziologie zur Digitalisierung und das was folgt …

Der Zettelkasten – Legende Luhmann

Welche Rolle spielen soziologische Ansätze und Theorien, wie einflussreich sind sie ausserhalb eines wissenschaftlichen Kontextes, welche Deutungsmacht kommt ihnen zu? Spätestens mit Corona haben sich Diskussionen verschoben. Gesellschaftliche Interaktions- und wirtschaftliche Wertschöpfungsketten wurden unterbrochen. Die Zukunft erscheint nicht mehr allein als Fortsetzung der Gegenwart – und steht damit offener zur Debatte als vordem.  Digitalisierung hat neue Infrastrukturen geschaffen, schreitet weiter voran, ist aber nicht mehr allein vorrangiges Thema. Ein kleiner Überblick, der sich aus (meinen) Themen der letzen Jahre ergibt:

Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist wohl eines der einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Theoriegebäude überhaupt.  Sehr verkürzt: Funktionale Differenzierung der Gesellschaft in einzelne soziale Subsysteme (autopoietische Systeme). Moderne Gesellschaften sind  in operativ geschlossene Funktionssysteme differenziert,  die jeweils nach ganz eigenen Logiken funktionieren (Kühl, 2015).
Luhmann verstand Systemtheorie als Möglichkeit die Struktur sämtlicher Bereiche der Gesellschaft offen zu legen, ohne normativ zu sein: Recht, Liebe, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Bildung, Religion etc. Es geht darum, wie sich in den komplexen Gesellschaften der Moderne Ordnungen erklären lassen.  Zur Legende wurde Luhmanns Werkzeug, der Zettelkasten, eine Art Zweitgedächtnis, in dem er Notizen so ablegte, dass die aufgezeichneten Gedanken neue Sinnzusammenhänge hervorbrachten.
Systemisches Management, systemische Beratung, systemisches Coaching –  im ausserwissenschaftlichen Umfeld sind Bezüge zur Systemtheorie immer wieder präsent. Soziologische Systemtheorie wird als Leittheorie von Prozessberatern bezeichnet, Begriffe wie Störung, Katastrophe (eines Systems) kamen in diesem Sinne in Umlauf. In einem sehr lesenswerten Text zeigt der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl (2015) die unkontrollierte Ausdehnung, Popularisierung bis Trivialisierung der Systemtheorie – die oft zu einem Instrument der Kompetenzdarstellung gerät. Was  als systemisches Management, Beratung, Coaching angeboten wird, ist nur lose an die Systemtheorie  gekoppelt (Kühl, 2015).

In den Digitalisierungsdebatten der vergangenen Jahre stehen Dirk Baecker und Armin Nassehi mit den Veröffentlichungen 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt und Muster – \\\Theorie/// der digitalen Gesellschaft im Rahmen der Systemtheorie.
Baecker teilt die Geschichte in Epochen, von der tribalen Gesellschaft über die Antike und die Moderne zur nächsten Gesellschaft. Auslöser von Epochenwechseln ist jeweils eine Innovation von Verbreitungsmedien –  so begann die Antike mit der Schrift, die Moderne mit dem Buchdruck, die nächste Gesellschaft mit den digitalen Medien.  Innerhalb der Epochen werden die Spielräume der einzelnen Teilsysteme beschrieben. Merken sollte man sich den Sinnüberschuss, der jeweils mit neuen Medien/Techniken einhergeht. Die Lücke, die der Rechner lässt (im Titel) ist schliesslich das Mass an Gestaltbarkeit, das bleibt.
Armin Nassehi verfolgt einen funktionalistischen Ansatz, setzt weder Problem noch Lösung als gegeben voraus, stellt einige rhetorische Fragen an den Anfang: Für welches Problem ist Digitalisierung die Lösung? Dazu die,  warum Techniken sich nur dann durchsetzen können, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen. Digitalisierung sei die Lösung für ein Problem, das sich in modernen Gesellschaften seit jeher stellt: Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch wir selbst mit unsichtbaren Mustern um? Es finden sich viele erhellende Einzelheiten, ob man das Buch als allgemeingültige Theorie der digitalen Gesellschaft annimmt, muss man selber entscheiden.
Beide Bücher vermitteln, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, das Gefühl, eine unsichtbare Hand, eine Macht der strukturellen Muster ordne. Es geht oft mehr um eine gedachte, als die reale Gesellschaft, in der wir leben.

Kultur der Digitalität (Felix Stalder) meint die von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägte Lebens- und Arbeitswelt. Digitalität ist das Muster, die Ordnung, die diese Prozesse angenommen haben. Sie ist keine einseitige Folge technischer Innovationen, die neuen Technologien trafen auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. 

Mit Digitalisierung hat das Werk von Norbert Elias (1897-1990) überhaupt nichts zu tun – es geht um die langfristige Entwicklung von Gesellschaften, die Ausformung des Habitus, um Wandlungsprozesse – heute spricht man von Transformationen – der Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen: Soziogenese und Psychogenese. Neuerdings stösst man anderswo auch auf Technogenese, gemeint ist eine Co-Evolution von Technik und Gesellschaft. Es ist diese Ausrichtung auf die Evolution des Habitus verbunden mit der Struktur von Gesellschaft, die Elias’ Perspektive dauerhaft interessant macht. Stützte sich Elias u.a. auf Tischsitten und andere aufgezeichnete Verhaltensregeln, um solche Wandlungsprozesse zu beschreiben, sind es heute wohl die Popularkulturen, nicht nur Musik und Mode, genauso das Essen, Reisen, Konsumpräferenzen, Haltungen etc. an denen diese Wandlungsprozesse deutlich gemacht werden können.

Die aktuell wohl umfassendsten Gesellschaftsanalysen zu den letzten Dekaden stammen von Andreas Reckwitz, mit der ausdrücklichen Absicht für politische Überlegungen anschlussfähig zu sein (Die Zeit, 12. 08. 2020). Es geht nicht allein um Digitalisierung, sondern um ein Gesamtpanorama der Transformation von einer industriellen zu einer postindustriellen Ökonomie mit all seinen Ursachen und Folgen. Wie so viele soziologische Texte sind die von Reckwitz oft etwas sperrig zu lesen, aber anschlussfähig an andere Autoren. Eine Kernthese ist das Ende des einige Jahrzehnte währenden “Dynamisierungsliberalismus“. Nicht nur Digitalisierung (und jetzt Corona) hat die letzten Jahrzehnte geprägt, ebenso Globalisierung, eine Bildungsexpansion hat stattgefunden, Macht und Bedeutung stabilisierender Organisationen ist geschwunden und in diesen Prozessen gibt es Gewinner und Verlierer.

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung – mit diesem Satz  leitet Hartmut Rosa Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung ein. Durch das ganze Buch zieht sich eine grundsätzliche Kulturkritik, die sich an ein gestörtes Weltverhältnis richtet, dabei steht der digitale Raum oft in besonderer Kritik. Auch der lange Zeit kaum gebrauchte Begriff Entfremdung ist als Verstummung von Weltbeziehungen bei Rosa ein Merkmal unserer Moderne. Wege zu einer besseren Welt werden mit Resonanzachsen  beschrieben werden
Begriff und Konzept der Resonanz selber sind plausibel und verständlich. Die Bedeutung eines Ja oder Nein von Resonanz, ihr Gewicht von simpler Aufmerksamkeit bis zum Auslöser von Neuem ist den meisten Menschen mehr und mehr bewusst, ganz besonders in den Digitalen Medien. Aber ganz so hat es der Autor wohl nicht gemeint.

Stefan Kühl: Die fast unvermeidliche Trivialisierung der Systemtheorie in der Praxis. Von der Gefahr des systemischen Ansatzes sich in Beliebigkeit zu verlieren (2015). David B. Clear: Zettelkasten — Wie ein Deutscher Gelehrter so unglaublich produktiv war (2020).  Vgl. Rezensionen auf diesem Blog:  Armin Nassehi: Muster – \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft; Dirk Baecker: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt; Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten & Das Ende der Illusionen . Interview in der Zeit, 12.08.20  Felix Stalder: Kultur der Digitalität; Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung.  Interview in der Badischen Zeitung 22.09.20



Muster – \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft (Rez.)

Mustererschien Ende August, ist inzwischen in der dritten Auflage – und hat die ganze mediale Aufmerksamkeit erhalten, die soziologische Werke in der deutschsprachigen Öffentlichkeit überhaupt erreichen können. Zu kaum einer anderen Neuerscheinung gab es so viele Rezensionen, so viele Interviews. Der Untertitel \\\Theorie/// der digitalen Gesellschaft setzt einen Anspruch zum Standardwerk.

Für welches Problem ist Digitalisierung die Lösung? Mit dieser (methodischen) Leitfrage eröffnet Armin Nassehi seine Sichtweise auf Digitalisierung. Die Antwort ist sperrig, dem systemtheoretisch- funktionalistischen Ansatz konform:  “Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmässigkeit der Gesellschaft selbst (28).” Verständlicher wird sie mit den im Abschnitt “Die digitale Einfachheit der Gesellschaft” (173-177) formulierten Thesen, wo es u.a.  heisst: “Die leistungsfähige Digitaltechnik folgt demselben Muster wie die gesellschaftlichen Funktionssysteme (176) …” – das bedeutet eine Art Spiegelung bzw. Verdoppelung der Welt durch digitale Daten (109).

Mustererkennung. Bild: photocase.de/ma

Mustererkennung bedeutet in dieser Fülle von Daten (Big Data) Gesetz- und Regelmässigkeiten zu erkennen, Wahrscheinlichkeits- beziehungen in Datensätzen freizulegen (35). Alles was geschieht kann Spuren in Form von Daten hinterlassen, es muss nur irgendwo aufgezeichnet werden. Verkehrsströme, Bewegungsverhalten, Kauf- bzw. Marktentscheidungen,  gezielte und Gelegenheits- Kommunikation (z.B. in Social Media), Körperfunktionen, Sprache, Wetter u.v.m. – Mustererkennung ist Voraussetzung weiterer Verarbeitung und  Nutzung von Daten – Algorithmen funktionieren auf dieser Grundlage. Keine Spracherkennung, kein Mobilitätsmanagement, keine personalisierte Werbung, keine Steuerungstechniken, keine KI ohne Mustererkennung.

Ein ebenso passender Titel wäre die dritte Entdeckung der Gesellschaft. Mit der Digitalisierung entdeckt sich die Gesellschaft neu, wird sich ihrer selber bewusst – zum dritten male. Die erste Entdeckung der Gesellschaft, d.h. als sie selber anfing, sich als solche zu verstehen,  begann mit Aufklärung und franz. Revolution – eine Erfahrung von Gestaltbarkeit anstelle der Fortsetzung von Traditionen, längerfristig ging daraus die Soziologie als eigenständige Wissenschaft hervor. Ab etwa 68 folgte eine zweite Entdeckung, als man Erkenntnisse anwenden und Sozialstrukturen in einem emanzipatorischen Sinne zu ändern bestrebte.
Die dritte, digitale Entdeckung der Gesellschaft bedeutet, dass nun in ständiger Spiegelung die latenten Muster sichtbar werden, die soziale Ordnung bestimmen. Diese ist kaum noch an äusseren Kennzeichen erkennbar, sondern in den kumulierten Datenspuren (vgl. 46-54).
War die Moderne längst vor Beginn der Digitalisierung digital und ist letztere gar nicht so disruptiv? Nassehi bezieht sich u.a. auf die Anfänge der Sozialstatistik im 19. Jh., als man begann Daten zu sammeln und bald deren Wert für das Verwaltungshandeln erkannte. Empirische Sozialforschung deckt seit ihren Anfängen Muster auf, die ohne Forschung unsichtbar blieben, mit ihr methodisch kontrolliert sichtbar werden (55). Big Data vervollkommne letztlich nur die Erfassung und Vermessung der Gesellschaft, die lange vorher begonnen hat  (316).

Digitaler Boden. Bild: quaiko

Digitalität beruht auf der maximal simplen Codierung von Informationen (Daten) im binären Muster –  Daten jeglicher Art und unterschiedlichster Quellen aus einer mit Sensoren und Messpunkten ausgestatteten Gesellschaft können und werden in diesen Code übersetzt und in vielfältigster Weise zusammengeführt, rekombiniert. Gerade die binäre Einfachheit macht Digitalisierung so vielfältig und geschmeidig.
Nassehi schliesst moderne Funktionssysteme daran an (vgl. 173), die ebenso binär
kodiert sind.
Nassehis Impetus ist die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion dessen, was mit dem Begriff der Digitalisierung belegt ist  (15). Ganz wesentlich ist die Parallele (mir kommt schon der – überzogene – Begriff “Wesensgleichheit” in den Sinn) zwischen der technischen und der gesellschaftlichen Ebene.  Erklärungsrahmen ist Systemtheorie. Funktionssysteme, Störung (eines Systems), Katastrophe (einer Gesellschaft) – die Begriffe werden in diesem Sinne gebraucht.

Manche Passagen lesen sich sich flüssig mit Formulierungen, die man sich merkt, andere spröde, etwas angestrengt, im für Systemtheorie typischen Duktus. Mal wird im Plauderton gelästert (Mischung aus kritischer Attitüde und alltagsnaher Beschreibung in der Soziologie,  S. 13) – auf einer langen Strecke geht  es um die Anbindung an  Wissenschaftstheorie und Philosophie; Husserl, Heidegger, de Saussure und auch Kybernetik kommen vor.
Wo es um konkrete gesellschaftliche Themen geht, wird es gleich wieder flüssiger: Das Internet als Massenmedium (263-292), der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit (300), Gefährdete Privatheit (293 -315).  Im Kapitel Digitaler Stoffwechsel geht es um die materielle Dimension.
 Themen, die in den vergangenen Jahren ausgiebig diskutiert werden, hier erhellend zusammengefasst. 

Fast unvermeidlich kommt der Gedanke, die Eingangsfrage umzukehren: “Für welches Problem bietet dieses Buch eine Lösung?” (auch anderen Rezensenten kam die Idee).
Eine abschliessende Synthese gibt es nicht – wohl einen Debug zur Wiedergeburt der Soziologie aus dem Geist der Digitalisierung (318-327) sowie die oben erwähnten Thesen (175-177). Zentral sind Musterbildung und – ausdeutung, die Möglichkeiten der Rekombination, die Verdoppelung der Welt – aber ist das bereits eine allgemeingültige Theorie der digitalen Gesellschaft? Kann es denn eine solche Theorie geben, in der Macht und die Verteilung von Ressourcen nicht weiter thematisiert werden? Anscheinend geht es auch darum, Begriffe, Sichtweisen und Argumentationslinien der Systemtheorie in der Digitalisierungsdebatte zu festigen. Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff kommt wohl im Kapitel zu Sinnüberschussgeschäften vor. Bei ihr geht es um die Geschäftsmodelle der grossen Digitalunternehmen, die letztlich zu einer Etablierung neuer instrumentärer Macht führt, die den Rahmen kommerzieller Aktivität überschreitet. 

Dass Technologien (und andere Neuerungen) nur dann erfolgreich sind, wenn sie an Dispositionen in einer Gesellschaft anschliessen – eine Selbstverständlichkeit. Würden sie es nicht, würden sie auch nicht weiterentwickelt. Kann man aber Digitalisierung mit der Sozialstatistik des 19. Jh beginnen lassen? Warum nicht gleich mit den Volkszählungen antiker Grossreiche? Mehrfach wird untergeschoben, Digitalisierung würde immer wieder als Kolonialisierung erlebt, stimmt das? Kaum eine andere Technologie wurde derart begrüsst, geradezu umarmt.  Wenn sie so erlebt wird, dann, wenn unter ihrem Label Machtverschiebungen durchgesetzt werden. Etwa, wenn ein Unternehmensberater vor die Belegschaft tritt und unbequeme Massnahmen durchsetzen will – dann sind es Verteilungskonflikte.

Es gibt zahlreiche Triebkräfte der Digitalisierung. Die oft tribal genannten Formen von Vergemeinschaftung, wie sie sich in Pop- und später Consumer Culture entwickelt hatten, haben begeistert die entstehenden digitalen Nischen mit einer Art Clubkultur besetzt.  Untrennbar mit  Digitalisierung verknüpft ist die Dynamik der Globalisierung. Vielleicht ist die Frage, wieso sich digitale Techniken so schnell durchgesetzt haben genauso müssig, warum sich zwei Generationen vorher  Elektrizität durchgesetzt hat.
Verfolgt man andere Diskussionsstränge, ist der Stand derzeit in etwa so:  Das Thema der anfallenden Daten (Big Data) ist durch und akzeptiert. In vielen Bereichen sieht man den damit möglichen Nutzen: Mobilitätsplanung, Gesundheitswesen. Jetzt geht es v.a. um die Frage  “Wem gehören die Vorteile und Gewinne der Datenbewirtschaftung?  

Das grosse Bild, das beim Lesen entsteht, ist eine von einer geschmeidigen Datenwelt (die Cloud ist schon vergeben) ummantelte Gesellschaft. Mal nützlich bis komfortabel, wenn es um Dienstleistungen geht – dann beunruhigend bis verstörend, wenn es Entscheidungen beinhaltet. Wem gehört der Rohstoff der menschlichen Erfahrung? Ausgebeutete Daten sagen mehr über uns aus, als wir selber über uns wissen – man denkt an die Matrix…  

Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft. Verlag C.H. Beck, München, September 2019.  352 S. ISBN: 978-3-406-74024-4. Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017    



4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt (Rezension)

Immer wieder 4.0 … und ausgerechnet  von  einem Soziologen, aber hier gilt eine ganz andere Zählweise: 4.0 ist keine Etappe der industriellen Revolution, sondern weit ausgreifend die 4.  Medienepoche der Menschheitsgeschichte. Zuerst war die Sprache und die Stammesgesellschaft, dann die Schrift und die antike Gesellschaft, später kam der Buchdruck und die moderne Gesellschaft und jetzt eben Digitalisierung mit den elektronischen Medien und der Nächsten Gesellschaft (entlehnt von Next Society nach Peter Drucker). Gesellschaften waren von Beginn an von ihrer Medialität geprägt, angefangen mit der Sprache.

Verbreitungsmedien lösen sich nicht ab, sondern es treten neue hinzu:  Neue Verbreitungsmedien bedeuten neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Kommunikation, die man vorher noch nicht kannte, sie sind bestimmend für die Struktur und Kultur einer Gesellschaft, eine Art prägende Textur. Soweit ist die Einteilung einleuchtend – bis auf eine Lücke zwischen 3.0 und 4.0  (dazu später).
Die Nächste Gesellschaft, das ist die Computer- bzw. digitale Gesellschaft, hat die Moderne schon hinter sich. Von dieser unterscheidet sie sich wie die Elektrizität von der Mechanik (14). Moderne meint hier die Medienepoche, die die demokratische, industrielle, und pädagogische Revolution hervorgebracht hat.  
Bereits 2007 hatte Baecker Studien zur Nächsten Gesellschaft veröffentlicht, daraus entstanden später (2011) 16 Thesen zur Zukunftsfähigkeit der Nächsten Gesellschaft, mittlerweile sind daraus 26 geworden (nachzulesen in seinem Blog).
Die Theorie darf nicht schlüssiger auftreten als die Gesellschaft, der sie gilt“ (12) – so besteht Baecker auf dem kursorisch- essayistischen, manchmal vorsichtigen und manchmal sehr detailliert definierenden Charakter des Buches. Der Aufbau ist dann überraschend schematisch. Die 26 Thesen entsprechen 26 Themen, die in den 26 Kapiteln abgehandelt werden. Ganz zum Schluß steht dann eine ziemlich erstaunliche tabellarische Übersicht (270/271). Dort kann man ablesen, wie einzelne Themen in den vier Medienepochen bewältigt wurden: Zu Wirtschaft findet man bspw. aufsteigend von der tribalen zur nächsten Gesellschaft Erfahrung, Besitz, Kapital, Daten; Organisation beginnt erst mit der zweiten (antiken) Gesellschaft als Institution, wird in der Moderne zur formalen Organisation, schließlich zur agilen Plattform.

Kontrollüberschuss in der Digitalen Gesellschaft;  Bild: kallejipp/photocase.de

Weniger schematisch sind die  Texte der einzelnen Kapitel selber. Vorab sind die jeweiligen Thesen ausformuliert, manchmal in geradezu aphorismischen Worten. Fast jedes der Kapitel würde sich, weiter ausgearbeitet, für einen eigenen Buchtitel eignen: “Das Individuum, vergesellschaftet”,  “Überwachte Gesundheit”, “Konsum mit Stil”, “Agiles Mißtrauen und organisierte Arbeit”, “Das Recht der Daten”, “Moral und Ethik des Guten Lebens”, “Der Tod als Löschvorgang” etc. – es sind Themen, die uns oft sehr konkret und aktuell interessieren. Hier enthält das Buch immer wieder neue Beobachtungen, Einsichten, zahlreiche  Referenzen (dass Luhmann beim Systemtheoretiker Baecker oft erwähnt wird, wundert nicht), die insgesamt das Thema Digitale Transformation neu (und sehr reflexiv) beleuchten.
In Summa geht es um die einzelnen gesellschaftliche Felder, wie Konsum, Sport, Religion, Recht, Liebe, Kunst, Arbeit, Technik, Management, künstliche Intelligenz etc., in denen durchgespielt wird, welche Antworten frühere Gesellschaften darauf gefunden haben und welche die nächste Gesellschaft  finden kann. Die Phänomene, um die es geht sind die der Digitalisierung: “Die Automatisierung der Industrie, die politischen Möglichkeiten der Überwachung, die massenmediale Bereitstellung von Plattformen für Arbeit, Konsum und Unterhaltung …”  – es wird deutlich, dass digitale Transformation der Gesellschaft, etwas viel weitgehenderes ist, als der immer wieder gehörte Spruch “in Wirtschaft und Gesellschaft” denken lässt.    

Merken sollte man sich den Kontrollüberschuss der digitalen Gesellschaft, der dem Kritiküberschuss der Moderne oder dem Referenzüberschuss der Sprache entspricht – Überschusssinn “bedeutet jeweils, dass ein Medium der Kommunikation mehr Möglichkeiten der Kommunikation bereitstellt, als je aktuell wahrgenommen werden können” (Baecker 2016).  Auch diese Begriffe gehen letztlich auf Niklas Luhmann “Verweisungsüberschuss von Sinn” zurück.

Das Sprachbild der Versionsnummern (4.0) scheint unwiderstehlich zu sein, wenn es um Digitale Transformation geht. Ob Ironie zur Industrie 4.0 und ihren zahlreichen Ableitungen versteckt ist, wer weiß?, erwähnt wird das andere 4.0 nirgends.

Wirklich klar, bzw. historisch fassbar wird eine Trennlinie zwischen der modernen und der nächsten Gesellschaft allerdings nicht. Baecker betont immer wieder die Zugehörigkeit der audiovisuellen Verbreitungsmedien (Kino, Radio, TV, Telefon, Fotografie) zu den elektronischen Medien der nächsten Gesellschaft. Heute sind diese in den digitalen Medien miteinander verschmolzen, haben aber in ihrer analogen Form das 20. Jahrhundert geprägt. Es ist diese Medienepoche, aus der  wir kommen.

Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt.. Merve Verlag, Leipzig 2018.  272 S. ISBN: 978-3-96273-012-3



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