Zukunft ist nicht vorhersehbar, aber doch lenk- und gestaltbar. Im Sommer 2017 wurden auf der Zukunftskonferenz in Berlin Ergebnisse aus dem Projekt D 2030 einer Öffentlichkeit vorgestellt. Es ging nicht um einzelne (Mega-) Trends oder lineare Prognosen, nicht um best- und worst- cases, sondern um eine Landkarte der Möglichkeiten, um Szenarien für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Raum Deutschland zum Jahre 2030.
Jetzt ist das zugehörige Buch erschienen. D2030 folgt der Methodik des Szenario- Managements, mit der Wege und Vorstellungen einer möglichen Zukunft sichtbar gemacht werden. Umgesetzt wurde die Methodik in einem partizipativen Verfahren – induktiv (bzw. bottom-up) in mehreren öffentlichen (online-) Dialogen.
Abb.: Landkarte der Zukunft mit den Kernfragen, S. 37 (grössere Ansicht nach Klick)
Klar voneinander unterscheidbare Szenarios wurden entworfen und sie werden sehr anschaulich beschrieben: Spurtreue Beschleunigung (wo wir landen, wenn wir uns gegen Veränderung stemmen); Neue Horizonte (Freiheit, Gerechtigkeit und offene Fragen im Wunschraum); Bewusste Abkopplung (Chancen und Gefahren eines deutschen Sonderweges); Alte Grenzen (vorwärts in die Vergangenheit). Die letzteren beiden (3 u. 4 in der Abb.) denken bestimmte Konstellationen weiter, spielen im weiteren aber keine grössere Rolle. Spurtreue Beschleunigung und Neue Horizonte mit ihren jeweils drei Varianten (s. Abb.) verdienen die Beachtung. Sie stehen als Gegenwartsraum und Wunschraum einander gegenüber.
Zielperspektive sind die Neuen Horizonte (Spielräume für die Zivilgesellschaft, Stärke durch Vielfalt u. Renaissance der Politik), entscheidend dafür ist die gelingende Verbindung ökonomischer und gesellschaftlicher Innovationen. Spurtreue Beschleunigung bleibt auf der Spur von Deregulierung und Privatisierung, Wirtschaftsinteressen vs. Nachhaltigkeitswerten, Wohlstandszuwächse kommen v.a. den ohnehin Privilegierten zugute. Die Veränderungen von dort zu Neuen Horizonten stellen die Frage nach einem Zielpfad, der Offenheit und Globalität mit Nachhaltigkeit und Gemeinschaftlichkeit verbindet, in den Vordergrund (105).
Ohne dahingehende Veränderungen ist im besten Falle ein Wohlfühl- Wohlstand zu erwarten, wahrscheinlicher eine gesellschaftliche Spaltung trotz wirtschaftlichem Erfolg. Letzteres Szenario wurde in den öffentlichen Dialogen trotz großer Ferne zur gewünschten Zukunft als wahrscheinlichste Perspektive (64 %) angegeben. Grundsätzlich geht es bei D 2030 darum, vernetztes und langfristiges Denken in sozialen, ökonomischen und politischen Entscheidungsprozessen zu verankern. Die Szenarios sollen nicht zeigen, was wird, sondern sie sollen als Denkwerkzeuge verdeutlichen, was möglich ist.
Abb. Einflußbereiche und Schlüsselfaktoren, S. 22 (grössere Ansicht nach Klick)
Methodisch basieren alle Szenarien auf jeweils mehreren Zukunftsprojektionen zu 33 Schlüsselfaktoren sechs Systembereichen (s. Abb.), die in den öffentlichen Dialogen bewertet und weiterentwickelt wurden.
Das Buch ist im wesentlichen eine materialreiche Projektdokumentation, inhaltlich wie methodisch; dazu kommen eine Reihe fiktionaler Berichte aus einigen Zukünften. Man erfährt eine Menge über die Methode Szenariotechnik, zu Hebelkräften und Schlüsselfaktoren, die Einfluß nehmen. Es gibt insgesamt 64 graphisch sehr gut aufbereitete Abbildungen. Alle Schlüsselfaktoren incl. der – jeweils 4-6 Zukunftsprojektionen werden ausführlich beschrieben.
D2030 versteht sich als Politikberatung, so wurde zur Bundestagswahl 2017 ein Memorandum verfasst, geht aber im Adressatenkreis an alle am öffentlichen Diskurs zur Zukunft der Gesellschaft bzw. zur Digitalen Transformation Beteiligten. Parteipolitische Präferenzen sind nicht zu erkennen, D2030 wird von einer breit aufgestellten Initiative aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft getragen. Man ist allerdings dem politischen Spektrum, dem Werte der Nachhaltigkeit und Subsidiarität naheliegen, zuzurechnen. Schließlich der Anstoß zu einem neuen Narrativ der Digitalisierung – jenseits technikfixierter Visionen (137). Gesellschaftlicher Wandel in Zeiten der Digitalisierung ist eben mehr als das, was etwa der seltsame, der Produktion entlehnte Begriff Gesellschaft 4.0 nahelegt.
Klaus Burmeister, Alexander Fink, Beate Schulz- Montag & Karl-Heinz Steinmüller .: Deutschland neu denken. Acht Szenarien für unsere Zukunft. Oekom Verlag, München 2018, ISBN: 978-3-96238-018-2; 246 S.
Wenige Titel seit der Jahrtausendwende hatten einen solchen Nachhall wie The Rise of the Creative Class (2002) von Richard Florida. Wann immer von Kultur- oder Kreativwirtschaft, von Strukturwandel, Stadtentwicklung, Standortpolitik und ihren weichen Faktoren, Diversity, aber auch von Gentrifizierung gesprochen wird, stehen bzw. standen Floridas Thesen im Hintergrund. Der “3T- Ansatz” Talent, technology and tolerance wurde zum festen Begriff im Wettbewerb der Standorte um innovative Menschen in der entstehenden Digitalwirtschaft. Und es gab Indices: Gay Index und Bohemian Index sollten die Einflüsse meßbar machen. An der öffentlichen Wahrnehmung gemessen war und ist der Aufstieg der kreativen Klasse eine äusserst erfolgreiche und wirkungsmächtige Geschichte.
The New Urban Crisis erschien im Frühjahr 2017, nach Trumpwahl und Brexit. Fünfzehn Jahre nach 2002 ist deutlich, dass es Gewinner und Verlierer gibt, Reiche wurden reicher, und es gibt eine neue Krise des Urbanen. Die urbane Krise der 60er und 70er Jahre war die der De- Industrialisierung und der Abwanderung der Mittelklasse in die Vorstädte, die neue ist die der Ungleichheiten zwischen den sozialen Gruppen, festgemacht an den Kategorien creative, Service und working class. Die 50 wirtschaftsstärksten Ballungsräume generieren weltweit 40% des Wachstums, aber es leben dort nur 7% aller Menschen. Die Clustering Force von konzentriertem Talent und ökonomischer Aktivität ist gleichzeitig Motor für städtisches Wachstum und Betreiber der Ungleichheit.
räumliche Segregation in der Bay Area/San Francisco (148) – (nach Klick wird die grössere Auflösung angezeigt)
Eine deutsche Übersetzung von The New Urban Crisis ist nicht zu erwarten (auch The Rise of the Creative Class wurde nie übersetzt)- das Buch bezieht sich weitgehend auf die USA, eingeschränkt Kanada und Großbritannien. (Kontinental)- europäische und deutsche Städte kommen nur am Rande vor: Sie weisen geringere Ungleichheiten und Segregation auf. Berlin kommt als urbanes Technologiezentrum, das sich gerade wegen seiner Bohème-Qualitäten bes. für Mikroentrepreneurs entwickelt, vor. Es gibt jede Menge Tabellen und Karten nordamerikanischer (+London) Städte und Ballungsräume, die die räumliche Segregation illustrieren, es gibt viele Rankings u.a. nach einem New Urban Crisis Index, in den u.a. Ungleichheiten in Einkommen, Bildung, und Segregation der unterschiedl. Klassen einfliessen.
Creative Class ist ein sehr charmanter Begriff, der nicht nur klassisch kreative Tätigkeiten umfasst. Florida bezog die sog. Creative Class Professionals ein, “to include people in science and engineering, architecture and design, education, arts, music and entertainment whose economic function is to create new ideas, new technology, and new creative content” (2002, S. 8; genaue Definitionen 2017, S. 231) – so zählen auch Finanzwirtschaft, Rechtsdienstleistungen und Verwaltungsposten zur Creative Class letztlich also das, was man insgesamt als wissensbasierte Dienstleistungen zusammenfasst. Die Abgrenzung überschneidet sich weitgehend mit dem Neuen Mittelstand bei Andreas Reckwitz. Dieser “kreativen” Klasse stehen Working Class (die bluecollar old economy) und Service Class ( von der Pflege bis zur Sicherheit) gegenüber.
Was bleibt? Lenkte der Begriff Creative Class um die Jahrtausendwende den Blick auf sich neu konstituierende Cluster, die Bedeutung eines kulturellen Umfeldes, die Anziehungskraft einer Umgebung der Vielfalt, wirkt er heute in dem sehr weitgefassten Bedeutungsumfang nur noch arrogant, fast neofeudal: Was macht die eine Klasse zu einer kreativen, die andere zu einer dienenden?
In den englischsprachigen Reaktionen wird zum einen hervorgehoben, dass The New Urban Crisis die Probleme der großen Urbanisierung Amerikas mit überzeugenden Daten aufzeigt und dazu durchdachte Lösungen für die Herausforderungen und Chancen bietet – deutlich negativer ist die Resonanz in Großbritannien, dort wird es tituliert als Richard Florida is Sorry, und es geht bis hin zur offenen Beschimpfung in Kommentaren als Wanker (Wichser).
Letztlich geht es um die Frage, wer Gewinner ist in der digitalen Ökonomie, und wie ein guter Ort zum leben beschaffen sein soll. In der Kultur des fordistischen Zeitalters wurde Regelbeachtung verlangt, darüber hinaus wurde man in Ruhe gelassen. In der Kultur der digitalen Welt ist das, was früher nicht im Mainstream war in den Wertschöpfungsketten eingepreist.
Richard Florida: The New Urban Crisis. Gentrification, Housing Bubbles, Growing Inequality, and what we can do about it. (UK Edition) London 2017, 480 S. ISBN: 978-1-518-78607-212-2 320 S.
Soziologische Monographien der letzten Jahrzehnte erschienen bezeichnenderweise immer wieder unter Titeln, die von einem einzelnen Begriff aus das Gefüge spätmoderner Gesellschaften aufrollen: Risiko-, Erlebnis-, Multioptions-, Abstiegs- gesellschaft, Resonanz als Weltbeziehung etc. – bei Andreas Reckwitz geht es nun um Singularitäten als solche. Mit einigen Abstrichen befassen sich alle diese Titel mit Erscheinungen des Übergangs von der klassischen Industriegesellschaft zur Spätmoderne, bei Ulrich Beck (Risikogesellschaft)z. B. Erste und Zweite Moderne genannt. Reckwitz’ Thema ist die kulturelle Transformation von der industriellen Moderne zur Spätmoderne. Vorausgegangen war „Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“ (2013).
Kernthese des jetzt (10/2017) erschienenen Buches ist ein Bedeutungsverlust des Allgemeinen (d.h. auch des Konformen und Konventionellen) gegenüber dem Besonderen. An die Stelle normbildender Gleichheit, die sich vielfältig niedergeschlagen hatte, so “in Volksparteien, im keynesianischen Steuerungs- und Wohlfahrtsstaat, in Massenmedien und Fernsehkultur” (Die Zeit, 4.10.17), ist das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, ein expressives Selbst, das nicht nur einfach den Konventionen folgt, getreten. Träger ist die mit der Bildungsexpansion gewachsene akademisch gebildete Neue Mittelschicht mit dem Anspruch an ein gutes Leben. Kennzeichnend sind die Suche nach authentischen Erfahrungen in Beruf, Privatleben und Freizeit und einem ästhetischen und ethischen Anspruch an das eigene Leben.
Singularitätsmarkt CraftBeer
Singularisierung ist mit Kulturalisierung verbunden, d.h. Güter und Dienstleistungen werden mit Wert bedacht – valorisiert, erhalten eine narrativ- hermeneutische Dimension. Am augenfälligsten sind Singularisierungen in Lebensstil und Konsum. So beim Essen – ein Connaisseurtum wird nicht nur beim Wein gepflegt. Genuß- und andere Lebensmittel wie CraftBier, Kaffee, Schokolade, Beef, Ethnic Food etc. bieten Gelegenheit dazu. Bausteine eines singularistischen Lebensstils finden sich in den meisten Lebensbereichen: Wohnen, Reisen, Mode, in allen Sparten von Kultur und Sport, im gesellschaftlichen Engagement – und im Verhältnis zum eigenen Körper. Der Kulturbegriff ist längst so weitgefasst, dass er alle Formen von Hoch- und Popularkultur genauso umfasst, wie Alltagskulturen jeglicher Herkunft aus Gegenwart und Vergangenheit. Der Bogen reicht von Paläo- Diät zu Industriekultur, Fußball- und Games- bis etwa zur Sneakerkultur, entscheidend ist der Anschluß an Narrationen. Handwerkliche Herstellung, Manufakturwaren erleben ein Revival. Im Kulturkapitalismus wird die Singularität eines Gutes zu dessen Kapital (172).
Singularisierte Arbeit im Projektteam Bild: time. / photocase.de
In der postindustriellen (= spätmodernen) Gesellschaft transformiert sich die Arbeitswelt. In innovationsgetriebenen Branchen (Wissens- u. Kulturökonomie, Digitales) treten Projektstrukturen und Netzwerke an die Stelle der hierarchisch- arbeitsteiligen Matrix. Dieser Arbeitsmarkt fordert ein möglichst einzigartiges Profil von Kompetenzen und Potentialen (182) – und deren Umsetzung in einer angemessenen Performance. Intrinsische Motivationwird erwartet. Der Mitarbeiter/Selbstunternehmer hat beständig an seiner Arbeitsmarktfähigkeit/Employability zu arbeiten. Markterfolg ist abhängig von seiner Performance mit einer in sich stimmigen Besonderheit – erstrebenswert ist eine gelungene Balance zwischen Konzentration und Lässigkeit im Auftritt. HR Management kommt die Identifizierung und Förderung von Besonderheiten zu. Nebendem bestehen routinisierte und zunehmend automatisierte – profane – Arbeiten weiter: “Die Arbeit ist profan, wenn der Arbeitnehmer austauschbar ist (und sich selbst auch so wahrnimmt), und sie ist singulär, wenn das nicht der Fall ist” (185). Lovely Jobs und Lousy Jobs liegen oft nahe beieinander.
Von der industriellen Moderne zur Kreativ- und Wissensökonomie in der Spätmoderne
Inwieweit wird “Die Gesellschaft der Singularitäten” dem Anspruch als Zeitdiagnose gerecht? Die Erosion der industriellen Logik, Individualisierung, der Abschied von einer Gesellschaft der Normarbeitsverhältnisse mit arbeitsrechtlichen und sozialstaatlichen Absicherungen, Konvergenzen von Neoliberalismus und Gegenkultur, die „Creative Economy“ sind seit einigen Dekaden Thema.
Reckwitz bezieht sich immer wieder auf letztere,erweitert als experience economy, als der treibenden Kraft der postindustriellen Wirtschaft. Neben der Kreativ- und Wissensökonomie (incl. der Digitalwirtschaft) im engeren Sinne fallen Sport, Tourismus, Entertainment, Gastronomie etc., auch Teile von Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion, Gesundheitswirtschaft, das Umfeld von Beratern, Start-Ups, Influencern, Solopreneuren aller Art, darunter – soweit sie der Logik der kulturellen Singularitätsgüter entsprechen: Authenzitätsanspruch, Erlebnisqualität, maßgeschneiderte Produkte und Problemlösungen. Kulturkapitalismus bzw. Kulturökonomisierung hat hier seinen Ursprung. Akteure und Unternehmen entstammen oft lokalen oder subkulturellen Inkubationszentren.
Im Konzept der Singularitäten fügen sich ganz unterschiedliche Phänomene der Spätmoderne zusammen: in Lebensstil und Konsum, auf den Märkten und dem Arbeitsmarkt, in der Erziehung und im Wettbewerb. Auf der individuellen Ebene z.B., wenn die eigene Arbeit und die eigene Performance beständig valorisiert und abgeglichen werden. Konzepte wie New Work oder Storytelling erscheinen neu beleuchtet. Ein schöner Satz: Im Modus der Singularität wird das Leben nicht einfach gelebt, sondern kuratiert(9). Gesellschaftliche Prozesse, die seit einigen Jahrzehnten stattfinden, verstärken und beschleunigen sich sich mit der Digitalisierung (vgl. Kultur der Digitalität von F. Stalder).
Recknitz stellt die einzelnen Felder äußerst detailreich dar, manchmal erscheinen seine Ausführungen etwas überakzentuiert. Ein Buch das Zeit braucht, immerhin knapp 500 Seiten.
Weniger folgen kann ich ihm dort, wo er von einer Neuen Klassengesellschaft spricht (FAZaS, 22.10.17), zumindest in der Form, in der die Neue Mittelklasse einer Alten Mittelklasse und einer Neuen Unterschicht gegenübersteht – und er dazu die (kleine) vermögende Oberschicht der Neuen Mittelklasse zuschlägt. Recknitz stuft den Anteil der Neuen Mittelklasse auf ca. 1/3 der Bevölkerung ein – in Anlehnung an vier der Sinus- Milieus. Kulturelle Bruchlinien sind wohl zu erkennen, doch sind Gemeinsamkeiten zunächstbegrenzt: kulturelles Kapital, ein Ideal der Selbstverwirklichung, Zugang zu den öffentlichen Diskursen, eine mehr oder minder expressive Performance. Das Risiko der Prekarität, des Sich-Durchwurschtelns (Muddling through) trifft nicht nur eine Unterklasse. New Work schafft Macht in Unternehmen und Organisation nicht ab. Auch die Creative Economy ist zumindest entzaubert. Reale Machtunterschiede treten immer wieder hervor, so etwa auf dem Immobilienmarkt.
Gelegentlich wird von einem Auseinanderfallen, gar einer Atomisierung der Gesellschaft gesprochen. Für die großen normsetzenden Organisationen und Milieus mag das gelten – und Reckwitz spricht beinahe nostalgisch vom Verschwinden der sozial angepassten Persönlichkeit (9), des klassischen Kleinen Mannes. Was sich verändert hat, ist die Figuration von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Charakteristisch sind z.B. interessenbestimmte Neogemeinschaften und sich immer wieder neu nach jeweils singulären Merkmalen zusammenfügende Teilöffentlichkeiten. Und wer danach fragt: Es wird auch weiterhin Raum für ein sozial angepasstes Leben geben.
Es hat den Anschein, dass die Forderungen der sog. Künstlerkritik, die sich gegen Entfremdung imfordistischen Kapitalismus richtete – Freiheit, Autonomie, Sinn, Authentizität und auch Spaß einforderte – zumindest partiell zu einem Leitbild wurden. Kein entfremdeter Konsum und keine entfremdete Arbeit, sondern kuratierter Konsum und kuratierte Arbeit. Demgegenüber steht die Sozialkritik, die Solidarität, Sicherheit und Gleichheit einfordert.
Merken sollte man sich einige Begriffe und Konzepte: die Valorisierung kultureller Praxis im weitesten Sinne. Valorisierung bedeutet zunächst eine Wertzumessung ästhetischer, ethischer oder körperlich erfahrbarer Art (Einbindung in eine Narration/Storytelling zählt dazu), schließt eine kommerzielle Verwertung aber nicht aus. Man kennt es aus der Markenbildung, von Stadtmarketing, Eventgastronomie etc.
Ebenso Serielle Singularitäten (135) – dieser Begriff kommt bei Reckwitz zwar nur am Rande vor, trifft aber die algorithmisch geschaffenen Singularitäten. Im Plural werden Singularitäten nicht zu Massengütern – sondern zu personalisierten seriellen Singularitäten.
Politische Planungs- und Steuerungsphantasien, wie sie noch die industrielle Moderne prägten, prallen an der Gesellschaft der Singularitäten ab (442), Politik wird immer öfter zur Moderation.
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S. ISBN: 978-3-518-58706-5. Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017
“Fast drei Jahre Arbeit für mich, kaum ein Tag lesen für euch. Hoffentlich ein fairer Deal.” Ganz so schnell und flüssig, wie in seinem Blog angekündigt, liest und erschliesst sich Kultur der Digitalität, immerhin 283 Seiten, des Schweizer Medienwissenschaftlers Felix Stalder nicht. Das Buch erschien bereits im Mai 2016, so wurde schon einiges dazu gesagt und geschrieben – aus unterschiedlichen Perspektiven. Kultur ist ein Begriff mit mehreren Bedeutungsebenen. Zum einen die kulturelle Produktion und Rezeption, die sich in Sparten gliedert, zum anderen eine Art Formatierung von Gesellschaft und Teilgesellschaften – in begrifflicher Konkurrenz zu Zivilisation. In den Cultural Studies gibt es die Formel “the whole way of life of a group of people”. Wir sprechen von Hochkultur, Volkskultur, Pop(ular)kultur, von Subkulturen und Unternehmenskulturen, von Esskultur, Nutzungskultur, Kulturwirtschaft und manchmal auch digitaler Kultur. Mit letzterer sind mal Games und andere Sparten, deren Werkstoff Software ist, mal die Standards im Umgang mit digitalen Medien und Techniken gemeint.
Kultur der Digitalität meint die von einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur geprägte Lebens- und Arbeitswelt. Das Buch besteht aus drei Teilen: Der erste handelt von den Wegen in die Digitalität – den Voraussetzungen; im zweiten geht es um die Formen, erkennbare Eigenschaften die kulturelle Prozesse in der Digitalität annehmen; im dritten Teil um politische Perspektiven: Postdemokratie und Commons.
In einem Interview präzisiert Stalder seine Begrifflichkeit von Kultur als der Summe aller Aushandlungsprozesse geteilter Bedeutung: über das, was schön ist und was nicht, was erlaubt oder verboten, was wichtig und was unwichtig ist, etc. (16). Solche Prozesse finden in der gesamten Gesellschaft ebenso wie in Teilbereichen statt. Manche Themen sind abgeschlossen, andere offen bzw. umstritten. Kultur ist nichts Statisches, sondern ein Feld der Auseinandersetzung. Digitalität ist das Muster, die Ordnung, die diese Prozesse angenommen haben. Keine einseitige Folge technischer Innovationen, die neuen Technologien trafen auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse (21), die in die vergangenen Jahrzehnte zurückreichen. Die Wurzeln reichen ebenso in die Neuen Sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre, wie in neoliberale Ideen und Politik. Wenn auch mit unterschiedlichem Hintergrund operierten beide mit Begriffen der persönlichen Freiheit und gesellschaftlicher Flexibilisierung.
Waren diese Entwicklungen zunächst nur in Nischen spürbar, durchdringen sie nun die Gesellschaft als Ganzes. Digitalität verweist auf die neuen Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung von Akteuren, Inhalten und Ideen, ein relationales Muster, das bestimmend wird (18). Expressivität, die Fähigkeit Eigenes zu kommunizieren (93), wird nun zu einer Kompetenz, die von allen erwartet wird, Filterung und Bedeutungszuweisung zu Alltagsanforderungen.
Digitalität
Drei kulturelle Formen der Digitalität sind zentral: Referentialität meint die “Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion” – wir kennen es zum einen aus Remixes, Collagen, MashUps, Coverversionen, Inszenierungen wie Cosplay: Einzelne Elemente, oft aus dem Fundus derPopkulturwerden mit neuer Bedeutungszuweisung zusammengeführt.
Im Netz werden fremderstellte Inhalte kuratiert bzw. in den eigenen Kontext eingebunden, das reicht von der anmoderierten Verlinkung bei Twitter zu kuratiertem Journalismus und Content. Pinterest sowieso. Gemeinschaftlichkeit Die großen Mechanismen der Vergesellschaftung verlieren an Einfluß – explizite normative Zwänge nehmen ab, implizite ökonomische zu. Die einst prägenden Organisationen lassen in ihrer Bindungskraft nach – so Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Vereine. Stalder orientiert sich am empirischen Konzept der Community of Practice:informeller, aber strukturierter Austausch, gerichtet auf neue Wissens- und Handlungsmöglichkeiten, reflexive Interpretation der eigenen Praxis (136).
Immer mehr Menschen können und müssen zwar selbstverantwortlich handeln, ohne jedoch auf die Bedingungen, die soziale Textur, unter denen dies geschehen muss, Einfluss nehmen zu können. Persönliche Positionierung im eigenen Netzwerk wird bedeutsam, die Frage “Wer ist in meinem Netzwerk und was ist meine Position darin?” (140) kommt auf. Im gelungenen Falle geht es um flexible Kooperation. Algorithmizität Ohne auf Algorithmen beruhende automatisierte Verfahren wären die Möglichkeiten der digitalen Welt kaum nutzbar. Als automatisierte Personalisierung steuern Algorithmen Werbung, mit Zuordnungen und Sortierungen beeinflussen sie kulturelle Prozesse. Und ihre Bedeutung nimmt in immer komplexeren Vorgängen zu, z.B. in der Automobilität.
Der dritte Teil des Buches ist Ausblick mit den Kontrasten Postdemokratie und Commons. So folgt der Aufstieg der kommerziellen sozialen Massenmedien keinem technologischem Imperativ, sondern Folge einer spezifischen politisch-ökonomisch-technischen Konstellation (209).
Kultur der Digitalität ist ein weitgefasster Entwurf zur Entwicklung der digitalen Gesellschaft. Nicht im Sinne der technischen Durchsetzung – sondern dem ihrer Textur, der grundlegenden Strukturierung. Es gibt einen großen Bogen von der beginnenden Transformation bis hin zur Postdigitalität. Themen wie die Wissensökonomie, Erosion der Heteronormativität, Postkolonialismus werden behandelt. Manches entspricht dem, was anderswo als Prozesse der Individualisierung und Informalisierung beschrieben wird. Das Werk von Manuel Castells (Die Netzwerkgesellschaft) und das Modell des Neuen Sozialen Betriebssystems stehen im Hintergrund.
Das grundlegende Thema bleibt die Verhandlung von sozialer Bedeutung in kulturellen Prozessen. Kultur der Digitalität lässt sich auch in Anlehnung an Norbert Elias als ein Prozess der Digitalisierung verstehen. Der Satz “Das Feld der Kultur ist von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen” (17) erinnert zumindest an das Konzept der Machtbalance.
Ausgangspunkt des Buches ist MacLuhans These vom Ende der Gutenberg-Galaxis, vom Ende des Buches als Leitmedium. Es zeugt von dessen Langlebigkeit, wenn auch solche Texte als Buch (und E-Book) erscheinen. Edition Suhrkamp kann als Referenz zu den sozial- und geisteswissenschaftlichen Autoren gelten, die in den vergangenen Jahrzehnten darüber Verbreitung fanden. Was man vermisst ist ein Literaturverzeichnis. Quellen und Zitate sind zwar mit Fussnoten gut dokumentiert, ohne ist das Querlesen aber mühsam.
Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679; 283 S., 18 €