Individualisierte Massen- Rez. Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen

Der Titel lässt an ganz aktuelle Ereignisse denken: mit den Gelbwesten in Frankreich ist der Sog der Massen zurück auf der Straße. Videos erschüttern Machtgefüge und machen die Neue Macht der Einzelnen deutlich: eine der tragenden grossen Organisationen wirkt hilflos gegenüber einem youtube-Blogger, Massenkommunikation funktioniert mittlerweile eben anders.
Gunter Gebauer und Sven Rücker geht es darum, das Konzept Masse als einer sozialen Formation in die Diskussion zurückzuführen. Dabei nehmen sie Bezug auf eine ganze Reihe – nicht nur gesellschaftsanalytischer – Autoren, insbesondere auf Elias Canetti (Masse und Macht, 1960), aber auch E.T.A. Hoffmann und Edgar Allen Poe,  Ortega y Gasset, Heidegger und Oswald Spengler, Norbert Elias und Pierre Bourdieu, Andy Warhol und v. m..
Massen steht nicht nur für grössere Ansammlungen von Menschen, auch für einen virulenten, dynamischen sozialen und psychischen Zustand, der enorme politische Wirkungen hervorzurufen vermag. Wenn sich eine Masse bildet, entsteht zwischen den Individuen ein neuer sozialer und psychischer Zustand (74).
Massen sind eine historische Kraft, die oft mit plötzlicher Wucht auftaucht, aber sie sind als solche keine handelnden Subjekte mit strategisch verfolgten Absichten und Zielen (vgl. 73). Merkmale, die  Massen auszeichnen  werden beschrieben: (neben weiteren) Mobilisierung, Intentionalität, Emotionalität, Spontaneität, Abgrenzung und eine relative Offenheit   (28-32).  Masse ist ein performatives Konzept (310), d.h. ihre Existenz zeigt sich in der AktionDer Satz “Das gerichtete Miteinander vieler Menschen und deren Übereinstimmung von Aktion, Haltung und Stimmung” (21), kann als knappe Definition gelten. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit als Folge eines Auflösens sozialer Distanzen (34).  

Drei historisch abgrenzbare Phasen werden beschrieben, in denen Massen eine jeweils spezifische Erscheinung annahmen und auch jeweils anders wahrgenommen wurden.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema in Politik und Gesellschaft. Seit der Franz. Revolution wurde die Macht der Massen deutlich, die Kriegsbegeisterung von 1914 ist ein anderes Beispiel. Geprägt wurde der Begriff von Gustave Le Bon in dem 1895 erschienenen Psychologie der Massen, mit einer weitreichenden Wirkung u.a. auf Max Weber und Sigmund Freud in einer Zeit beschleunigter technischer und kultureller Innovationen.
Massen wurden oftmals als bedrohliche Freisetzung destruktiver Kräfte  gesehen, als Unterschichtsphänomen. Aristokraten und Bildungsbürger, die sich als Eliten verstanden, sahen sie als Bedrohung, störten sich an ihrer Gewöhnlichkeit. Die Spontaneität und die Wucht ihrer Aktionen weckte Begierden ihrer Instrumentalisierung, so in den Einparteiendiktaturen mit einer autoritären Formatierung und einer Choreographie von Massen. So wurde der Begriff Massen in der Folge oft pejorativ und mit Verachtung verwendet.

Teilhabe am Massenwohlstand

Zweite Phase einer Massen-gesellschaft wurde die Teilhabe am Massenwohlstand, zuerst verwirklicht in der American Middle Class  (16ff). Etwas ähnliches bedeutete Nivellierter Mittelstand. In der Sozialen Marktwirtschaft wurde die Teilhabe am Wohlstand gar zur Gründungslegende der BRD.  Zusammenhalt wurde nicht mehr in Massenveranstaltungen (Ausnahme: Sport), sondern über Massenmedien synchronisiert. Der Einzelne verliert sich nicht mehr in der Masse, sondern arbeitet am sozialen Aufstieg innerhalb einer Massengesellschaft mit ausgeformten Regeln. Die Steuerung der Systeme geschieht durch grosse Organisationen: Volksparteien, grosse Verbände und Unternehmen, an deren Spitze sich die Macht ballt. Kennzeichnend für diese Phase ist ein ausgeprägter Konformismus, bereits geringförmige Varianten im Konsum sollten Individualität hervorheben. Diversität war kein Thema. Erste Wandlungsprozesse zeigten sich vom Rande:   In der beginnenden Popkultur wurde individuelle Rebellion zu einem Modell  (Kérouac und Rebel without a cause werden genannt). Popkultur wurde mehr und mehr zu einer bestimmenden Massenkultur, Individualismus in der folgenden Phase zum Massenphänomen.

festival crowd

Dritte Phase  und Schwerpunkt des Buches ist die Gesellschaft der individualisierten Massen -eine Formulierung, die widersprüchlich erscheint,  in etwa entspricht sie der These der Gesellschaft der  Singularitäten. Zumindest in pluralistischen Gesellschaften  haben viel mehr Menschen als jemals zuvor die Chance, dass ihre Stimme gehört wird. Wahrscheinlich sind sich zudem viele erst jetzt der Rechte und Möglichkeiten bewusst, die ihnen eine Demokratie bietet. Die Massenkultur von heute verspricht allen ihr eigenes Selbst (245), jeder kann seinen eigenen Habitus entwickeln. 
Als alleinstehender Begriff verschwand Masse immer mehr, lebt aber in den Komposita weiter: Massen- kommunikation und Massenmedien, Massenkultur, Massenkonsum- und produktion, Massentourismus, Massenuniversität etc. Sie werden mal abwertend, mal neutral- beschreibend verwendet.  Die grossen gesellschaftlichen Systeme, voran die Kommunikationssysteme funktionieren nur aufgrund massenhafter Beteiligung (vgl. 103), in den klassischen Massenmedien als Publikum, mehr noch auf den Social Media Plattformen, wo sie auch die Inhalte bestimmen. Die neue Massenkommunikation des Internet ermöglicht eine nie geahnte Ausdehnung des Wirkungsraum des Einzelnen (237), vgl. Rezo oder Greta Thunberg.
Spricht man heute von Massengesellschaft, bezieht sich das auf Konsum, Alltagsverhalten und Lebensstil, Geschmackswahl. Man nimmt an den Öffentlichkeiten teil, die dem Habitus entsprechen.  Pluralisierung führt nicht zu einer Atomisierung der Gesellschaft, sondern zu einer Vielfalt neuer Zusammenschlüsse (312). Der alte Traum einer Masse der untereinander Gleichen erscheint in neuer technischer Gestalt (224).

Neun Kapitel gehen die Autoren durch die Bedeutungsebenen und Verwendungen des Konzepts Masse. Zwei wecken aktuell ein besonderes Interesse: IV zu Populismus und VII zu – hier so genannt- Virtuellen Massen. Populismus bedeutet das, sich im Namen einer Masse zu legitimieren, die als “das Volk” ausgegeben wird (136). Und mit diesem wird gern direkt (unverblümt) und ohne die Vermittlung von Medien- und legitimen Vertretungsinstanzen gesprochen.
Virtuelle Massen klingt etwas veraltet, nach Cyberspace der 90er Jahre, meint die Massen in den Social Media Netzwerken, in den Kommentarspalten, Blogs und Chat- Rooms. Massen, die sich zudem mit technischen Mitteln (bots) erweitern und verstärken lassen. Die Grenze zwischen solchen Fakes und tatsächlichen Massen (wobei es gleich ist, ob diese on- oder offline bestehen) wird nicht thematisiert. Sie zu erkennen zählt zur digitalen Medienkompetenz.

Der Text liest sich zwar meist flüssig und immer wieder stösst man auf sehr treffende, zitierfähige Sätze. Er enthält aber auch eine fast übergrosse Fülle an Beschreibungen einzelner Phänomene, Bezüge, Beispiele und Details, die sich oft kaum überschauen lässt. Immer wieder werden die unterschiedlichsten Seitenthemen nacherzählt bzw. weit ausgebreitet, wie etwa eine Passage zu Kunst- und Kampflied von Hanns Eisler. So hinterlässt die Lektüre ein etwas ambivalentes Gefühl. Was auffällt: Luhmann und Systemtheorie kommen nicht vor.
Das Konzept der Masse erschliesst wenig strukturierte Formen von Sozialität, überschneidet sich mit anderen Konzepten, wie Figurationen (die eine Relation zueinander bezeichnen), Tribes, Consozialität. Im Buch genannt werden Multitude, Schwärme, Sphären, Crowd – eigentlich nur die englische Entsprechung (neben mass), der sich über Crowdfunding und Crowdsourcing verbreitet hat.

Gunter Gebauer & Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. DVA, München 2019.  345 S. ISBN: 978-3-421-04813-4. Bildquelle Festival Crowd:  doubleju / photocase.de



instagram – populäre Kultur und Marketingfarm

manche Orte sind besonders instagrammable

Neben Facebook, youtube, Twitter und LinkedIn, evtl. Snapchat ist instagram eine der Grössen der Social Media, seit April 2012 Teil des Facebook- Konzerns. Im Juni 2018 gab das Unternehmen die Zahl der aktiven instagram Accounts erstmals mit >1 Milliarde an – weltweit. 2012, nach dem Kauf waren es 80 Mill. Täglich werden knapp 100  Mill. Bilder hochgeladen, die gesamte Zahl hochgeladener Bilder ist kaum noch darstellbar. Was für alle Social Media gilt, zeigt sich auch bei instagram: Inhalte/Content werden von Nutzern erstellt, die Plattform von einem Digitalkonzern bewirtschaftet. Zu Beginn eine Foto- Sharing Community, ist instagram heute eine globale visuelle Öffentlichkeit – auf der immer mehr Unternehmen und andere Akteure passende Zielgruppen ansprechen wollen. Diese Öffentlichkeit sortiert sich nach den Prinzipien gemeinsamer Themen und Interessen, wie es aus den Konzepten der Tribes oder von Consozialität bekannt ist.

Neue Verbreitungsmedien bringen neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Kommunikation mit sich. Zu Beginn des Jahrzehnts war Digitale Bildkommunikation etwas Neues, sie bündelte die Möglichkeiten, die sich mit dem SmartPhone eröffneten: die sofortige (instantly) Verbreitung  von Bildern an einen Kreis von Abonnenten (abgel. von telegram).
Bilder prägen unseren Blick auf die Welt, und ganz besonders die Konsumwelt. Für jedes neue Medium, jede neue Kulturtechnik lässt sich die Frage stellen,  an welche Stelle sie treten, welche Medien und Techniken sie verdrängen, welchen Platz sie in der populären Kultur einnehmen. Die ständig griffbereite Handy- Kamera, verbunden mit der Möglichkeit der unmittelbaren Weitergabe definierte Photographie neu. Die Bilder von der Welt und vom Konsum verbreiteten sich mehr und mehr über das kleine Format im Stream, weniger über grossformatige Werbephotographie. Das bedeutet nicht, dass Bilder auf instagram nie sorgfältig inszeniert werden, bloss wirken soll es casual und authentisch.

CraftBeer – Consumer Culture der digitalen Zeit

Wie social ist instagram? Wie Twitter, und anders als Facebook, funktioniert instagram nach dem Follower- Prinzip, d.h. solange ein Account nicht auf privat gestellt ist, kann man ihm folgen – abonnieren.  Hashtags (#), die von jedem Nutzer ausgewählt und auch neu eingeführt werden können strukturieren, verschlagworten die Inhalte – und das funktioniert sehr gut. Haben einige der meist verwendeten #, wie #instagood, #photooftheday  kaum inhaltliche Bezüge, verweist  #fashion auf Platz vier  bereits auf eines der primären Themenfelder. Fashion, Food & Travel sind die herausragenden Themen bei instagram.  Dazu kommen nah verwandte Themen wie #beauty, #fitness, #outdoor – vorrangig Lifestyleund dazu gehört das Essen genauso wie Mode, Reisen und Sport – wie geschaffen für die Ausdeutung von Konsumpräferenzen. Es geht um einen singularisierten Konsum, d.h. die konsumierten Güter sind mit Werten und Präferenzen im persönlichen Lebensstil verbunden.
Sicherlich lassen sich nicht alle Themenfelder so offensichtlich Konsumfeldern zuordnen, etwa Landschaft, Architektur, Flora & Fauna – und natürlich sind Haustiere, beileibe nicht nur Hund und Katz, ein ganz ausgeprägtes Feld der digitalen Bildkommunikation  – Tiere gehen immer, und es ist weit mehr als simpler Catcontent.
Es geht immer wieder um Gemeinschaftseffekte über Themen, Interessen und Leidenschaften. Manchmal um ganz bestimmte Erlebnisse, wie z.B.  #myfirsttattoo

instagram hotspot Trolltunga überm Fjord.

Instagram ist Teil einer globalen Popularkultur, mit Erscheinungs-formen wie dem Selfie,  oder Influencerinnen statt Models.  Spektakuläre Orte werden wieder und wieder inszeniert, wie etwa die nebenstehende Trolltunga in Norwegen. Ausserhalb des Bildformats warten schon die Nachfolgenden für den nächsten Shot.
Auch mit Twitter lassen sich Bilder verbreiten, sie sind aber eine “Zugabe” zum Text.  Twitter ist zudem viel stärker aktualitätsbezogen. Den Brand von Notre Dame vor im April 19 liess sich damit etwa so zeitaktuell verfolgen, wie es Sendeanstalten nicht möglich ist. Instagram hat dazu zuwenig journalistisches Potential, Bilder sind nur selten auf Aktualität ausgerichtet.
Wieviel Werbung, Kommerz verträgt ein Netzwerk, ohne dass es die Nutzer nervt und verschreckt? Dort, wo Kunden, Produzenten, Anbieter, Berichterstatter eine Community bilden, gehört es im jeweiligen Maße dazu.  Marketing auf instagram erinnert ansonsten oft an einen Concept Store bzw. Cross Selling, wo immer noch ein passendes Zubehör verkauft werden soll. Kaffeefahrt mit Influencern nennt es die t3n in einem Artikel –  und wie lässt sich Authentizität behalten und gleichzeitig Sales nach oben geschraubt werden (t3n – 4/19)? Interessiert das die Nutzer?

Quellen zur Statistik: statista; brandwatch , futurebiz , https://top-hashtags.com/instagram
Bildquellen: eigene, unten (Trolltunga): hpmoellers / photocase.de



Öffentlichkeit als geteilte Aufmerksamkeit – (zur Diskussion)

Welche Faktoren bestimmen heute das Zustandekommen von öffentlicher Meinung? Sind es immer noch die klassischen Massenmedien – oder welchen Anteil haben die personalisierten Teil- Öffentlichkeiten der sozialen Medien? Unter dem Titel “Öffentlichkeit als geteilte Aufmerksamkeit – wie sich öffentliche Meinung(en) in der digitalen Welt neu konstruieren” haben wir (das sind Live- Streaming Pionier Gunnar Sohn  und ich) eine Session auf dem Media Camp NRW in Oberhausen am kommenden Samstag vorgeschlagen. Wir wollen die Diskussion dazu anschieben bzw. wieder beleben.

Das Thema ist nicht neu, aber in den Hintergrund gerückt. Über das demokratische Potential des Social Web wird mittlerweile seltener gesprochen, mehr über die Macht der Intermediäre – der Datenkraken, über Filterblasen und Echokammern, über Datenskandale, den Datenkapitalismus und  Destabilisierungskampagnen. Unübertroffen ist das Social Web in der Bündelung von Aufmerksamkeit nach #Themen und #Interessen – der Schaffung von Consozialität, der Verbindung von Menschen nach gemeinsamen Interessen und auch Meinungen.
Vor 15 Jahren, im Dezember 2003, veranstaltete die Bundeszentrale für politische Bildung einen Kongress mit viel Prominenz (u.a. Frank Schirrmacher, Dirk Bäcker, Sabine Christiansen) zum Thema Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0.  Mobiles Internet und Social Media gab es damals höchstens in rudimentärer Form, den klassischen Massenmedien war aber bereits eine neue Form von Öffentlichkeit an die Seite getreten. Eine These dieser Tagung sollte man heute zurückholen: Die sog. Zivilgesellschaft wird zur Fünften Macht im Staate. Sie wird die Hauptgewinnerin der digitalen Revolution sein (Volker Grassmuck). Inwieweit hat sich dies seitdem bestätigt?

Strukturwandel der Öffentlichkeit ist ein zentraler Begriff der Veränderung der Bedingungen und Formen öffentlicher Kommunikation und knüpft direkt an eines der wesentlichen Theoriegebäude zum Thema an, an das von Habermas.
Es ist das Modell der an eine sozialstaatlich verfasste Industriegesellschaft gebundenen Massenmedien mit dem Anspruch einer Durchdringung der gesamten Gesellschaft. Aufmerksamkeit war selbstverständlich und gerne bezeichneten sich die Massenmedien als Vierte Gewalt, Garant der Demokratie.
Ein ganz anderer Zugang zur Herausbildung öffentlicher Meinung waren die Thesen zur Schweigespirale von Noelle- Neumann in den 70er Jahren, mit Bedeutung v.a. in der Demoskopie. Demnach orientieren sich viele Menschen an der Einschätzung des Meinungsklimas. Widerspricht die eigene Meinung der als vorherrschend betrachteten Meinung, so hält man sich zurück. Implizit wird hier von Meinungsführerschaften ausgegangen, die das Meinungsklima bestimmen.
Im Dezember erschien in der FAZ*  ein Beitrag mit zwei sehr interessanten Ergebnissen (s. G. Sohn): Die Verteilung der Bedeutung von Sozialen Netzwerken, Öff- rechtl. TV und Lokalpresse bei der Information über Politik und aktuelle Ereignisse nach Altersgruppen wie zu erwarten absteigend nach Altersgruppen, manche Einschätzungen bestätigend eine höhere Affinität zu Sozialen Netzwerken bei Anhängern der AfD . … mehr dazu bei G. Sohn …
Es wäre verwunderlich, wenn eine Strömung die Möglichkeiten nicht nutzen würde, die Social Media bieten. Selektive Nutzung von Medien gibt es solange es Medien gibt. Das Social Web als neues Verbreitungsmedien bedeutet neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Kommunikation, die man vorher noch nicht kannte – und eine immer grösser werdende Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Das führt manchmal zum schnellen Verschleiß von Themen, zu Buzzwords.  Wer in der Schnelligkeit nicht mithalten kann, zelebriert eben Entschleunigung als Vorteil.

Das Monopol der Nachrichtenübermittlung haben die klassischen Massenmedien verloren. Nachrichten von historischem Ausmass (wo warst Du am 11. Sept.?, Trump- Wahl, Brexit) verbreiten sich ohnehin als Selbstläufer, andere nach Ausrichtung der Aufmerksamkeit.  Wer TV- Nachrichten einschaltet, eine Zeitung aufschlägt will professionell aufbereitete Hintergründe erfahren – und vielleicht liebt man auch das Format. Die meisten Regionalzeitungen drucken allerdings ohnehin Agenturmeldungen oder übernehmen gleich einen Mantelteil.

Sieht man  Öffentliche Meinung als eine mentale Dimension des Zusammenhaltes von Gesellschaften ( F. Tönnies) an, dann  ist die Frage ihrer Bildung zentral.

*FAZ  20.12.2018: Die Meinungsblase der AfD-Anhänger, Thomas Petersen, Allensbach Institut; Angaben gründen sich auf Umfrage vom 1. bis 12. Dezember 2018, 1295 Befragte, gerundete Angaben. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/soziale-netzwerke-die-meinungsblase-der-afd-anhaenger-15950157.html?premium



Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (Rez.)

727 Seiten – davon >100 Anmerkungen und Register – das ist Schwergewicht, von Umfang wie Thema. Das Cover erinnert an Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, Zufall? Jedenfalls liegt hier ein, wenn nicht das Standardwerk zum Digitalen Kapitalismus vor.
Vorangestellt ist eine Definition bzw. Beschreibung des Überwachungskapitalismus, in acht  harsch formulierten Thesen. Im Kern geht es um eine neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre kommerziellen Operationen nutzt. Es bleibt nicht allein dabei, die neue Logik der Akkumulation überschreitet den engeren Rahmen kommerzieller Aktivität und bildet die Grundlage einer neuen instrumentären Macht
Daran entzündet sich eine massive und überraschend radikale Kritik. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Zunächst geht es um die Grundlagen, die Genese des Überwachungskapitalismus, dann um seine Durchsetzung und Verbreitung, die Verdatung von Erfahrung, schliesslich die Etablierung einer instrumentären Macht in einer Dritten Moderne.

Überschusssinn bedeutet ein Reservoir neuer Möglichkeiten, für die es zunächst keine Verwendung gibt. Bild: kallejipp/photocase.de

In der vorderen Reihe der Kritik steht Google als Pionier (Facebook, Microsoft und Amazon nicht zu vergessen!). Mit der Entdeckung des Verhaltensüberschusses (96) beginnt der Überwachungskapitalismus.
Überschusssinn bedeutet im weitesten, dass mit neuen Medien/Techniken Möglichkeiten zur Verfügung stehen, für die es zunächst keine Verwendung gibt. Kontrollüberschuss (vgl. Dirk Baecker) verweist auf die Kontroll- Möglichkeiten in den elektronischen und digitalen Medien.
Verhaltensüberschuss ist der Anteil der gewonnenen Verhaltens- Daten, der nicht zur Verbesserung von Diensten notwendig ist. Dieser Überschuss versorgt ein neues Produktionsmittel, das Vorhersagen aus Nutzerverhalten produziert (120/121). Daten, die einst ungenutzt blieben, werden zu Aktiva (191). Der Beginn der Vermarktung in der (personalisierten) Werbung ist eher zufällig, die neuen Vorhersagesysteme lassen sich auf andere Branchen übertragen, die sensibler sind: Finanzplanung, Bildung, Gesundheit. Entwicklungen wie das Internet der Dinge lassen ganz neue Dimensionen erwarten. Selbst Staubsauger und Matratzen liefern damit Daten aus ihrer “natürlichen Umgebung“.
Das Internet war zunächst der grösste unregulierte Raum der Welt (129) – das Bild der last frontier, des wild wild web (Tim Cole) passt. Das bot zum einen Freiraum für experimentelle Subkulturen jeder Art, zum anderen Internet- Unternehmen den Spielraum zum Aufbau von Imperien nach neuen, eigenen Regeln – angetrieben durch die Dynamik des Wettbewerbs. Das Internet wurde dadurch mehr und mehr zum Ort kommerzieller Überwachung in Echtzeit, die möglichst jedes Detail der Online-Aktivitäten registriert. Alles, was zur Überwachung genutzt werden kann, wird auch dazu genutzt.

Geht es in den ersten beiden Teilen des Buches gut nachvollziehbar um die Genese und Verbreitung, beginnt der dritte Teil verstörend: Big Other nennt die Autorin die zentrale Metapher instrumentärer Macht. Eine rechnergestützte und vernetzte Instanz, die menschliches Verhalten rendert, überwacht, berechnet und modifiziert (437). Ideologische Basis ist ein Konglomerat aus Neoliberalismus Hayek’scher Prägung und einem radikalen Behaviorismus nach B. F. Skinner, das formale Gleichgültigkeit der neoliberalen Weltsicht  mit der beobachtenden Perspektive des radikalen Behaviorismus verbindet (437). Letztendlicher Sinn wäre eine Art automatisierte Perfektionierung von Markt und Gesellschaft: Wir könnten wahrscheinlich eine Menge der Probleme lösen, die wir Menschen so haben, so Larry Page 2014 (464). Politisch ist das Modell indifferent, sammelt seine Kräfte aber ausserhalb der Demokratie (590). Unternehmen des Datenkapitalismus stellen oft eine technologische  Unvermeidbarkeit hervor. Technologie besteht aber nie unabhängig von Wirtschaft und Gesellschaft. Letztlich ist der Überwachungskapitalismus nur eine Form der Informationsgesellschaft, nicht unabwendbar.
Bei aller zur Schau getragenen Innovations- Hipness und heroischer Selbstinszenierung unterscheidet sich die Haltung kaum von dem Motto der Weltausstellung von Chicago 1933: “Science Finds – Industry Applies – Man Conforms” (31) (Die Wissenschaft (er)findet – Die Industrie wendet an – Der Mensch passt sich an).

Bleibt zu sehen, welche längerfristige Wirkung von diesem Buch ausgeht. Die Diskussion zur Digitalen Zukunft wird damit eine andere. Unmut an der Ausformung des Digitalen Kapitalismus, an den Datenkraken, hat sich mehr und mehr verbreitet, mal dezent als Ausdeutung (C. Kucklick.- Die granulare Gesellschaft),  mal als dramatischer Rant (Brandrede) (J. Lanier) oder als Appell zur Wiederinbesitznahme/Reconquista des Internet (Tim Berners-Lee).
In diesem Umfang, mit solcher Detailfülle und einer solchen Radikalität wurde der Digitale Kapitalismus bisher nicht beschrieben. Die Kritik steht nicht im leeren Raum. Sie ist analytisch mit allen akademischen Qualitäten, die Genese von Machtstrukturen ist nachvollziehbar. Sie ist eingebettet in Bezüge zu den maßgeblichen Hintergründen und Ideologien – sie wird begleitet von Diskursen u.a. zu Hanna Arendt, nicht nur Piketty kommt vor, u.a. auch Polanyi.  Es geht letztlich um die Verteilung von Macht in einer neuen (dritten) Phase des Kapitalismus – um Metamorphosen der Macht in einer Umgebung,  die in wenigen Jahren zur bestimmenden Größe geworden ist. 
In den Feuilletons wird Zuboffs Werk positiv bis begeistert besprochen. Zur FAZ gibt es besondere Beziehung, wohl deshalb erschien die deutsche Ausgabe noch vor der amerikanischen.
Man sollte den Kapitalismus nicht roh geniessen. Er gehört gekocht, und zwar von einer demokratischen Gesellschaft und ihren Institutionen (63).All das bedeutet nicht, auf die Segnungen des Netzes zu verzichten, Programm wäre eine Zivilisierung.

Sicher sind 727 Seiten viel, eine detaillierte Gliederung und ein umfangreiches Register machen es zumindest einfacher, darin zu  navigieren

Shoshana Zuboff (Übs: Bernhard Schmid): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt/New York 10/2018 (orig.: The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power.  727 S. ISBN: 978-3-593-50930-3



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