Wer sind die “Neuen Eliten”?

Sehen so Eliten aus? Bild: Gisa / photocase.de

Wer sind überhaupt diese kosmopolitischen liberalen Eliten, von denen immer wieder die Rede ist? Seit dem Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen,  spätestens der Trump- Wahl kommt der Begriff in mehreren Varianten immer wieder vor – und dient dabei als Gegenpol,  Grenzen zwischen gesellschaftlichen und politischen Lagern zu markieren. In sozialwissenschaftlicher Forschung  ist  der Begriff  der Eliten grundsätzlich klar: gemeint sind Macht- und Führungspositionen v.a. in der Wirtschaft, dazu Politik, Wissenschaft, Justiz, Medien – diese Elite ist klein und reich (vgl. Hartmann, 2018). Dagegen tauchen zu den Neuen Eliten ganz andere Bestimmungen und Grössenordnungen auf.
Spätestens in der global vernetzten Ökonomie ist ein kosmopolitischer Habitus kulturelle Voraussetzung – und so prägt das iconische  Bild der gut ausgebildeten, kosmopolitisch orientierten Leute aus der Wissens-/ Kreativ-/ Digitalökonomie und auch der Finanzwirtschaft die Vorstellung.  Aber sind sie deshalb gleich alle Elite – und überhaupt als soziale Formation erkennbar?

Elite kann als Auszeichnung verstanden werden, genauso mit Stereotypen von Dünkel, Überheblichkeit und Arroganz belastet sein, oder auch ironisch, sarkastisch bis belustigt verwendet werden, wenn die vermeintliche Elite  sich nur als solche inszeniert.
Zieht man Bourdieu heran, dann macht erst symbolisches und kulturelles Kapital eine Elite aus: Prestige, soziale Anerkennung, Stil und Souverainität im Auftritt. Eliten entwickeln einen Habitus mit Vorbildcharakter, inszenieren sich in einem bestimmten Stil mit erkennbaren Codes, oft dezent mit Understatement und feinen Unterschieden. Liberale Eliten stehen für eine Öffnung des Systems von Privilegien und dem Zugang dazu, konservative für dessen Bewahrung (revolutionäre für die Zerschlagung).

In den USA sind liberale Eliten ein fester Topos, geographisch an den Küsten verortet: Ostküsten-Establishment steht für klassische liberale Eliten, urbane Intellektuelle, die Elite- Universitäten der Ivy League. Mit der Westcoast verbindet man v.a. Hollywood und seit einigen Jahrzehnten Silicon Valley – wo sich ein ganz neuer Habitus von Eliten herausbildet.
Eine sichtlich ungebrochene Vorstellung von Eliten gibt es in Großbritannien und Frankreich. In beiden Ländern hat sich ein ausgeprägter Eliten- Habitus herausgebildet, der in Elite- Einrichtungen weitergegeben wird: Oxford, Cambridge, Grandes écoles.
Im wirtschaftsstolzen Nachkriegsdeutschland traten Eliten kaum durch einen kulturell bestimmten Habitus hervor (was sich auf pers. Ebene sicher überschneiden kann). Zumindest ergab sich daraus ein Freiraum, der zum Teil von einer sich als progressiv verstehenden Kulturszene besetzt wurde.

Andreas Reckwitz schreibt in Gesellschaft der Singularitäten (2017) von einer vom Kulturkosmopolitismus geprägten Neuen Mittelklasse,  in der sich das Ideal des sich selbst entfaltenden Individuums, durchgesetzt hat. Der Begriff Elite wird offensichtlich vermieden, erscheint bei ihm erst im folgenden Buch Das Ende der Illusionen (2019) als Fremdzuschreibung seitens des Gegenpols, den kulturessentialistischen Strömungen.  Letztlich treffen Merkmale dieser Neuen Mittelklasse  auf ca. 1/3 der Bevölkerung zu.
Genau diese Neue Mittelklasse scheint in den Diskussionen mit einer liberalen Elite durcheinander zu geraten. Ganz unschuldig ist Reckwitz daran nicht. Der Rahmen der Neuen Mittelklasse ist zunächst sehr weit gezogen und  schliesst  die kleine vermögende  Oberschicht ebenso ein, wie  diejenigen, die mehr oder weniger mit dem Risiko der Prekarität, des Sich-Durchwurschtelns (Muddling through), leben. Erst im Folgeband setzt er die vermögende Oberschicht, die einer klassischen Elite entspricht, deutlich von der Neuen Mittelklasse deutlich ab.

Im Blog Ruhrbarone stellt Stefan Laurin in dem Longread  Die neuen Eliten: Der Dinkelbrötchen kauende Dünkel die Frage, wer und wieviele die liberalen Eliten sind – was sie dazu macht und warum sie als solche angesehen werden. Eine Antwort darauf findet er nicht, schwadroniert dann darüber, wieso auf einmal Lehrer, Sozialarbeiter oder prekär lebenden Kreative zur Elite zählen sollen, und findet dann die Anstifter: “Ein kleiner, ökologisch und kosmopolitisch gesonnener Teil der alten, wohlhabenden Elite hat es geschafft, durch sein Lebensmodell etlichen Menschen in der Kreativwirtschaft, dem Öffentlichen Dienst und den Geisteswissenschaften zum Vorbild zu werden”. Auf dem Kieker hat er v.a. Die Zeit (die Wochenzeitung), die ihre Leserschaft mit Traktaten ökologisch korrekter Lebensweise versorgt, im Merchandising dann Kreuzfahrten und überteuerte Luxusuhren verhökert.
Bei Alexander Grau So weltoffen, so borniert! (Tagesspiegel 26.11.19),  reichen bereits Laptop und Rennrad in einem minimalistischen Raum (Parkett oder Laminat?) um die Lebenswelt einer neuen, globalen Elite zu illustrieren. Grau bezieht sich wohl auf Reckwitz, spricht dann aber nicht von einer Mittelklasse, sondern gleich von einer Elite, deren Status auf kulturellem Kapital beruht und die sich selber als Speerspitze des Fortschritts sieht. Der Elitenanspruch wird  vor allem über Werte, Normen und Lifestyle definiert, so kann auch jener sich als Angehöriger der neuen globalen Klasse fühlen, der sich mit prekären Jobs durchs Leben schlägt. Es geht um die kulturelle Deutungshoheit.
Seine besondere Kritik, eigentlich die besondere Abneigung, gilt der Moral dieser Klasse. Eine Moral, die penetrant nach aussen getragen wird und sich für alternativlos hält. Konkrete Beispiele dieser Moral nennt er nicht, aber die Werte auf denen sie beruht – und diese entstammen geradezu einer Mésaillance von Kapitalismus  und linken Emanzipationsbewegungen: Diversität, Flexibilität, Identitätstransformation, Offenheit, Buntheit, Begeisterungsfähigkeit etc.  Diese werden von CEOs, Consultants und Business-Schools ebenso wie von linksliberalen Medien verbreitet  Sicher gibt es Konvergenzen.  Die Thesen wirken allerdings arg konstruiert (dazu auch die Aufzeichnung eines Vortrags)Rechtskonservatives Dandytum fiel mir spontan ein.

Passend zu den Statements von Grau betont Cornelia Koppetsch in Die Gesellschaft des Zorns (das Buch wurde mittlerweile aus dem Handel zurückgezogen), dass die rechtspopulistische Opposition sich nicht gegen die kleine Elite der Superreichen, sondern die kulturelle Vorherrschaft einer relativ breiten akademisch-kosmopolitischen Ober- und Mittelschicht (121) richtet. Gezeigt wird diese Gegnerschaft weniger in ausformulierter Kritik, als in Herabwürdigung und Belustigung von Symbolen kosmopolitischer Gesinnung. An anderer Stelle attestiert Koppetsch Rechtspopulisten einen anti- elitären Impuls.

Carlo Strenger, kürzlich verstorbener israelisch- schweizerischer Philosoph und Psychoanalytiker,  erzählt exemplarische Geschichten aus seiner therapeutischen Praxis.  Das ergibt ein lebensnäheres Bild. Es geht um Menschen aus der gebildeten oberen Mittelschicht, die aus psychologischer Notwendigkeit den Lebenswelten, in denen sie hineingeboren wurden  entfliehen und sich ihre Lebensweise selber erarbeiten.  Sie wollen angesehene und geschätzte Mitglieder von Gruppen sein, deren übrige Mitglieder sie achten und auf deren Urteil sie wert legen (129).

Richard Florida wird immer wieder als Stichwortgeber herangezogen. Auf ihn geht das so wirkungsmächtige Konzept der Creative Class (2002) ebenso zurück, wie deren breite  Auslegung auf 20- 30% der Bevölkerung. Zahllose Wirtschaftsförderungsprogramme, die Städte für die Cluster der Kreativwirtschaft attraktiv machen sollten, haben sich daran orientiert. Mag es damals sinnvoll gewesen sein, Bedeutung und Besonderheiten dieses Clusters zu betonen, werden so nach heutigen Maßstäben sehr inhomogene Welten zusammengefasst.  Ökonomische  Ungleichheiten werden ignoriert. Aus statistischen Gründen umfasst die Creative Class auch Finanz- und Rechtsdienstleistungen, vgl. The New Urban Crisis (2017).

Tummelplatz Neuer Eliten? re:publica in Berlin

Die Beiträge um Neue/liberale Eliten spiegeln die mittlerweile geläufige, oft stereotype,  Erzählung der gesellschaftlichen und politischen Bruchlinie zwischen Progressisten und kulturessentialistischen  Traditionalisten bzw.  Globalisierungs- und Digitalisierungsgewinnern vs. Abgehängte.  Inwieweit diese Grenzziehung berechtigt ist, ist eine weitere Frage – die Wirklichkeit ist unübersichtlicher. Wortführer letzterer entstammen oft konservativen Eliten – oder sind selber global agierende Unternehmer. Knackpunkt aller Diskussionen zum Thema ist die Frage nach den Konvergenzen  beider Liberalismen, des emanzipatorischen Kultur-/Bürgerrechts- und des Wirtschaftsliberalismus. Sind die wirtschaftlich erfolgreichen gleichzeitig auch Träger von Werten, die ihnen vorgehalten werden? Niemand will von Privilegierten auch noch Ratschläge zur richtigen Lebensführung hören.
Das Labeling “Neue Eliten” und seine Erweiterung auf eine Grundgesamtheit mit kulturellem Kapital wirkt schon fast bizarr, ist aber als Teil einer Umdeutung von Begriffen zu verstehen – es geht darum, anti- elitäre Impulse in eine Richtung zu lenken. Kulturelles Kapital bedeutet heute v.a. den Zugang zu Öffentlichkeiten. 

Werte und Haltungen erwachsen aus Grundüberzeugungen. Eine davon ist, dass jedem Menschen die gleichen Rechte zustehen. Nicht nur aus vor dem Gesetz, genauso in den Entwicklungsmöglichkeiten, dem eingeforderten Respekt. Wahrscheinlich wird erst jetzt das ganze Versprechen demokratischer Verfassungen allen bewusst.

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017; Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S.   Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten: Wer sie sind und warum wir sie brauchen (edition suhrkamp) 5/2019; Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.    Transcript Verlag, Bielefeld 2019.; Alexander Grau: So weltoffen, so borniert! Tagesspiegel. 26.11.2019. Stefan Laurin: Die neuen Eliten: Der Dinkelbrötchen kauende Dünkel. Ruhrbarone. 3.02.2020,; vgl.: Michael Hartmann: Die Abgehobenen: Wie die Eliten die Demokratie gefährden, 8/2018



Muster – \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft (Rez.)

Mustererschien Ende August, ist inzwischen in der dritten Auflage – und hat die ganze mediale Aufmerksamkeit erhalten, die soziologische Werke in der deutschsprachigen Öffentlichkeit überhaupt erreichen können. Zu kaum einer anderen Neuerscheinung gab es so viele Rezensionen, so viele Interviews. Der Untertitel \\\Theorie/// der digitalen Gesellschaft setzt einen Anspruch zum Standardwerk.

Für welches Problem ist Digitalisierung die Lösung? Mit dieser (methodischen) Leitfrage eröffnet Armin Nassehi seine Sichtweise auf Digitalisierung. Die Antwort ist sperrig, dem systemtheoretisch- funktionalistischen Ansatz konform:  “Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmässigkeit der Gesellschaft selbst (28).” Verständlicher wird sie mit den im Abschnitt “Die digitale Einfachheit der Gesellschaft” (173-177) formulierten Thesen, wo es u.a.  heisst: “Die leistungsfähige Digitaltechnik folgt demselben Muster wie die gesellschaftlichen Funktionssysteme (176) …” – das bedeutet eine Art Spiegelung bzw. Verdoppelung der Welt durch digitale Daten (109).

Mustererkennung. Bild: photocase.de/ma

Mustererkennung bedeutet in dieser Fülle von Daten (Big Data) Gesetz- und Regelmässigkeiten zu erkennen, Wahrscheinlichkeits- beziehungen in Datensätzen freizulegen (35). Alles was geschieht kann Spuren in Form von Daten hinterlassen, es muss nur irgendwo aufgezeichnet werden. Verkehrsströme, Bewegungsverhalten, Kauf- bzw. Marktentscheidungen,  gezielte und Gelegenheits- Kommunikation (z.B. in Social Media), Körperfunktionen, Sprache, Wetter u.v.m. – Mustererkennung ist Voraussetzung weiterer Verarbeitung und  Nutzung von Daten – Algorithmen funktionieren auf dieser Grundlage. Keine Spracherkennung, kein Mobilitätsmanagement, keine personalisierte Werbung, keine Steuerungstechniken, keine KI ohne Mustererkennung.

Ein ebenso passender Titel wäre die dritte Entdeckung der Gesellschaft. Mit der Digitalisierung entdeckt sich die Gesellschaft neu, wird sich ihrer selber bewusst – zum dritten male. Die erste Entdeckung der Gesellschaft, d.h. als sie selber anfing, sich als solche zu verstehen,  begann mit Aufklärung und franz. Revolution – eine Erfahrung von Gestaltbarkeit anstelle der Fortsetzung von Traditionen, längerfristig ging daraus die Soziologie als eigenständige Wissenschaft hervor. Ab etwa 68 folgte eine zweite Entdeckung, als man Erkenntnisse anwenden und Sozialstrukturen in einem emanzipatorischen Sinne zu ändern bestrebte.
Die dritte, digitale Entdeckung der Gesellschaft bedeutet, dass nun in ständiger Spiegelung die latenten Muster sichtbar werden, die soziale Ordnung bestimmen. Diese ist kaum noch an äusseren Kennzeichen erkennbar, sondern in den kumulierten Datenspuren (vgl. 46-54).
War die Moderne längst vor Beginn der Digitalisierung digital und ist letztere gar nicht so disruptiv? Nassehi bezieht sich u.a. auf die Anfänge der Sozialstatistik im 19. Jh., als man begann Daten zu sammeln und bald deren Wert für das Verwaltungshandeln erkannte. Empirische Sozialforschung deckt seit ihren Anfängen Muster auf, die ohne Forschung unsichtbar blieben, mit ihr methodisch kontrolliert sichtbar werden (55). Big Data vervollkommne letztlich nur die Erfassung und Vermessung der Gesellschaft, die lange vorher begonnen hat  (316).

Digitaler Boden. Bild: quaiko

Digitalität beruht auf der maximal simplen Codierung von Informationen (Daten) im binären Muster –  Daten jeglicher Art und unterschiedlichster Quellen aus einer mit Sensoren und Messpunkten ausgestatteten Gesellschaft können und werden in diesen Code übersetzt und in vielfältigster Weise zusammengeführt, rekombiniert. Gerade die binäre Einfachheit macht Digitalisierung so vielfältig und geschmeidig.
Nassehi schliesst moderne Funktionssysteme daran an (vgl. 173), die ebenso binär
kodiert sind.
Nassehis Impetus ist die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion dessen, was mit dem Begriff der Digitalisierung belegt ist  (15). Ganz wesentlich ist die Parallele (mir kommt schon der – überzogene – Begriff “Wesensgleichheit” in den Sinn) zwischen der technischen und der gesellschaftlichen Ebene.  Erklärungsrahmen ist Systemtheorie. Funktionssysteme, Störung (eines Systems), Katastrophe (einer Gesellschaft) – die Begriffe werden in diesem Sinne gebraucht.

Manche Passagen lesen sich sich flüssig mit Formulierungen, die man sich merkt, andere spröde, etwas angestrengt, im für Systemtheorie typischen Duktus. Mal wird im Plauderton gelästert (Mischung aus kritischer Attitüde und alltagsnaher Beschreibung in der Soziologie,  S. 13) – auf einer langen Strecke geht  es um die Anbindung an  Wissenschaftstheorie und Philosophie; Husserl, Heidegger, de Saussure und auch Kybernetik kommen vor.
Wo es um konkrete gesellschaftliche Themen geht, wird es gleich wieder flüssiger: Das Internet als Massenmedium (263-292), der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit (300), Gefährdete Privatheit (293 -315).  Im Kapitel Digitaler Stoffwechsel geht es um die materielle Dimension.
 Themen, die in den vergangenen Jahren ausgiebig diskutiert werden, hier erhellend zusammengefasst. 

Fast unvermeidlich kommt der Gedanke, die Eingangsfrage umzukehren: “Für welches Problem bietet dieses Buch eine Lösung?” (auch anderen Rezensenten kam die Idee).
Eine abschliessende Synthese gibt es nicht – wohl einen Debug zur Wiedergeburt der Soziologie aus dem Geist der Digitalisierung (318-327) sowie die oben erwähnten Thesen (175-177). Zentral sind Musterbildung und – ausdeutung, die Möglichkeiten der Rekombination, die Verdoppelung der Welt – aber ist das bereits eine allgemeingültige Theorie der digitalen Gesellschaft? Kann es denn eine solche Theorie geben, in der Macht und die Verteilung von Ressourcen nicht weiter thematisiert werden? Anscheinend geht es auch darum, Begriffe, Sichtweisen und Argumentationslinien der Systemtheorie in der Digitalisierungsdebatte zu festigen. Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff kommt wohl im Kapitel zu Sinnüberschussgeschäften vor. Bei ihr geht es um die Geschäftsmodelle der grossen Digitalunternehmen, die letztlich zu einer Etablierung neuer instrumentärer Macht führt, die den Rahmen kommerzieller Aktivität überschreitet. 

Dass Technologien (und andere Neuerungen) nur dann erfolgreich sind, wenn sie an Dispositionen in einer Gesellschaft anschliessen – eine Selbstverständlichkeit. Würden sie es nicht, würden sie auch nicht weiterentwickelt. Kann man aber Digitalisierung mit der Sozialstatistik des 19. Jh beginnen lassen? Warum nicht gleich mit den Volkszählungen antiker Grossreiche? Mehrfach wird untergeschoben, Digitalisierung würde immer wieder als Kolonialisierung erlebt, stimmt das? Kaum eine andere Technologie wurde derart begrüsst, geradezu umarmt.  Wenn sie so erlebt wird, dann, wenn unter ihrem Label Machtverschiebungen durchgesetzt werden. Etwa, wenn ein Unternehmensberater vor die Belegschaft tritt und unbequeme Massnahmen durchsetzen will – dann sind es Verteilungskonflikte.

Es gibt zahlreiche Triebkräfte der Digitalisierung. Die oft tribal genannten Formen von Vergemeinschaftung, wie sie sich in Pop- und später Consumer Culture entwickelt hatten, haben begeistert die entstehenden digitalen Nischen mit einer Art Clubkultur besetzt.  Untrennbar mit  Digitalisierung verknüpft ist die Dynamik der Globalisierung. Vielleicht ist die Frage, wieso sich digitale Techniken so schnell durchgesetzt haben genauso müssig, warum sich zwei Generationen vorher  Elektrizität durchgesetzt hat.
Verfolgt man andere Diskussionsstränge, ist der Stand derzeit in etwa so:  Das Thema der anfallenden Daten (Big Data) ist durch und akzeptiert. In vielen Bereichen sieht man den damit möglichen Nutzen: Mobilitätsplanung, Gesundheitswesen. Jetzt geht es v.a. um die Frage  “Wem gehören die Vorteile und Gewinne der Datenbewirtschaftung?  

Das grosse Bild, das beim Lesen entsteht, ist eine von einer geschmeidigen Datenwelt (die Cloud ist schon vergeben) ummantelte Gesellschaft. Mal nützlich bis komfortabel, wenn es um Dienstleistungen geht – dann beunruhigend bis verstörend, wenn es Entscheidungen beinhaltet. Wem gehört der Rohstoff der menschlichen Erfahrung? Ausgebeutete Daten sagen mehr über uns aus, als wir selber über uns wissen – man denkt an die Matrix…  

Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft. Verlag C.H. Beck, München, September 2019.  352 S. ISBN: 978-3-406-74024-4. Interviews in: Die Zeit, 4.10. 2017 u. FAZ am Sonntag, 22.10.2017    



Über den Prozess der Digitalisierung

Über den Prozeß der Digitalisierung – auch so kann man den Digitalen Wandel betrachten: angelehnt an den Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias als einen langfristigen Prozess in dem sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wandelt und neu geprägt wird. Es sind technologische und gesellschaftliche (bzw. kulturelle) Entwicklungen, die im digitalen Wandel miteinander verknüpft sind – mit erheblichen ökonomischen Auswirkungen. Der Begriff Technogenese verdeutlicht eine parallele Entwicklung von Technologie und Gesellschaft.

ein Klassiker langfristiger gesellschaftlicher Entwicklung

In der Elias’schen Soziologie geht es um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen – Sozio– und Psychogenese. Geschichte und Gesellschaft sind demnach ein einheitlicher Prozeß, der von handelnden Menschen gemacht wird, sich aus ihnen zusammensetzt und sie wiederum prägt. Elias hatte im wesentlichen zwei langfristige Prozesse in eine gemeinsame Perspektive gerückt: den der Staatsbildung (incl. des Gewaltmonopols) und den der Ausformung individueller Selbstkontrolle. Der Prozeß der Zivilisation ist nach ihm ein Prozeß der Disziplinierung der Individuen, der zunehmenden Unterwerfung des Verhaltens unter straffere Regulierungen.
Elias’ Untersuchungen endeten mit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Anschluß daran wurde die Entwicklung der späteren Jahrzehnte, von den 60ern bis zur Jahrtausendwende, von dem niederländischen Soziologen Cas Wouters als Informalisierung beschrieben: Gegenüber strikt regulierten Verhaltenscodes haben sich Selbststeuerung, eine Emanzipation der Emotionen, Variationsspielraum, flexible Anwendung von Verhaltensregeln als neue Ideale einer bewußteren Steuerung durchgesetzt. Informalisierung ist mit Individualisierung verbunden, das Management des Selbst wird zur Aufgabe. Die neuen Ideale fließen ein in neue Verhaltensstandards.

Digitalisierung
Digitalisierung beschäftigt uns schon  seit einigen Jahrzehnten

Digitalisierung beschäftigt uns schon seit einigen Jahrzehnten – in mehreren Schüben. Man denke zurück an die Einführung der Textverarbeitung, der CD, von desktop publishing und Bildbearbeitung, electronic beats und digital games, von Navigationssystemen, an Excel und PowerPoint in der Bürowelt – und noch viele Beispiele mehr. Die Einführung     neuer Techniken war in manchen Fällen disruptiv (so z.B. in der Druckvorstufe), manchmal bescherte sie Branchen eine zwischenzeitliche Blüte, bevor sie selber wieder disruptiv ersetzt wurden (wie z.B. die CD in der Musikbranche). Andere digitale Neuerungen setzten oft auf vorhandene Strukturen. So unterschiedliche Lebenswelten, wie der Dancefloor und das Büro, wurden von diesen Schüben der Digitalisierung erfasst. Zunächst waren es Digitale Inseln, Daten wurden über magnetische (Disketten) und optische Datenträger (CDs) oder E-Mail (mit beschränkter Kapazität) zwischen Endgeräten getauscht.
Warum sprechen wir ausgerechnet jetzt vom Digitalen Wandel bzw. der Digitalen Transformation? Die Digitalisierung hat nun eine Stufe erreicht an der die Digitalen Inseln zu einem – dreht man das Bild um – digitalen Ozean geworden sind. Das Netz ist zentraler Medienverteiler und Marktplatz. Fortwährend fließen Datenmengen hinzu: aus der Online-Kommunikation, aus Aufzeichnungssystemen (GPS, Sensoren, Kameras etc.) – das, was man derzeit als BigData bezeichnet. In dem sehr lesenswerten Buch “Das Neue Spiel” (Michael Seemann, 2014) sind die immer wirksamer werdenden Effekte ausgearbeitet: zum einen der digitale Kontrollverlust (d.h., daß sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen.), zum anderen die Macht der Query als Instrument der Datenabfrage: entscheidend ist nicht die aufgezeichnete Information, sondern deren Abfrage.

Entscheidend in der Entwicklung ist die von Lee Rainie und Barry Wellman so genannte Triple Revolution: 1) der als Social Network Revolution zusammengefasste gesellschaftliche Wandel, der in etwa mit der oben beschriebenen Informalisierung übereinstimmt. Generell ist der Rückgang traditioneller Formen von Gemeinschaft gemeint, anstelle derer individuell gestaltete Netzwerke treten, 2) die Internet Revolution (Verbreitung und Nutzung vernetzter digitaler Kommunikation) und  3) die mobile Revolution, die das Netz von stationären Geräten löste.
Die gegenwärtige Stufe des digitalen Wandels wirkt sich nicht mehr nur auf einzelne Branchen bzw. Branchencluster aus – sondern auf die Gesamtheit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation. Von dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett stammt das schöne Bild (wenn auch in einem etwas anderen Blickwinkel) von der Playlist als Organisationsmuster:  Organisation und Handlungsabläufe bestehen aus aneinander anschlußfähigen Teilen. Vom Individuum verlangt das ein ganz anderes Wissen und eine ganz andere Aufmerksamkeit als etwa Anpassung an Bestehendes.

Norbert Elias:  Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. (Orig.Basel 1938) TB Frankfurt 1969; Cas Wouters:  Van Minnen en Sterven. Informalisering van omgangsvormen rond seks en dood. Amsterdam, 1990;  Lee Rainy & Barry Wellman (2012) Networked: The New Social Operating System. Cambridge, MA and London: MIT Press; Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. 256 S. Orange Press, Freiburg 2014, gebunden 20,-€ /28 ‚- SF; E-Book 5,- bei iRights-Media Jan-Hinrik Schmidt,: Linked: Vom Individuum zur Netzgemeinschaft. In: Christian Stiegler, Patrick Breitenbach, Thomas Zorbach (Hg.):New Media Culture: Mediale Phänomene der Netzkultur – Transcript Verlag,, Bielefeld 5/2015 S. 84-95  

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