Remote Work in der Diskussion

Die KI (Adobe Firefly) zeichnet das home Office als grünes Idyll – ohne spezifisches Prompting

Spätestens seit Corona zählen Home Office/ Remote Work/ mobiles Arbeiten zu den intensiv diskutierten Themen – und das gleich auf mehreren Ebenen:  persönlich in der Arbeits – und Alltagsorganisation, in Unternehmen als betriebliche Organisation, perspektivisch in Politik und Zukunftsdiskussionen. Das Thema  berührt im weiteren viele Fragen bis hin zu  Verkehrsplanung und Urbanistik.

In einem Zeitraum  Februar/ März 2024  (20.2. – 20.3.) haben wir mit der Social Listening Software Talkwalker die  deutschsprachige öffentliche Online- Kommunikation zu Remote Work und Home Office erkundet. Einbezogen wurden Nennungen in deutschsprachigen Quellen. In Talkwalker sind dabei Daten aus bis zu 20 Medienkategorien  auswählbar. Talkwalker bietet dazu weitere Funktionen, wie z.B. die Sentiment Analyse ( +/- Bewertung), die hier nicht genutzt wurden.
Beide Anglizismen sind ähnlich weit verbreitet. Home Office kam als Provisorium und meint wirklich nur den häuslichen Raum, der als Büro genutzt wird,  in der Umgangssprache verdrängte es Ausdrücke, wie Heimarbeit oder von zu Hause arbeiten.

Homeoffice im Neubezug

Remote Work  ist der weiter gefasste Begriff für vom Betriebsstandort unabhängige Arbeit – gleich ob von zu Haus, aus einem CoWorking Space oder ganz aus der Ferne als digitaler Nomade – die Orte, von denen aus Arbeit erledigt wird, sind prinzipiell gleichrangig. Der Begriff hat sich  von der IT- Branche aus verbreitet.
Vorläufer gibt es seit langer Zeit, etwa die Unterrichtsvorbereitung von Lehrern, der Schreibtisch und die Aktenordner im Einfamilienhaus, Auftragsarbeiten von Freiberuflern – aber erst mit den neuen Begriffen wird darüber ernsthaft diskutiert.
Zusammengerechnet wurden beide Begriffe 4.700 x in den Kategorien des deutschsprachigen Netz genannt. Etwas überrascht, dass Remote Work deutlich mehr (3t/1,7t) Nennungen erreicht. Ebenso der hohe Anteil  von Twitter, das als X für viele nicht mehr die erste Wahl ist. Teilweise zu erklären durch zahlreiche Re- Tweets, mit denen sich einzelne Inhalte multiplizieren.

Die %- Angaben  sind nicht direkt vergleichbar! Zu Remote Work gibt es ca. 3000 Nennungen, zu Home Office ca. 1600. Die Graphik aus Talkwalker stellt die jeweiligen % – Anteile davon dar

Die Verteilung nach Tagen (re.) zeigt immer wieder Ausschläge, an denen sich die Nennungen häufen.  Der stärkste Ausschlag folgte auf  einen Ausspruch des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder am 4.03:  Nur mit Teilzeit und Homeoffice werden wir im internationalen Wettbewerb nicht bestehen.
So spiegelt sich in den Zahlen die öffentliche Diskussion, bzw. es werden immer wieder auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtete, oft provokative Statements von Politikern, Unternehmern und anderen Meinungs- Influencern eingeworfen, meist  gezielt platziert.

Home Office as usual

Zeitlich ganz eingrenzen lässt sich das Sample nicht: Ältere Aussagen und Argumente werden immer wieder herangezogen: So von Trigema- Chef Wolfgang Grupp: Home Office gibt es bei mir nicht. Wenn einer zu Hause arbeiten kann, ist er unwichtig-  später zwar im Zusammenhang relativiert, wurde das Statement dennoch als markig- konservativ medial verbreitet.

Arbeitnehmer befürworten das Homeoffice, während Arbeitgeber skeptisch sind  (Computerwoche, 11.03.) –  unter dieser Titelzeile werden Argumente gegen das Home Office aufgeführt, die auch in anderen Quellen erscheinen: Sinkende Produktivität, mehr Zeitaufwand für den gleichen Output.
Beschäftigte, die sich bewusst dafür entscheiden, von zu Hause aus zu arbeiten, tun dies häufig auch, weil sie dort andere Verpflichtungen haben, —  dazu wird mangelnder sozialer Austausch innerhalb der Belegschaft beklagt. Das beeinträchtige nicht nur die Stimmung im Team, sondern auch die Innovationsfähigkeit bei kreativen Aufgaben. Es werde schwieriger, sich spontan zwischen Tür und Angel mit einem bestimmten Kollegen auszutauschen, was eben Innovationsprozesse hemme. Die meisten Argumente lassen sich auch mit diversen Studien belegen – bloss bleibt unklar, wie allgemeingültig deren Ergebnisse sind.
Nicht zu vergessen sind Verweise auf IT- Sicherheit: In einer zunehmend dezentralen Arbeitsumgebung steigt die Anfälligkeit für Ransomware-Angriffe exponentiell (18.03.).

Home Office im Termindruck

Die einen sammeln Argumente gegen etwas, die anderen sammeln Erfahrungen. Das meint Thomas Dehler, Gründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Telearbeit (Gefta) im Interview  mit Gunnar Sohn (28.02). Flexible Arbeit ist auf dem Vormarsch, trotz einiger Unternehmen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück ins Büro holen – Dehler ist engagierter Vertreter der  flexiblen Arbeit. Remote Work ist definitiv ein Thema, wenn der Mitarbeiter im Mittelpunkt steht.
Wer Homeoffice in Frage stellt, wolle Leute rausekeln, manchmal gebe es ein rabiates Rollback. Dahinter stecke oft in Wirklichkeit die nackte Angst von Führungskräften, nicht zu wissen, wie sie die Arbeit aus der Ferne kontrollieren können.  Aber auch ein gegenseitiger Prozess: Jeder Bewerber, der an eine Marke angedockt werden möchte, wird einen Kompromiss schaffen, auch wenn er völlig remote-minded ist. Neue Organisationsformen von Arbeit lösen so  Innovationsprozesse aus.
Weiter verweist Dehler auf den Beitrag zur Dekarbonisierung. Jeder nicht gefahrene Arbeitsweg-Kilometer spart Tonnen von CO2.
Auch in anderen Quellen wird die Entwicklung neuer Arbeitsmodelle betont: Mit voranschreitender technologischer Entwicklung werden die neuen Arbeitsmodelle allerdings für immer mehr Menschen zum “New Normal”  werden. Sie suchen nach Arbeitgebern, die eine damit kompatible Kultur sowie Identität bietet (Personalwirtschaft.de , 7.03.)

Manche Arbeitgeber nennen das Home Office als eine gewährte Vergünstigung: Wir bieten freie Zeiteinteilung, Homeoffice, wir haben eine Tischtennisplatte im Büro, mittwochs gibts ein kostenloses Mittagessen aus regionalen Produkten und freitags nachmittags Freibier (7.03.).
Unternehmen haben noch keine dauerhafte Lösung beim Thema Remote Work gefunden- so sagt es ein Berater aus dem Kienbaum Institut.

Home Office – bright & light

In einigen Diskussionssträngen eingestreut werden Fragen der Arbeitsmoral. Verbunden mit einem Bashing der Generation Z teilt etwa die Beraterin Susanne Nickel  in ihrer Kolumne im Focus (14.03.) aus: Remote arbeiten, was heißt: möglichst da, wo der Chef nicht plötzlich auftauchen, kritisieren und Anweisungen geben kann. Und bloß nicht zu viel und zu schwer.  Weiter: In der Generation Z werden nämlich die drei großen F’s gefeiert: Freizeit, Freiheit und Flexibilität. Das sind die „Werte“, die zählen – und nicht etwa Fleiß, Leistung und Karrierestreben.
Das Bashing hat einen Zweck: Es geht um die Bewerbung ihres Buches: Verzogen, verweichlicht, verletzt: Wie die Generation Z die Arbeitswelt auf den Kopf stellt und uns zum Handeln zwingt – erschienen am 19.03.

Aus diesem – querfeldein –  Ausschnitt von 30 Tagen erfährt man bereits viel über die verbreiteten Meinungen und Haltungen  –  aber bis dahin ziemlich wenig über die alltägliche Wirklichkeit von Home Office/ Remote Work, über die konkreten Arbeitsbedingungen. Bis hierhin ist es Medienbeobachtung, eine Exploration der öffentlichen Thematisierung in einem Ausschnitt, der  sich verbreitern oder auch enger fokussieren lässt.
Weitere Schritte zu einer Netnographie richten sich nach einer zu stellenden Forschungsfrage – die formulieren soll, was man denn wissen will. Etliche der Quellen ermöglichen einen tieferen Einstieg mit weiteren Recherchen.
Sicher enthält das Sample noch viele weitere Informationen bereit, so z.B. zur richtigen Ausstattung des Home Offices (ein Geschäftsfeld)  – bis hin zum Feng Shui

Home Office/ Remote Work verbreitete sich als temporäre Lösung während der Pandemie. Eine Entwicklung, die bereits begonnen hatte, wurde so massiv  angetrieben. Noch wenige Jahre zuvor waren digitale Medien und Techniken nur in wenigen Branchen ausreichend verbreitet. Heute gehören die Techniken zu einer wohl flächendeckend verbreiteten Infrastruktur.
Die digitale Öffentlichkeit ist mehr denn je eine Bühne der Positionierung, die von vielen Akteuren bespielt wird, die sich ihrer möglichen Wirkung bewusst sind.
Ist Remote einer der Trigger (vgl. Triggerpunkte), der Reizbegriffe, an denen Konflikte  entzündet werden? – Manchmal fühlt man sich auch an die Instrumentalisierung von Begriffen wie woke erinnert.

 

Einzelne Quellen: Wie zeitgemäße Arbeitsmodelle die Unternehmenskultur beeinflussen. Personalwirtschaft.de – 7.03.24. — Die Rückkehr ins Büro: Was steckt wirklich dahinter? Personalwirtschaft.de 4.03. 24 — Gunnar Sohn: Interview mit Thomas Dehler.  28.02.24 –  Gunnar Sohn:  Wer Homeoffice in Frage stellt, will Leute rausekeln #ZPSued  Susanne Nickel: Die Gen Z verhält sich, als ginge sie die ganze Misere im Land nichts an – Focus  14.03.24. Wirtschaftspsychologen tagten zum „New Normal“. Forschung und Praxis analysierten Ansätze zur Gestaltung der Arbeitswelt . 27.02.24   Mitarbeiterbindung versus Präsenzpflicht  — Pressemitteilung von: virtuu: Streit ums Homeoffice: Studie zeigt, dass sich Führungskräfte vor allem um den Teamzusammenhalt sorgen. 27.02.24
Warum Arbeitgeber das Homeoffice tolerieren 11.03.24.  Homeoffice- Nicht für jeden geeignet – Luckx Das Magazin. 7-03.24  — New Work schafft neue Realität. Lebensmittel Zeitung 7.03.24.  —– Bilder vom Home Office von ob. nach u.: Klaus Janowitz, Johannes Mirus, Gunnar Sohn, Birgit Eschbach,  — – z.B. auf den Seiten  der Hans- Boeckler Stiftung sind einige Studien einsehbar bzw. stehen frei zum download. 

 

 



Agiler Kapitalismus. Das Leben als Projekt (Rez.)

Agil(e) bedeutet wendig, flexibel und ist eines der derzeit meist gebrauchten Buzzwords, wenn es um Wandel geht. Die heutige Verwendung geht zurück auf das  Manifesto for Agile Software Development (2001) – einer Art Neuerfindung des Projektmanagement gegen das bis dahin vorherrschende hierarchische Waterfall- Modell.  Agile selbst ist keine Methode, sondern ein übergreifender Rahmen bei der Durchführung von Softwareentwicklungsprojekten. Selbststeuerung, Teamgeist, schnelle Iterationen, Kundenperspektive sind die wesentlichen Prinzipien.
Scrum (ein  Begriff aus dem Rugby- angeordnetes Gedränge), ist die wohl bekannteste agile Methode, ein Rahmenwerk von Spielregeln mit festgelegten Rollen, wie Scrum Master, Product Owner.

Timo Daum, studierter Physiker, langjährig in der IT- Branche, derzeit Fellow der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am WZB, hat in den letzten Jahren mehrere Bücher zum Digitalen Kapitalismus veröffentlicht: zur digitalen Ökonomie (2017), zur Künstlichen Intelligenz (3/2019) und zum Auto im Digitalen Kapitalismus (10/19). Letztere beide Bücher habe ich bislang nur auszugsweise gelesen, zum ersten eine Rezension geschrieben. Seine Bücher verbinden Analyse mit aus eigener Erfahrung gewachsenen Einschätzungen. Daum versteht sich als Linker, ein für ihn zentraler Begriff ist Rekuperation*, die Vereinnahmung radikaler Kritik durch dem Kapitalismus generell bzw. die Medienkultur oder auch subversiver Symbole durch eine dominante Kultur.

Coden ist eine grundsätzlich kreative Tätigkeit. Basiert die industrielle  Produktion von Massengütern auf möglichst exakten Kopien desselben,  macht die wiederholte Herstellung in der Code- Produktion keinen Sinn: Alles, was schon einmal programmiert wurde, muss – idealerweise – nicht noch einmal programmiert werden (64). Zur übergreifenden Infrastruktur zählt auch GitHub, ein zentraler Server für Software-Projekte. Entwickler stellen hier ihren Code über öffentlich einsehbare Repositories (Verzeichnisse) bereit, so dass die Community ihn prüfen und weiterentwickeln kann, fehlerhafte Software soll so vermieden werden.
Die Code- Industrie hält den Antrieb der digitalen Wirtschaft, die Algorithmen am laufen. Eine Schlüsselindustrie, die weltweit ca. 40 Mill. Menschen beschäftigt und auch in Corona- Zeiten eine Infrastruktur aufrecht erhalten hat. Entwickler werden (relativ) gut bezahlt – in den Anfängen eine mehr von Frauen geprägte Branche, entwickelte sich später eine männlich geprägte, nerdige Arbeitskultur (55).

Der agile Arbeitszyklus( (34)

Daum stellt agile Methoden als prototypisches Modell neuer Arbeitsorganisation dar, die sich von der Softwareentwicklung aus in andere Branchen verbreitet, selbst in Konzernen der Autoindustrie, Banken und Versicherungen, auch z. B. bei Zalando: Überall dort, wo neue Produkte und Dienste entwickelt werden sollen. Kurz gefasst: Agilität löst das Konzept der fordistisch- bürokratischen Organisation als Managementparadigma des 21. Jahrhunderts ab (vgl. Andreas Boes, 2019, 14).
Digitaler Taylorismus oder Empowerment durch Teamorganisation?** Bedeutet Agilität nicht mehr Selbstorganisation, Taylorismus die Optimierung jedes einzelnen Arbeitsschrittes nach Anweisung? Flache Hierarchien mit neuen Rollen, die Selbststeuerung von Teams bedeuten auch eine radikale Transparenz. So finden sich Methoden der Vermessung und Kontrolle auf allen Stufen, auch kleinste Arbeitsschritte werden getrackt, Zeiterfassung bis auf kürzeste Einheiten. Digitale Technologie wird zum Instrument des Managements,  zum automatisierten Kontrolleur, zum algorithmischen Chef (vgl.   137). An anderer Stelle spricht Daum von dem Paradox sich selbst managender Arbeiter, sie organisieren den Arbeitsprozess – zwiegespalten in innere Arbeiter und  innere Manager, die doch abhängig Beschäftigte bleiben.

Daum greift Diskussionen, die v.a. in den Nullerjahren geführt wurden, auf: Die Künstlerkritik am grauen Angestelltenleben aus Der neue Geist des neuen Kapitalismus (Boltanski/Chiapello – 1999),  “Wir nennen es Arbeit”  (Holm Friebe, Sascha Lobo, 06) gegen starre Arbeitsregimes und der Projektion der Solo- Selbständigkeit. Design Thinking als populäre Kreativitätsmethode – all das hat vorbereitet, was heute zum Mainstream von Arbeitsorganisation und Management gehört.  Agilität in Zeiten von Corona (169 ff) ist bereits Thema eines Abschnitts. Digitale Technologien haben den Lockdown erst erträglich gemacht – und eine neue Realität erprobt, Anpassungsprozesse wurden geleistet, andere haben ihre Einkommensquellen verloren. Solo- Selbständige haben meist wenig Spielraum, Auszeiten zu überbrücken.
Thematisiert wird im weiteren das Grundeinkommen – unter einer neuen Prämisse: die Verfügbarkeit der passenden workforce, brachliegende Kreative werden noch gebraucht.

Kaum jemand will den alten Chef, die Hierarchien zurück, aber es entstehen neue Kontroll- und Überwachungstechniken. In den agilen Methoden hat der Digitale Kapitalismus sein Manifest gefunden (174). Unternehmen werden aber nicht allein durch agile Methoden zu demokratischen Organisationen. Selbstkontrolle ist effektiver als Fremdkontrolle. Der Ausblick Das Leben als Projekt gerät wohl etwas schemenhaft: dauerhafte Validierung und Selbstvalidierung als als Lebenslaufregime: Sich selbst als Unternehmen begreifen und mit den Augen potentieller Kunden zu betrachten.
Der längerfristige Wandel von Haltungen und Mentalitäten ist ein eigenes, sehr  umfangreiches Thema. Datengetriebene Software als Steuerungselement spielt dabei eine besondere Rolle.

 

Timo Daum: Agiler Kapitalismus. Das Leben als Projekt . Edition Nautilus, Hamburg 10/2020.  205S. ISBN: 978-3-96054-242-1, auch: Timo Daum: Gespenster des KI-Kapitalismus: Was es bedeutet, Geistesarbeiter*in in agilen Environments zu sein. 2.10.20
Interviews:https://www.jungewelt.de/artikel/388196.lesewoche-timo-daum-agiler-kapitalismus.html , 14.10.20; Bundeszentrale für polit. Bildung, 17.09.20; Andreas Boes: Lean und agil im Büro. Transcript. 2019. S. 12. ; Rekuperation* nach Guy Debord; **Leitfrage einer Tagung der zum Einsatz agiler Methoden (2018)

 



Neues Wirtschaftswunder 2.0?

Remember the Wirtschaftswunder, Bild: HerrSpecht / photocase.de

Das Wirtschaftswunder der 50er Jahre ist wohl immer noch der Gründungsmythos der Bundesrepublik. So scheint es ganz selbstverständlich, dass in der Coronakrise an diese Erzählung angeknüpft wird – gleich mehrfach.
Ausgangspunkt zahlreicher Initiativen war der Hackathon #WirVsVirus im März (20.-22.). Insgesamt sind (nach Angaben des Bundespresseamtes) 147 Projekte daraus hervorgegangen, die in den letzten sechs Monaten Lösungen für Probleme im Zuge der Pandemie entwickelt und getestet haben. Darunter das Antirassismus-Projekt Ichbinkeinvirus.org und die Ursprünge der Contact-Tracing App.

Neues Wirtschaftswunder für eine sozial- ökologische Transformation

Ebenso die Initiative Neues Wirtschaftswunder– für eine sozial-ökologische Transformation. Ausgangslage ist der tiefgreifende Einschnitt, den Covid-19 für fast alle Lebensbereiche bedeutet – und die folgenden Entscheidungen zu umfangreichen Konjunkturpaketen. Hier geht es um die konsequente Ausrichtung dieser Konjunkturpakete an sozial-ökologischen Leitlinien.  Investitionsvorschläge für ein sozial- ökologisches Wirtschaftswunder werden im Maßnahmenkatalog Für ein nachhaltiges Konjunkturpaket, JETZT! vorgelegt. Der Einschnitt durch Corona bietet die historische Gelegenheit, Wirtschaft und Gesellschaft sozial und ökologisch zu transformieren – vor allem, wenn gesamtgesellschaftlich aus einem Konsens gehandelt wird : Ein neues Wirtschaftswunder ist möglich, wenn wir bewusst und entschlossen neue Wege gehen. Schritt für Schritt. Nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit unseres Landes steht auf dem Spiel!. 
Erstunterzeichner sind v.a. Unternehmen und Organisationen aus dem sozialökologischen Umfeld, darunter die GLS Bank, u.a. auch die Zukunftsinitiative D2030. Inwieweit von D2030 entwickelte Szenarios, wie Neue Horizonte, Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl  dabei als Leitbild dienen (vgl. Post- Corona – Szenarien für die Zeit danach) wird nicht explizit genannt.   

In einem Gastkommentar im Handelsblatt (25.05.) schrieb Thomas Sattelberger (vgl. Neuausrichtung der Gesellschaft nach Corona?) von einer Zukunft für Unternehmer, Macher und Gründer, für eine Deep-Tech-Republik, die einen Narrativ à la Wirtschaftswunder 2.0. braucht. Man mag dabei an Tat- und Machtmenschen, an eine MINT- Elite denken – der Beitrag enthält aber auch die Forderung von Bildung im Sinne von Emanzipation und lebenslanger Berufsbefähigung, sowie den Satz „Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.“

Wirtschaftswundertour Sommer 2020

Birgit Eschbach, Event- Managerin, derzeit ohne Events,  liess sich dadurch inspirieren. Zunächst zu einer  Wirtschaftswundertour durch die Provinz, zu wirtschaftlich blühenden und zu darniederliegenden Landstrichen. Weiter zu regionalen Projekten, verbreitet über den (hashtag) #Wirtschaftswunder20.  Aber es sind nicht nur wirtschaftliche Fragen, genauso die, wie wir in Zukunft leben wollen, und wo? – Co- Working, Co- Living.  Unternehmen brauchen neues Know-how, um sich für die neuen Herausforderungen zukunftsfähig aufzustellen. Es geht um die Werkzeuge und Bedingungen des mobilen Arbeitens, angefangen mit der nötigen und möglichen Hard- und Software, zu den kulturellen Voraussetzungen, wie Diversität  – und schliesslich um Inspiration und Mut zur Umsetzung. Die Entwicklung von Potentialen der Kreativwirtschaft hängt davon ab. Kommunale  Wirtschaftsförderungen sieht sie als Partner bzw. Plattformen in einer Schlüsselrolle. Infrastrukturen, die mobile bzw. remote Arbeit ermöglichen, sollen geschaffen bzw. gefördert werden. Die Vernetzung regionaler Akteure, wie Wirtschaftsförderer, Bürgermeister, Unternehmen und anderer Engagierter ist dabei ein wesentlicher Schritt.

Nicht überall war Wirtschaftswunder: Obermoschel (Nordpfalz)

Als wegweisendes Projekt fand bereits 2019 in Wittenberge (Elbe) der “Summer of Pioneers” statt. Digitalarbeiterinnen und Kreative konnten für ein halbes Jahr Leben und Arbeiten abseits der Metropolen ausprobieren. Im Gegenzug brachten sie einen Ideentransfer von digitaler Expertise, ortsunabhängigem Arbeiten und urbaner Kultur mit. Ein Modell, das mittlerweile von anderen Kommunen aufgegriffen wurde, so Altena im Sauerland und Homberg, Nordhessen.
Regionale Entwicklung verläuft oft sehr unterschiedlich. Manche Regionen, wie Teile Württembergs oder Ostwestfalen, prosperieren mit Hidden Champions, andere sind vom Wegfall des produzierenden Gewerbes gekennzeichnet. Junge Menschen wandern ab, Leerstände und Industriebrachen folgen.  Mancherorts beschränkt sich die Infrastruktur auf Supermärkte an Kreuzungen von Überlandstrassen. Die Pendlergesellschaft sammelt sich in den Ballungsräumen und zersiedelten Speckgürteln.    

Zentral bleibt das Thema Remote Work, derzeit wird der Gesetzentwurf zu  einem Rechtsanspruch darauf verhandelt.  Gunnar Sohn hat in einem sehr engagierten Beitrag bereits so detailliert dazu Stellung genommen, dass ich dem kaum etwas hinzufügen kann: Bessere Vereinbarkeit, weniger Wege, mehr Selbstbestimmung – Arbeit, die zum Leben passt. Und Arbeit mehr zum Menschen bringen.  Wahrscheinlich ist die fast flächendeckende Verbreitung des home office eine der folgenreichsten Erfahrungen des Jahres.

Neues Wirtschaftswunder 2.0? Die abrupte, erzwungene Unterbrechung von Routinen birgt Chancen neuer Orientierung. Daran schliesst eine Frage  an, die bereits in den Szenarien zur Gesellschaft nach Corona gestellt wird: Wie schaffen wir die Überwindung des lediglich auf die alte Normalität zielenden Krisenmodus und erreichen eine Entwicklung in Richtung breiterer Innovation und signifikantem Strukturwandel?
Zukunft ist nicht mehr ohne weiteres die Fortsetzung der Gegenwart. Ein breit getragener Konsens ist  Voraussetzung für langfristige Entwicklungen. Zwar sind die Formulierungen neuer Wirtschaftswunder unterschiedlicher Herkunft – aber sie sind vereinbar. Es geht um die Verbindung von Digitalisierung und nachhaltiger Orientierung. Im Detail um Raum für lokale und regionale Projekte und Entwicklungen. Viele Menschen haben die Geschichte der Bundesrepublik als eine stabile liberale Erfolgsgeschichte erlebt, andere als eine mit einigen Brüchen.
Als Bezugspunkt taucht New Work zwar immer wieder auf, ist  als Begriff aber wohl zwischen ganz unterschiedlichen Bedeutungsebenen zerschlissen. Von der Lebensreform nach Frithjof Bergmann bis zu Verbesserungen für ohnehin Privilegierte.  Allerdings hat die Diskussion darüber  Perspektiven geöffnet. Lebens- und Arbeitsmodelle, die nicht in vorhandene Muster passten, fielen noch lange in die Kategorie untypischer Berufsbiographien bzw. atypischer Arbeitsverhältnisse. Letztlich geht es darum, menschliches Potential sinnvoller einzusetzen, übrigens auch eine Form von Effizienz, wie Winfried Felser anmerkte.

vgl:  Birgit Eschbach: wie gelingt uns mit analogen und digitalen Konzepten das nächste Wirtschaftswunder nach der Corona Krise? Gespräch am 9.09.20; Gunnar Sohn Plädoyer für das Mobile-Arbeit-Gesetz. 8.10.20  Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: #WirVsVirus Umsetzungsprogramm beendet – Pressemitteilung 348/20 vom 30. 09. 2020 Neues-Wirtschaftswunder.de Für ein nachhaltiges Konjunkturpaket, JETZT! Investitions-vorschläge für ein sozial-ökologisches Wirtschaftswunder. Juni 2020. Verantwortung im globalen Lieferkettenmanagement. 17.09.20. Summer of Pioneers. Wittenberge. Altena. Homberg

 



Das Kapital sind wir. Zur Kritik der Digitalen Ökonomie (Rezension)

Das Kapital sind wir von Timo Daum erschien bereits im Herbst 2017, aber erst auf der re-publica 18 wurde ich darauf aufmerksam.  Das Buch hält weitgehend, was der Titel verspricht – zudem ist es so flüssig geschrieben, dass man es an beinahe jeder Stelle aufschlagen und in den Text einsteigen kann.
Der Kapitalismus hat sich als Digitaler Kapitalismus neu erfunden. Ein neues Akkumulationsmodell hat sich herausgebildet und das fordistische Modell von Massenproduktion und -komsum abgelöst. Dem neuen Modell  gelingt es,  die gesamte Gesellschaft mit ihren Gedanken und Tätigkeiten in den Dienst zu nehmen und mit Information, Algoritmen und User Generated Content Geld zu verdienen (21/22). Freier Austausch wird ermöglicht – und gleichzeitig kommerziell als Rohstoff genutzt. Soweit bekannt, und so in etwa der Einstieg.

Ähnlich wie Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge in Das Digital nimmt Timo Daum bezug auf Karl Marx. Was hätte Marx zum Digitalen Kapitalismus gesagt? steht als rhetorische Frage im Hintergrund.
Bei Ramge und Mayer- Schönberger steht das Konzept der Datenreichen Märkte als Voraussetzung der Nutzung und Verbreitung von KI im Vordergrund – eine Perspektive, die grundlegend bejaht wird. Problem bleibt das Ungleichgewicht bei der Verteilung der Digitalen Dividende.

Die Digitale Vermessung der Welt erfasst immer mehr Lebensbereiche (Bild: kallejipp photocase.de)

Daum greift die ganze Breite von Themen auf, die seit längerem zum Netz, zur Digitalisierung und dem damit verbundenen Wandel diskutiert werden. Sharing Economy, Kreativwirtschaft und die Digitale Bohème, der Solo- Kapitalist (Solopreneur), das bedingungslose Grundeinkommen etc., samt der jeweils mehr oder weniger ideologischen Begleitmusik (so in der Sharing Economy oder der Weltverbesserungsagenda von Facebook, S. 131).
Die digitale Vermessung der Welt stellt immer mehr Lebensäußerungen in ihren Dienst, die vormaligen Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen.  Arbeit und Einkommen entkoppeln sich, der Begriff von Arbeit an sich verändert sich.
Daum versteht sich als Linker, wer aber eine rundum- Kritik am digitalen Kapitalismus erwartet, wird enttäuscht. So etwa die Rezensenten der Buchvorstellung in Hamburg, die geradezu entsetzt sind über die überraschend versöhnliche Haltung zum Kapitalismus.
Denn ganz so kritisch sieht Daum den Digitalen Kapitalismus nicht: der freie und kostenlose Zugang zu Informationen und Diensten ist ihm zu verdanken (236). Dem alten fossilen, konsumorientierten Kapitalismus ist hingegen nicht nachzutrauern (241). Arbeiterbewegung und Gewerkschaften hatten darin über die Jahrzehnte Rechte, Sicherheiten und Teilhabe erkämpft, eine Tradition zu der eine Parallele in der digitalen Gesellschaft noch fehlt.
Unternehmen des Digitalen Kapitalismus übernehmen Aufgaben globaler Dimension. Erst mit den Inhalten der Nutzer (Prosumer) werden die Plattformen zum Leben gebracht. Ein treffendes Bonmot: Der Digitale Kapitalismus schafft es, frei verfügbares Wissen zu kolonisieren, als proprietären Service neu zu verpacken und diesen wiederum zu verwerten (235).
Wenn es eine abschließende Aussage zum Digitalen Kapitalismus gibt, dann ist sie dezent platziert: Der Kapitalismus ist keine fremde, uns knechtende Macht: Wir selbst sind der Kapitalismus. Wir schaffen selbst die Abstraktionen, von denen wir uns beherrschen lassen (123).

Ein Ausblick: Der digitale Kapitalismus dringt in neue Bereiche vor: Mobilität, Energie, Transport, Logistik. Wir brauchen eine kostenlose Grundversorgung für die digitale Stadt, einen New Deal, bei dem die Bewohnerinnen ihre Daten beisteuern (241), und eine algoritmische Alphabetisierung. Digitaler Kapitalismus wäre vom Standpunkt des Neuen, Möglichen zu kritisieren – nicht von dem des Alten.

Timo Daum: Das Kapital sind wir. Zur Kritik der Digitalen Ökonomie. Edition Nautilus, Hamburg 09/2017.  268 S. ISBN: 978-3-96054-058-8



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