New Work – Impulse (Next Work)

An Diskussion und Blogparade zu New Work (bzw. Next Work) war ich nur am Rande beteiligt. Auslöser der Debatte war zum einen der im März 2017 erschienene Titel New Work: Auf dem Weg zur neuen Arbeitswelt: Management-Impulse, Praxisbeispiele von Marc Wagner, Benedikt Hackl et al. Zum anderen sehr unterschiedliche Reaktionen auf die erste New Work Experience Konferenz im März 2017. Die Bemerkung elitärer Scheiss von Hendrik Epe zu dieser Konferenz machte die Runde und wurde zum Running Gag der Diskussion.
Das Buch richtet sich im wesentlichen aus betriebswirtschaftlicher Perspektive an Unternehmensverantwortliche und Berater (vgl. Rez. von Marcus Väth auf youtube). In diesem Rahmen ist New Work v.a. Organisationsentwicklung und damit auch ein Feld entsprechender Beratungsdienstleistungen.
Zwei auseinanderlaufende Vorstellungen und Positionen zum Thema werden schnell deutlich: auf der einen Seite geht es um den Transfer neuer Arbeitsstrukturen in Organisationen, auf der anderen Seite um eine Lebensreform, eingebunden in einen gesellschaftlichen Wandel – und im einzelnen auch oft um die Entwicklung ganz individueller Perspektiven.

New Work hat den Urtext Neue Arbeit, Neue Kultur von Frithjof Bergmann  (2004), der nicht als esoterische Utopie, sondern als praktische politische Idee verstanden werden will. Wesentlich ist zum einen die weitgehende Abkehr vom Job- System und die Hinführung zu dem was man „wirklich, wirklich machen will” – ebenso die Beachtung und Einbindung von Prinzipien ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit. Die Freiräume, die technologischer Fortschritt mit sich bringt, sollen sozialem und ökologischem Fortschritt zu Gute kommen.  Die darauf bauende neue Wirtschaftsform ist das Fundament, auf dem sich ein neues System der Arbeit und letztendlich eine neue Lebensweise und Kultur herausbilden kann (vgl. Zusammenfassung von F. Bergmann). Das bedeutet eine gesellschaftliche und politische Wende der Arbeitswelt.

phikenThematische Bandbreite (S. 137) – Koordinate li: Reichweite (von oben nach unten: Gesellschaft, Unternehmen, Gruppe, Individuum)

Aus der Blogparade ist ein brettschwerer Materialienband hervorgegangen, erschienen als Competence Book Nr. 18. Die thematische Breite ist in der nebenstehenden Graphik dargestellt. Die Beiträge fallen in Rubriken wie Treiber des Wandels, Paradigmen, Vorgehen,  People/  Leadership,  Lösungsbausteine bis zu Success Stories, dazu unter Wissen kompakt eine Zusammenstellung  von Infographiken. Richtet sich im wesentlichen an die Branche HR/Human Resources.
New Work bedeutet, ein besseres Wirtschaften durch eine humanzentrierte Arbeit zu schaffen” (141), den Satz kann man als Absicht und Motto über den gesamten Band stellen. Thema sind Werte wie Selbständigkeit, Freiheit und Teilhabe an Gemeinschaft und das Zusammenspiel von Person und System. Und immer wieder der kulturelle Wandel zu mehr Agilität, Flexibilität und Individualität innerhalb von Unternehmen.
Dazu gibt es im Band Beispiele und auch Impulse.  Letztlich geht es um die Rahmenbedingungen, das Potential von Mitarbeitern zur Entfaltung zu bringen. Das reicht von der Gestaltung von Arbeitsumgebungen, Zeitsouverainität, den Rückbau von Bürokratie, den Abwurf von disziplinarischem Ballast zu Anpassungen an oft bereits vollzogene gesellschaftliche Veränderungen,  zu Diversity.  Digitalisierung ist einer der Treiber, die Erwartungshaltung von Mitarbeitern (Verbindung von persönlichen Lebenszielen und Beruf) ein weiterer. Unternehmen der Wissens- und Kulturökonomie – Kreativwirtschaft, Beratungsbranche, Softwareentwicklung – stehen im Vordergrund.
Eine gesellschaftliche Agenda ist aber kaum damit verbunden. Der Begriff Gesellschaft 4.0 (19) kommt am Rande vor, bleibt aber eine diffuse Zielperspektive. Angesprochen werden gesellschaftliche und politische Dimensionen im Beitrag von Markus Väth (164): Ökologie, Soziale Gerechtigkeit, maßvoller Konsum, ein positives Menschenbild.
Spricht man von New Work kommt der Gedanke auf Old Work – das steht für Standardisierung als 9to5  Job, für Hierarchien und Disziplinargesellschaft,  – eine Gesellschaft der Normarbeitsverhältnisse mit all ihren Zwängen, aber auch Standards der Absicherung.

Betrachtet man die Beispiele aus der Perspektive der Singularisierungsthese von Andreas Reckwitz, dann ist New Work ein einprägsames Beispiel Singularisierter Arbeit (vgl. Reckwitz 181 ff).  Standardisierte Arbeit besteht weiterhin, mehr und meist besser bewertete Arbeit ist aber auf weitgehend singuläre Güter und Dienste ausgerichtet als auf standardisierte. Singularisierte Arbeit findet sich eben v.a. in der oben genannten Wissens- und Kulturökonomie. Singulär ist eine Arbeit dann, wenn ein Arbeitnehmer nicht austauschbar ist, und sich selbst auch so wahrnimmt (vgl Reckwitz 185). Eine spezifische Qualität wird erwartet, mehr als nur Lebensunterhalt und guter Verdienst. Anderswo stehen diesen Lovely  Jobs   Lousy Jobs gegenüber.

Das (alte) industrielle System beruht auf der Stelle/Funktionsrolle mit definierter formaler Qualifikation und meßbarer Leistung, das (neue) postindustrielle Arbeitssystem auf den Kriterien von Kompetenz/Potential, Profil und Performance. Die Logik des Besonderen überlagert die des Allgemeinen.

Letztlich bleiben die Diskussionen zu New Work uneinheitlich, und öfters wird der Begriff zum Buzzword. Mit weniger Anspruch auf Allgemeingültigkeit, bescheidener tritt der Begriff Next Work auf.

Marc Wagner, Joachim Rotzinger, Kai Anderson, Winfried Felser, Ralf Gräßler, Michael Kühner et al.  .: New Work – Impulse. Zwischen “Next Work” und Gesellschaft 4.0 – Treiber, Paradigmen, Lösungen und Vorgehen.  -Competence Book Nr. 18.  Köln,2017, 338 S.  –  Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Oktober 2017, 480 S.



New Work und Flexibilisierung

flexibel und agil

New Work ist Buzzword geworden – als eigener Begriff und unter der etwas seltsam konstruierten, von Industrie 4.0 abgeleiteten Bezeichnung Arbeit 4.0. Letztere v.a. im Umfeld staatlicher Stellen (so das Weißbuch Arbeiten 4.0  des Ministeriums für Arbeit und Soziales).
Als Begriff geht New Work auf den deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann zurück. In dessen Verständnis von Arbeit stehen drei Formen gleichrangig nebeneinander: die klassische Erwerbsarbeit, eine modernisierte Subsistenzwirtschaft (so High-Tech-Self-Providing) und die leidenschaftliche Arbeit, die man wirklich, wirklich tun will – in Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen, Träumen und Begabungen.
Soweit ein Ansatz zur Lebensreform, der sich mehr an Menschen richtet, die für sich selber entscheiden, als an Entscheider, die dies für andere tun. Es geht um den Anspruch, die eigene Lebenswirklichkeit selber zu gestalten oder zumindest eine  persönliche Balance abzusichern. Die aktuelle Diskussion zu New Work findet hingegen im Kontext von Personalführung und Organisationsentwicklung statt – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: der von Unternehmen und Organisationen, der von Beratern, von staatlichen Stellen und den ganz individuellen Sichtweisen.
So ist New Work in der begrifflichen Verwendung sehr weitgespannt,  fast überdehnt. Wo eine Grenze bzw. ein Übergang zwischen Neuer und dementsprechend Alter Arbeit liegt, bleibt weitgehend unscharf. Bedeuten neue Kommunikationsmittel, etwas Hierarchieabbau, einige Anpassungen an technische Innovationen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse gleich Neue Arbeit?  Erwerbsarbeit gilt als Gradmesser gesellschaftlicher Integration, Vollbeschäftigung als politischer Erfolg. Kulturelle Dominanz und Deutungshoheit in diesem Feld bedeuten reale Macht, vorherrschende kulturelle Standards haben normative Kraft.  All das trägt zur Attraktivität des Begriffs New Work bei.

Aufzeichnungen zur Arbeitswelt (World Café Transformation der Systeme)

Digitalisierung ermöglicht ganz andere Organisationsformen und ein mehr an Flexibilität als vordem jemals möglich war. Das ist das kollaborative Potential. Grundlage ist das Prinzip der Konnektivität, dass sich grundsätzlich jeder mit jedem verbinden kann, ergänzt durch das der Consozialität – der Verbindung über Gemeinsamkeiten. Das ergibt neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Akteuren, Inhalten und Ideen – auch in ergebnisorientierter Kooperation: Arbeit.

Flexibilisierung (eine Form der Individualisierung) war und ist zum einen eine der wesentlichen Forderungen der neoliberalen Agenda seit den 80er Jahren – im betriebswirtschaftlichen Sinne. Abbau bürokratischer Hemmnisse, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, generell aller wirtschaftlicher Aktivitäten und der Beschäftigungsverhältnisse im besonderen – und ebenso der Systeme der sozialen Absicherung.
Eine immer wiederkehrende These ist die, erst die sozialen Bewegungen der 60er bis 80er Jahre hätten die neoliberale Transformation des Kapitalismus seit den 80er Jahren ermöglicht. Beide Strömungen operierten mit dem attraktiven Begriff der persönlichen Freiheit, beide wandten sich gegen verkrustete Strukturen  hierarchisch-  bürokratischer Organisationen. Felix Stalder nennt in Kultur der Digitalität beide Strömungen als Treiber der gesellschaftlichen Transformationen (S. 32), die die Gegenwart der digitalen  Moderne prägen. In ihrem Ursprüngen liegen sie weit auseinander – ging es den Neuen Sozialen Bewegungen um Beteiligung, Zusammenleben und Persönlichkeitsentwicklung, ging es den Marktradikalen (“there is no such thing as society“, Thatcher) um die Freiheit des Marktes. Verbunden mit der Kritik am Wohlfahrtsstaat sollte jeder selber für sein Leben verantwortlich sein.
Pop- Autor Diedrich Diedrichsen spricht von der Lockerungsrevolte, in deren Folge Kreativität zu einer ökonomischen Ressource wurde. Kalifornischer Flower Power zählt zumindest zu dem Humus, auf dem die digitale Revolution gedieh.

Man denke an die Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre, in denen man anstrebte, Arbeit außerhalb des “Systems” zu organisieren. Die damals vorherrschende Unternehmenskulturen hielt man oft für unerträglich. Zwanzig Jahre später scheute die Digitale Bohème nicht mehr dessen Nähe. “So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen” wurde zum Leitspruch, der in der Breite nachwirkt.
New Work ist letztlich eine kulturelle Frage, in der Begriffsverwendung unscharf, aber attraktiv. Arbeit ist ein mehrschichtiger Begriff, Erwerbsarbeit bedeutet letztlich das, was andere (Kunden) bereit sind, für das, was wir tun (bzw. liefern), zu zahlen. Für Arbeitnehmer in privilegierten Situationen bedeutet es, individuell bestmögliche Bedingungen auszuhandeln. Und es ist ein vortreffliches Geschäftsfeld für Berater. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse finden ohnehin statt – neue Arbeitsumgebungen entstehen immer wieder.

Dieser Beitrag ist Teil der von Winfried Felser initiierten Blogparade zu New Work – #newwork17

Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679;  283 S., 18 €; Wolf Lotter: Gute Arbeit. In: Brand Eins 03/2017 – Schwerpunkt Neue Arbeit. S. 32 – 40; Header: kallejipp / photocase.de;


Rückblick “Transformation der Systeme”

Im World – Café; Thema Handel

Zwar liegt die 7. Internetwoche Köln (24. – 28.10. 16) schon eine Zeit zurück. An zweien der Veranstaltungen war ich massgeblich beteiligt – und es lohnt sich auf die Ergebnisse zurückzublicken. Zunächst die Diskussionsveranstaltung Education 2.0 im Startplatz am 24.10., am Folgetag dann mit thematischer und personeller Überschneidung der Workshop Transformation der Systeme in den Räumen der IHK Köln. Bei beiden Veranstaltungen ging es um Einschätzungen zum Digitalen Wandel/Transformation in wesentlichen Systemen: Bildung, Handel, Arbeit und der Entwicklung der Netzökonomie.
Bildung ist ein Feld mit mehreren Dimensionen: es gibt einen staatlichen Bildungsauftrag, Bildungsdienstleistungen unterschiedlichster Art sind eine weitverzweigte Branche; Bildung ist Grundlage für sozialen Zusammenhalt, gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftlichen Erfolg (so formuliert im Leitbild der Landesregierung NRW), und sie ist Teil der Persönlichkeitsentwicklung.
Im Startplatz als Gründerzentrum und Co- Working Space lag ein Schwerpunkt der Diskussionsrunde in der Gründerszene. Digitaler Wandel ermöglicht neue Bildungsdienstleistungen. Zunächst sind es Nischen und Spezialisierungen, die Gründer besetzen. Dass Disruptionen aber auch dort stattfinden können, zeigt das Beispiel der Lernvideos, die den klassischen Nachhilfeunterricht verdrängen.
Ein breiterer Ansatz ist Peer-to-Peer Learning, das der Lerntheorie des Konnektivismus nahesteht: Anbieter und Lerner sind grundsätzlich nicht in den Rollen voneinander getrennt, sie können u.a. über Plattformen vermittelt werden, ähnlich wie bei Crowdsourcing. Entscheidend ist das Verständnis wie man Wissen findet und verfügbar macht, wenn man es braucht.
Wesentlich bleibt der Vorrang der Persönlichkeitsbildung. Das geht bis hin zu den Wurzeln persönlichkeitsbildender Pädagogik. In einer sich ständig wandelnden Welt ist dem einzelnen besser geraten, seine generellen Kompetenzen zu entwickeln, als standardisierten Ausbildungswegen zu folgen. Medienkompetenz ist Voraussetzung.  Eine etwas ausführlichere Zusammenfassung (incl. der Angaben zu den Diskutanten) habe ich für den Startplatz- Blog geschrieben

Aufzeichnungen zur Bildung

Der Begriff Digitale Transformation wird oft diffus verwendet, meint aber eine Neustrukturierung bestehender Systeme (vgl. Polanyi). Das bedeutet tiefgreifende Veränderungen nicht nur für einzelne Unternehmen und Branchen, sondern für Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes. Einmal eingeschlagene Innovationen sind unumkehrbar. Beim Worldcafé Transformation der Systeme ging es um  Arbeit, Bildung, Handel und in die sich entwickelnden Netzökonomie. Wie erfolgt künftig die Koordination von Menschen und ihren Interessen in diesen großen Kontexten? Im Anschluß an Impulsvorträge wurden die Themen, entsprechend dem Open Space Format Worldcafé, an Thementischen diskutiert und zu jeweils gleichen Fragestellungen Szenarien entwickelt. Weitere spannende Themen wären z.B. Mobilität, Kredit- und Finanzwesen und die bereits fortgeschrittene Transformation der Medien   gewesen.  Im Hintergrund stand das Konzept Networked Sociality/Vernetzte Sozialität  als Begriff für ein Organisationsprinzip – manche sprechen von einem Neuen Sozialen Betriebssystem.

Aufzeichnungen zur Arbeitswelt
Aufzeichnungen zur Netzökonomie

Digitaler Wandel zeigt sich nicht nur in Geschäftsmodellen, im Marketing, den Fertigungmethoden und den genutzten Medien, sondern in der Art, wie jeder einzelne daran teilnimmt.  World Café als Open Space Format und die im Workshop gewählten Kontexte gaben einen   passenden Rahmen zur Diskussion verschiedener Meinungen und Sichtweisen. Die Themenfelder, wie  Arbeitswelt und Bildung sind dieselben, wie sie unter dem – wenig nachvollziehbaren – Label 4.0 (Arbeit 4.0Bildung 4.0, auch Mobilität 4.0) in die Diskussion gebracht werden.
Es gibt durchaus rein affirmative Standpunkte (wie etwa Amazon und Lieferdienste reichen mir im Handel). Ein besonderer Wert kommt aber der Teilhabe zu. Kaum jemand ist ausschließlich einer Rolle, sei es als Kunde oder als Arbeitnehmer verhaftet, sondern als Beteiligter in einem System in dem man gibt und nimmt. Das bedeutet nicht keine Abwertung von Professionalität und Spezialisierung, aber den Bedarf an Beteiligung und Gestaltung bei der Arbeits-/Erwerbsumgebung, Bildung, Mobilität, aber auch im Handel und in der Netzökonomie. Das Format ist sehr geeignet, es auch in anderen Zusammenhängen  einsetzen.

Mitveranstalter waren Claudia Schleicher, Pirmin Vlaho, Ibo Mazari und Gunnar Sohn – Experten und erfahren in jeweils eigenen Feldern des Digitalen Wandels. Gesponsort wurde der Workshop von der IHK Köln und dem Kölner Digital Signage Unternehmen dimedis.

Die Bilder von den Flipcharts mit den Aufzeichnungen öffnen sich nach Klick in einem neuen Browserfenster in voller Auflösung (hier auch die Aufzeichnungen zum Handel)

In die Diskussion zurückgeholt: Prekarisierung, Normarbeitsverhältnis und der Wandel von Organisation

Begriffe haben ihre Konjunktur und ihre Moden und manchmal verschwinden sie, als wäre der Zeitgeist über sie hinweggegangen. In einigen aktuellen Diskussionen tauchte ein Begriff wieder auf, der vor zehn Jahren sehr präsent war – vor dem Hintergrund der Durchsetzung der sog. Agenda 2010/Hartz 4:  Prekarisierung.

Prekarisierung bezeichnete die Erosion der Normarbeitsverhältnisse mit allen ihren arbeitsrechtlichen und sozialstaatlichen Absicherungen. Jahrzehntelang garantierte dieses Modell einem Großteil der Bevölkerung die Existenzsicherung durch dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse, nicht zuletzt ein Erfolg der historischen Zusammenarbeit von Unternehmen und Gewerkschaften. Langfristig angelegte Normarbeitsbeziehungen ermöglichten weiten Bevölkerungskreisen den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg, die Chance zur Vermögensbildung und damit die Planbarkeit von Zukunft, weitgehend unabhängig von kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen.

Normarbeit 9 to 5
Normarbeitsplatz 9 to 5

Normarbeitsverhältnisse mit einem regelmäßigen Einkommen, das eine Existenz oberhalb eines kulturellen Minimums gewährt, waren über mehrere Dekaden hinweg die entscheidende Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe. Das Konzept der Stelle vermittelte Bedeutung, Sicherheit und Anerkennung –  über die Einbindung in die Gesellschaft der Organisationen – der “legalen Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab” (Max Weber).
Normarbeitsplätze waren und sind Basis von Arbeitsgesellschaft und Sozialsystem und gelten als gelungene soziale Integration.  Möglichst viele Menschen darin unterzubringen galt und gilt als Ziel von Politik. Von anderen Seiten werden sie als Kernstück der Kontrollgesellschaft empfunden. Organisationen wie Unternehmen und Behörden haben in ihrer Führungskultur oft nicht mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt gehalten – die feste Stelle gilt nicht mehr als Lebensziel. Arbeitsverhältnisse, die nicht dem Normarbeitsverhältnis entsprachen, nannte man atypische Arbeitsverhältnisse – egal, ob es solche waren, die geschaffen wurden, um die Rechte von Arbeitnehmern zu umgehen – oder solche, die selbst gewählt wurden, um Abhängigkeiten zu vermeiden.

Die Allgemeingültigkeit der Normarbeitsverhältnisse wird von mehreren Entwicklungen untergraben. Unternehmen scheuen die Kosten und Verpflichtungen von Festanstellungen. Verschlankte Unternehmen beschränken sich oft auf Steuerungs- und Koordinierungsaufgaben, vormals intern erledigte Aufgaben werden ausgelagert. Richard Sennett hatte in „Die Kultur des Neuen Kapitalismus“ (2005) ein originelles Bild der flexiblen Organisation entworfen: wie in der Playlist eines mp3-Players, dem iPod, wählt die flexible Organisation aus einer Vielzahl gespeicherter Funktionen aneinander anschlussfähige aus. Wie andere Güter auch, wird Arbeit „just in time“ nachgefragt.

in Organisationen

Bleibt man in den Bildern eines Sozialen Betriebssystems waren die Organisationen, also Konzerne, Behörden, Verbände, bis hin zu Gewerkschaften, Kirchen und Parteien, die Pfeiler der Gesellschaft, die wirtschaftliche und soziale Abläufe bestimmten. In ihnen wurden (und werden) Seilschaften gebildet, Karriere gemacht, Macht erworben und darum gekämpft. Erfolg wurde an der in ihnen erworbenen Stellung gemessen.
Demgegenüber steht das Bild eines neuen sozialen Betriebssystems, dass auf Vernetztem Individualismus beruht: ausschlaggebend ist weniger die hierarchische Position, der erreichte Status in der Organisation, als der Grad eines personalisierten Netzwerks.
Vor zehn Jahren gab es den halb-ironisch gemeinten Begriff Digitale Bohème. “So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen“, (ein Zitat aus “Wir nennen es Arbeit“) oder dem zumindest nahe zu kommen, war das erstrebte Ziel. Das klingt nach Ponyhof – bedeutet aber ein Leitbild, das sich nach dem eigenen Empfinden (Stichwort “Authentizität“) richtet.
In den letzten zehn Jahren gab es weitreichende Veränderungen, die nachdrücklich Medienverbreitung und immer sichtbarer Organisationsformen neu bestimmen. . Konzerne bieten Sicherheit und Geld, andere Organisationen Zugehörigkeit. Bindungen an sie haben nachgelassen. Die großen Organisationen waren nicht die Träger der gesellschaftlichen, und nur in seltenen Fällen der technischen Innovationen. Neuerungen wurden in sie hineingetragen, gingen nicht von ihnen aus.

Die fortschreitenden Digitalisierung verstärkt Automatisierung. Arbeitsprozesse und Organisationsstrukturen verändern sich grundlegend, immer mehr Funktionen werden dematerialisiert, klassische Arbeitsplätze wie z. B. Bankfilialen entfallen mehr und mehr. Die Rückkehr einer Gesellschaft der Normarbeitsverhältnisse ist nicht in Sicht. Soziale Absicherung ist hingegen weitgehend an Normarbeitsplätze gebunden. Prekarität bedeutet auf materieller Ebene das Fehlen von Absicherung, aber auch fehlende Anschlussfähigkeit an weiterführende Perspektiven. Im ideellen Sinne auch die Abkopplung von gesellschaftlicher Entwicklung.
Was Prekarisierung auch mit sich bringen kann, drückt Alan Posener, britisch-deutscher Journalist, mit einem drohenden Aufstand der Abgehängten aus.  In fast allen westlichen Demokratien schöpfen rechtspopulistische Parteien in diesem Reservoir.

Klaus Janowitz: Prekarisierung. Sozialwissenschaften und Berufspraxis (SuB) (2006) und Von der Pyramide zur Playlist: Rezension zu Richard Sennett “Die Kultur des neuen Kapitalismus (2006). Alan PosenerDem Westen droht ein Aufstand der AbgehängtenGunnar Sohn: Sommerinterview: Hierarchie à la “Ich Chef , Du nix” @Fonski, Berlin .
Bildquelle: mentaldisorder / photocase.de (li./o.); bilderberge / photocase.de (re.u.)

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