Die Sozialisation von Maschinen – Künstliche Intelligenz: Transformation und Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft

Zu fragen, wie etwas funktioniert, ist der beste Zugang zur Wirklichkeit. Das gilt ebenso für Maschinen, die die zentrale Funktionen des Gehirns gleichwertig imitieren und in vielerlei Hinsicht dessen Leistungsfähigkeit übertreffen (12).
Künstliche Intelligenz: Transformation und Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft ist ein langer, sperrig-nüchterner Titel, hinter dem ein  komplexer Erklärungsansatz und ein ganz bestimmtes Verständnis der Genese von KI steht.
Sozialisation von Maschinen klingt spektakulär – gemeint ist  der Prozess, durch den Maschinen und künstliche Intelligenzen zunehmend in soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen integriert werden.

Autor Frank H. Witt ist Professor der Wirtschaftswissenschaften und Philosoph – mit zahlreichen internationalen Stationen, von Wuppertal bis Alcalà (Spanien), Hongkong, Tokyo und Windhoek/Namibia,  derzeit Malta. Das Buch erscheint im Mai, der Autor hat mir vorab ein pdf zukommen lassen.

Von den Grössen seines Brotfachs lässt er nur wenige gelten, so die Klassiker Keynes und Schumpeter, von den Zeitgenossen Daron Acemoglu.
Die Philosophie von Ludwig Wittgenstein (1889-1951) und das Grundlagenwerk des Computer- Wissenschaftlers Alan Turing (1912-1954) spielen im Buch eine zentrale Rolle.
Witt beschreibt Wittgenstein als einen Wegbereiter der Entwicklung von KI.  Dazu zählt sein realistisches Verständnis der Bedeutung von Zeichen, Worten und Sätzen – definiert durch den sozialen Kontext, in dem sie verwendet werden (181). Seine Philosophie hilft zu verstehen, wie Sprache und Bedeutung funktionieren.
Turing legte die mathematischen und konzeptuellen Grundlagen dafür, wie Maschinen überhaupt denken und Probleme lösen können, ausgehend von der Frage, wie Maschinen lernen könnten und zur Metapher des Gehirns als Maschine. Auch spätere Entwicklungen, wie etwa neuronale Netze und lernende Systeme, berufen sich stärker auf Turing und kognitionswissenschaftliche Modelle, die an biologische Prozesse angelehnt sind.
Beide zusammen bilden die komplementären Säulen moderner KI: Wittgensteins kontextbasiertes Sprachverständnis liefert die theoretische Grundlage für Bedeutungserfassung, während Turings Formalisierung des Denkens die algorithmische Umsetzung ermöglichte – eine Synthese aus sozialer Kontextualisierung und mathematischer Operationalisierung des Denkens.

Das Gehirn als Vorbild für die Entwicklung von KI? – Bild: Sumaid pal Singh Unsplash+

Lernen von Maschinen geschieht zunächst durch systematisches Training, wurde aber ebenso nach dem Vorbild biologischer – menschlicher – Intelligenz entwickelt. Witt spricht in diesem Zusammenhang von einer Entkopplung von Intelligenz und menschlichem Bewusstsein. Künstliche Intelligenz setzt voraus, dass Maschinen lernen und sich selbst weiterentwickeln können – schneller als der Mensch, aber nach den Prinzipien evolutionärer Anpassung.
Orientierung an der Evolution bedeutet dabei zweierlei: Zum einen werden so langfristige Dysfunktionalitäten vermieden, zum anderen wird KI so nicht als radikale Disruption, sondern als Teil einer kontinuierlichen gesellschaftlichen Integration verstanden.

Die Erfolge aktueller KI, so der Umgang mit natürlicher Sprache incl. der Unterhaltung mit Menschen, sowie komplexe Fähigkeiten wie autonomes Fahren, Buchhaltung und Rechtsberatung sind Erfolge von  KI auf der Basis der Nachahmung biologischer Evolution. Programmierte KI – bzw.  auf der Basis klassischer programmierter Computer vorgetäuschte KI hat dagegen keinerlei Chance (179).

Fünf Fragen stellt der Autor dem Buch voran: Wie funktioniert der Mensch als Lebewesen? Wie funktioniert die globale Gegenwartsgesellschaft? Wie funktioniert das Gehirn? Wie funktioniert KI? Wie lässt sich die Zukunft prognostizieren und gestalten(24)
An diesen Fragen baut sich die Argumentationslinie auf – unterbrochen von einigen Exkursen. Es geht um einen realistischen Blick auf Gegenwart und Zukunft. Das erfordert aber auch, darzustellen, wie Wirklichkeit entsteht, sich verändert und weiter verändern wird.
Der Blick auf KI ist nicht auf isolierte technologische Phänomene gerichtet, sondern als eine Fortsetzung evolutionärer Linien. Der Ansatz erfordert ein Grundverständnis der biologischen Evolution, der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Faktoren und Prozesse, die dabei eine entscheidende Rolle spielen.
Evolution versteht Witt – systemtheoretisch – als eine biologische, soziobiologische und soziale Theorie der Selbstorganisation komplexer Systeme. Die biologische Evolution wird durch Genveränderungen angetrieben, die soziale durch Kommunikation.
Die Gegenwartsgesellschaft zeichnet sich durch kumulative, d.h. sich sammelnde und ergänzende Innovationen aus – ihre Häufung beschleunigt die Entwicklungen. Sie basiert auf Kommunikation und wird daher zunehmend von Algorithmen und digitalen Plattformen gesteuert.
Genetisch ist die heutige Menschheit nach Durchlauf einiger Flaschenhälse weitgehend angeglichen.

KI geht nach Witt von einer Doppelrevolution der Biotechnologie und Informationstechnologie aus, die aufeinander aufbaut, wechselseitig zurückwirkt und sich daher enorm beschleunigt (15).
Informationsverarbeitung in grossen Datenmengen ist für das menschliche Bewusstsein aufgrund der enormen Anzahl möglicher Kombinationen und der geringen Wahrscheinlichkeit von Treffern nur schwer leistbar, für lernende Maschinen jedoch problemlos zugänglich.
Large Language Models
basieren auf der Berechnung von  Wahrscheinlichkeiten in Kontextfenstern – ein Verfahren, das in bestimmten Aspekten wie Informationsbreite und Verarbeitungsgeschwindigkeit menschliche Kommunikation übertrifft. KI verarbeitet Information nicht nach starrer mechanischer Logik, sondern nach Mustern von Bedeutung, Assoziation und Vorhersage – in gewisser Weise dem menschlichen Gehirn ähnlich, jedoch auf der Grundlage massiver paralleler Berechnungen – Parallel Computing– , die gleichzeitig enorme Datenmengen verarbeiten können.
Muster und Abweichungen, die zu Krankheiten oder zu bestimmten Eigenschaften führen, können mittlerweile besonders gut durch KI erkannt und vorhergesagt werden.

Assoziative Triangel (S.191) – volle Auflösung nach Klick

Die Graphik (li.) zeigt ein Dreieck von Beeinflussungen: Ludwig Boltzmann  (1844-1906), begründete die  statistische Mechanik. Seine Idee der Entropie als Maß für Unordnung und die Anwendung statistischer Methoden in der Wissenschaft beeinflussten Wittgensteins Denken über Ordnung und Struktur in der Welt und der Sprache.
Die Begegnung zwischen Wittgenstein und Turing 1939 in Cambridge gilt als ein Schlüsselereignis der Informationsgesellschaft. Wittgenstein suchte nach Lösungen philosophischer Fragen, Turing nach praktischen Lösungen. .
Turing war tief beeindruckt von Wittgensteins Analysen zum Zusammenhang von sprachlicher Bedeutung, Bewusstsein und Sozialisation. Turing orientierte sich bei der Imitation menschlicher Gehirnfunktionen an der Entwicklung von Kindern und ihrer Sozialisation, ihrer geistigen Fähigkeiten, Intelligenz und Fähigkeit zu denken (17). Sozialisation von Maschinen wurde so zum Paradigma der Entwicklung von KI (192). So sieht der Autor KI als Basistechnologie eines neuen, zweiten Maschinenzeitalters*.

Witts Blick auf die moderne, globale Gegenwartsgesellschaft ist durch Luhmanns Systemtheorie geprägt: Soziale Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung und Wissenschaft erscheinen als eigenständige Stufen systemischer Differenzierung. Von KI gesteuerte Kommunikation greift zwangsläufig und zunehmend tief in diese Systeme ein – mit weitreichenden Folgen für ihre Funktionslogiken.

In einer nahen Zukunftsperspektive sieht Witt KI im Alltagsleben ebenso angekommen wie in institutionalisierter Politik, Wirtschaft und Bildung. KI, die Bilder, Sprache und Texte verstehen und generieren kann, wird – so seine These – nahezu alles verändern. Ob sie auch zur Bewältigung der multiplen Krisen der Gegenwart beitragen kann, bleibt offen und hängt wesentlich von substanziellen Veränderungen des Gesellschaftssystems ab.

Veränderungen sind nie nur technische Anpassungen, sondern Ergebnis komplexer gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse – beeinflusst von politischen Entscheidungen, Machtdynamiken, zivilisatorischen Standards und Übereinkünften und nicht zuletzt einer Vielzahl unbeabsichtigter Nebenwirkungen. Zukunft ist nicht einfach ein Fortschreiten, sie verlangt Mitgestaltung auf vielerlei Ebenen.

Witts Buch ist keine leichte Lektüre – allein schon aufgrund der zentralen Rolle von Wittgensteins Philosophie, von der der Autor selbst sagt, dass sie nur wenige wirklich verstanden haben. Es verlangt die Bereitschaft, sich auf eine vielschichtige Verbindung von biologischer Evolution, sozialer Entwicklung und technologischer Innovation einzulassen.
Am Zielpunkt steht eine Sozialisation von Maschinen – als Fortsetzung der Evolution über das menschliche Bewusstsein hinaus. Die Entstehung von KI wird hier nicht als Bruch, sondern als Integration in eine sich fortsetzende Menschheitsgeschichte verstanden: zunächst durch genetische Veränderungen, später durch Kommunikation und zivilisatorischen Wandel angetrieben.
Der breite Bogen der Beschreibung wechselseitiger Prozesse erinnert des öfteren an den Zivilisationsprozess bei Norbert Elias bzw. Konzepte der Technogenese, der evolutionären Verbindung von technischem und gesellschaftlichem Wandel, die aber nicht explizit genannt werden. Allerdings wird  Polanyi genannt, der einige Parallelen dazu aufweist.

Anschliessen lassen sich  Fragen der Materialität von KI, wie sie im Atlas der KI   von Kate Crawford dargestellt werden.
Politisch und gesellschaftlich brisant sind die entstehenden Geschäftsmodelle, die an die Dominanz von BigTech in den Social Media erinnern. KI basiert auf kollektiv erzeugten Wissensbeständen und verwertet individuelle Schöpfungen in Ton, Bild und Text – was fundamentale Fragen des geistigen Eigentums aufwirft: Wurden diese Daten legal erworben und verwendet?
Droht mit der KI-Verbreitung eine weitere Landnahme mächtiger BigTech-Konzerne, oder besteht die Chance, sie als Menschheitseigentum zu etablieren?

 Empfehlenswert ist im Weiteren ein Aufsatz des Soziologen Fabian Anicker, der ebenfalls von Sozialisierten Maschinen spricht (link)

Frank H. Witt: Künstliche Intelligenz: Transformation und Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft-UVK Verlag , 220 S. ,  erscheint im Mai 25. .  auf yt: Wittgenstein und Turing: KI als kumulative Innovation  ¹ s. *+Fabian Anicker: Sozialisierte Maschinen. Zur gesellschaftlichen Funktion von Künstlicher Intelligenz. Zeitschrift für Theoretische Soziologie 1/2023; S. 79-105 ,  s. auch: Turing and Wittgenstein: An entanglement of math and philosophy. Bigthink, 12/23 – * vgl.: Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age. orig.  2014, dt. 2018. – ** Humanismus und Berechenbarkeit: Der Dialog zwischen Ludwig Wittgenstein und Alan Turing als Ur-Ereignis der Informationsgesellschaft. S..166 – 230 In: André Schüller-Zwierlein:. Die Fragilität des Zugangs. 2022



Cyberlibertarianism – The Right Wing Politics of Digital Technology

Im gereizten Klima der letzten Wochen – seit der zweiten Trumpwahl, dem Bruch der Ampel, der Parteinahme von Elon Musk für die AfD, dem Kotau Zuckerbergs vor Trump usf. – gibt es ein starkes Interesse an Erklärungsmodellen  zum Schulterschluss von BigTech mit dem autoritären Rechtspopulismus von Trump und seiner Bewegung MakeAmericaGreatAgain.

Demokratisierung des Wissens, Freiheit der Information, der Aufbau digitaler  Gemeinschaften – all das unter Umgehung bestehender Hierarchien – zählten lange Zeit zur Agenda des Digitalen Fortschritts.
Digitaler Fortschritt war und ist in seinen vielfältigen Stationen aufs engste mit der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung im  späten 20. und im 21. Jahrhundert verbunden.
Manche Branchen und Institutionen zerschlug es, insgesamt wurde Digitaler Fortschritt aber mit Zuversicht bis Begeisterung aufgenommen, als Erweiterung der persönlichen Möglichkeiten und Spielräume.
Jahrzehntelang war das Netz der Ausgangsort von Veränderung. Vom frühen Cyberspace, zum Web 2.0., zu den Social Media etc. – Medienöffentlichkeiten und ihre Möglichkeiten änderten sich immer wieder, sie waren Teil der populären  Kultur. Ganze Generationen wurden mit  bestimmten Formaten medialisiert, ihr Ablauf als persönliche (Medien-) Biographien erlebt. Technologie bot immer wieder die Mittel zur Umgehung bestehender Institutionen und ihrer Restriktionen.

Cyberlibertarianism The Right-Wing Politics of Digital Technology erschien im November 2024. Autor David Golumbia (1963–2023) verstarb kurz vor Vollendung des Buches.  Peer-Reviews waren bereits abgeschlossen, einige noch bestehende Lücken wurden von George Justice anhand von Manuskripten  vervollständigt
Golumbia geht davon aus, dass Right- Wing Politics von Beginn an sowohl in der technischen wie in der sozialen Konstruktion der digitalen Welt angelegt waren. Bereits 2016 hatte er in The Politics of Bitcoin: Software as Right-Wing Extremism: Bitcoin, Digital Culture, and Right-Wing Politics  Verbindungen von rechtspopulistischen und techno-libertären Ideen im Umfeld der Kryptowährungen offengelegt.

Als Begriff tauchte Cyberlibertarismus seit den 90er Jahren auf, so in den Debatten zu J.P. Barlows Declaration of the Independence of Cyberspace (1996). Deklariert wurde damit der Anspruch auf ein sich selbst regierendes Internet und seine Unvereinbarkeit mit staatlichem Zugriff und staatlichen Regulierungen.
Eine passende Beschreibung stammt bereits aus dieser Zeit: a collection of ideas that links ecstatic enthusiasm for electronically mediated forms of living with radical, right-wing libertarian ideas about the proper definition of freedom, social life, economics, and politics (Langdon Winner, 1996).

Libertär stand ursprünglich für eine anti-autoritäre, anti-kapitalistische Haltung, für individuelle Freiheit als Rebellion gegen gesellschaftliche und moralische Beschränkungen.
Eine Umdeutung erfolgte in den USA der Zeit des kalten Krieges hin zum  Marktradikalismus unter dem Einfluss der Chicago school of economics, der Schriften von Ludwig v. Mises, und auch Anarcho- Kapitalisten wie  Murray Rothbard
In den aktuellen Diskussionen bezeichnet libertär meist marktradikale Strömungen, die individuelle Marktfreiheit, radikale und uneingeschränkte Eigentumsrechte sowie oft Vorstellungen von Ungleichwertigkeit vertreten: the shared view is that the most important expression of “individual freedom” is found in the individual’s ability to profit (28).
Im Tech- Kontext verschmolz die Bedeutung mit techno-utopischen Ideen und wuchs zur Fundamental- Opposition gegen jede staatliche Regulierung des Internet. Alle Einschränkungen, wie Anti- Trust Gesetze, Umweltauflagen etc. seien ein Affront gegen die Freiheit. In ihren Extremen, wie man sie etwa bei Peter Thiel sehen  kann, geht es um die Überwindung demokratischer Strukturen zugunsten einer technokratischen Elite.  Auch Elon Musk ist dieser Richtung zuzuordnen,  mehr affektiv als ideologisch unterfüttert. Wie soll man es nennen? vollkommen enthemmten, aber wirkungsbewussten Opportunismus? Ein Milliardär, der austestet, wie weit er gehen kann?

Cyberlibertär wird hauptsächlich als analytische Fremdbezeichnung verwendet – neben dem Autor Golumbia u.a. von Lincoln Dahlberg und Langdon Winner (s.u.).
Golumbia verweist auf entscheidende Glaubenssätze, die bereits früh angelegt waren:  … the view that ‘centralized authority’ and ‘bureaucracy’ are somehow emblematic of concentrated power, whereas ‘distributed’ and ‘nonhierarchical’ systems oppose that power (61) ).
Diese Einstellung lässt sich oft auf die Ansicht reduzieren, dass demokratische Regierungen das Internet nicht regulieren können oder dürfen – oder, daraus folgernd, dass das Internet ein Ort sein sollte, für den Gesetze nicht gelten.
Dabei stösst man schnell auf das entscheidende Paradox: Cyberlibertarismus lehnt gesellschaftliche Regulierung ab – die doch auf rechtsbasierten Regeln beruht – gleichzeitig wird ein weitgehend unregulierter freier Markt  befürwortet –  auf dem sich zwangsläufig Machtkonzentrationen und hierarchische Strukturen herausbilden. Letztlich bedeutet das freie Hand für Oligarchen.

Cyberlibertarianism lässt sich als unvollständige Ideologie, als Sammlung kulturell gewachsener Denk- und Handlungsmuster, oft als opportunistisch genutzte Legitimation verstehen.
Das Buch spiegelt die kulturelle und politische Geschichte der USA – mit einer Betonung auf Kalifornien und das Silicon Valley –  von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart. Es bietet einen umfassenden Blick auf die Zusammenhänge zwischen der technokulturellen Entwicklung und dem politischem Denken, was aktuell sehr brisant ist – written by the most optimistic pessimist you could ever meet (George Justice im Vorwort). 

Symbole der kalifornischen Ideologie: Lady Liberty auf dem Burning Man Festival. Foto: Jeremy Bishop unsplash.con

Californian Ideology ist eine beliebte Story zu dem, was in der Innovationskultur zusammenkam:  die Counterculture der Hippies und die vorhergende der Beatniks, ein ausgeprägter Hedonismus, die neuen Möglichkeiten der Technologie-  dazu eine Landschaft und ein Klima, die alles bieten, weltbekannte Universitäten und Forschungseinrichtungen  und schon früh viel Geld v.a. aus dem Verteidigungsetat. Im gleichnamigen Text wurden bereits 1996 wesentliche Elemente, die auf  Cyberlibertarismus zutreffen, beschrieben (s.u.¹)

Das Internet wurde schliesslich zur Electronic Frontier, zum neuen grenzenlosen Raum individueller Freiheit, frei von staatlicher Kontrolle – unreguliert.  Dazu passt auch das Ideal eines autarken Individuums.
Statt der Freiheitsideen der Hippies verbreiteten sich längerfristig die  genannten wirtschaftlichen Freiheitsideen. Ein spezifischer Habitus und informelles  Auftreten blieben, verweisen aber nicht auf eine Aufweichung von Machtstrukturen.
Zur Expansion der Tech Unternehmen gibt es eine ganze Reihe von Modellen. Das Modell der Landnahme schliesst anschaulich an das der Electronic Frontier an: der Ausbau von Reichweiten, die Erschliessung und Strukturierung des Digitalen Neulands.  Aufbau und Verbreitung der Plattformen ist ein zentrales Ergebnis der digitalen Landnahme. Digitale Sozialformate haben sich daran entwickelt. 

Der zentrale Konflikt zwischen staatlicher bzw. gesellschaftlicher Regulierung vs. der Reichweiten- Macht von BigTech bleibt. Die propagierte Freiheit befördert  letztlich  die Entstehung von Privat-Monopolen.
Der wesentliche Kipppunkt liegt dort, wo die digitale Ordnung der Dinge bedeutender wird als die bislang bestehende. Zunächst werden die Plattformen als neue Möglichkeiten erlebt. Sind sie soweit gewachsen. dass sie unumgehbar für die Teilhabe an Medien, Kultur und Geschäftsmöglichkeiten sind, werden sie zu einem faktischen Monopol.
Hier trifft der Anspruch von demokratisch legitimierten Staaten, Bedingungen zu regulieren, auf die wachsende Macht von Tech-Unternehmen, die inzwischen zu den kapitalstärksten globalen Akteuren gehören.
In libertärer Lesart wird diese Marktmacht jedoch nicht als Problem, sondern als natürliche Folge individueller Freiheit und unternehmerischer Autonomie betrachtet. (Cyber-)libertäre Ideologie wird so zunehmend zur Rechtfertigung der immer stärkeren Präsenz und des Machtanspruchs großer Tech-Unternehmen genutzt. Their freedom doesn’t mean your freedom – heisst es in einem Video zum Thema.
Digitale Konzerne können durch ihre enorme Marktmacht faktisch wie private Gesetzgeber agieren, es entsteht ein Markt- Pseudo-Staat, dessen Regeln weder demokratisch legitimiert noch rechtlich angemessen kontrolliert sind.

In der Praxis läuft Cyberlibertarismus oft mit technologischem Determinismus zusammen: Plattformen wie Google, Meta oder Amazon propagieren, dass ihre Technologien unaufhaltsame Fortschritte bringen – deterministisch – während sie gleichzeitig betonen, dass diese Fortschritte den Einzelnen und freien Märkten zugutekommen – libertär.
Soweit zu den Grundlinien des Cyberlibertarismus. David
Golumbia beleuchtet in Cyberlibertarianism eine ganze Reihe weiterer Stränge, manchmal esoterischer und kryptischer bis hin zu cyberfaschistischer Art im politischen Denken des Silicon Valley. So finden sich jeweils ausführliche Abschnitte zu  Nick Land and the Cybernetic Roots of Contemporary Fascism (381ff),  zur Alt- Right Bewegung etc. und auch zu Vorstellungen posthumanistischer Welten. 

Einige wesentliche Bezüge ziehen sich durch den ganzen Text:
Surveillance Capitalism von Shoshana Zuboff (2018/19) war die erste massive Kritik an den Geschäftsmodellen von BigTech- sie traf v.a. Google: the human expectation of sovereignty over one’s own life and authorship of one’s own experience” (521)werde von digitalen Technologien bedroht. Als einzige Lösung sieht Zuboff, dass Demokratien über Gesetzgebung und Regulierung wieder Hoheit über den politischen Raum beanspruchen. Zwar schärfte ihre Kritik die öffentliche Diskussion und veränderte die Wahrnehmung von Big Tech, führte jedoch nicht zu grundlegenden Veränderungen.

Überraschend kritisch steht Golumbia zu Julian Assange, dem er vorhält sich als heroische Zentralfigur eines Anti-Establishment-Kampfs zu inszenieren. Seine vermeintlich anarchistischen Positionen habe faktisch rechtspopulistische Narrative unterstützt. Generell sieht er immer wieder in vermeintlich techno-utopischen oder cyber-anarchistischen Positionen ein Einfallstor, das in der Praxis rechten Bewegungen in die Hände spielt.

Der Blick auf das ganze Bild  zeigt eine breite, v.a. in der kalifornischen Bay- Area angesiedelte Szene, die die Möglichkeit hatte, eine neu entstehende digitale Welt zu gestalten. Technisch getrieben, aber auch mit popkulturellen Wurzeln (Verweis auf die Grateful Dead). Angeschoben durch Geldströme  aus staatlicher Förderung und Venture Capital. Hervorgebracht hat sie die Blockchaim, den Überwachungs- Kapitalismus, das Metaverse auf der Wunschliste. Mental oft berauscht durch die Erfolge der Umsetzung.  Schliesslich eine machtbewusste kleine Elite, die sich zunehmend als globaler Machtfaktor sieht.

Golumbias Urteil ist knapp und vernichtend: An einer Stelle (279) heisst es: Cyberlibertarian politics in a nutshell: antidemocracy portraying itself as both democracy and “above” politics, when it is anything but.
Zusammenfassen lässt sich sein Fazit so:  Demokratische Werte können nur dann behauptet werden wenn wir das Digitale wieder in unseren eigenen Händen verankern. Ansonsten wird es zur Spielwiese weniger Akteure bzw. einer kleinen Elite, die einem neuen Autoritarismus den Weg ebnen.

Oligarchie – Konsequenz des Cyberlibertarismus?

Das Buch ist erst vor zwei Monaten erschienen – der Text von Golumbia war spätestens im Sommer 23 fertig gestellt. Seitdem haben sich Weltlage und der globale Vibe so sehr verändert, wie man es kaum für möglich gehalten hatte.
Exakt während des Lesens und des Schreibens dieser Rezension folgte die nächste Stufe der Eskalation: Trumps Inauguration. Eine Inszenierung von Macht und Geld mit dem Spalier der Milliardäre aus der Tech- Branche. Territorialansprüche werden an verbündete Staaten gestellt.  Der Nazigruss von Elon Musk als inszenierte Provokation.

Offen bleibt, wie stabil die Machtstrukturen sind. Wie stabil ist die Achse von MAGA und Big Tech? Wie stark sind die Protagonisten tatsächlich?  Musk tritt derzeit als globaler Toxiker auf, der massiv wirtschaftliche und mediale Macht politisch einsetzt, dabei auch den deutschen Wahlkampf aufmischt. Wäre etwa ein Metaverse aus dem Hause Meta/Facebook als erweiterter gesellschaftlicher Raum wünschenswert? .

Ein Meinungs- Fundstück zum Nazigruss von Elon Musk:  It was a display of power, and a signal: the tech oligarchy is here, and it will do what it wants.

 

David Golumbia und George Justice: Cyberlibertarianism: The Right-Wing Politics of Digital Technology, 481 S. 11/2024. David Golumbia: The Politics of Bitcoin. Software as Right- Wing Extremism. University of Minnesota Press. 2016.  Cyberlibertarianism: . Clemson University. 2013 Means TVWhy Is Elon Musk Like That? – Introduction to Cyberliberatarianism – Maik Fielitz & Holger Marcks. Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus. Duden Verlag, Berlin 2020. Langdon Winner: Cyberlibertarian Myths and the Prospects for Community 1997/2018 Lincoln Dahlberg: Cyber-Libertarianism 2.0: A Discourse Theory/Critical Political Economy Examination. Cyberlibertarianism
¹Information technologies … empower the individual, enhance personal freedom, and radically reduce the power of the nation-state. Existing social, political and legal power structures will wither away to be replaced by unfettered interactions between autonomous individuals and their software. Indeed, attempts to interfere with these elemental technological and economic forces, particularly by the government, merely rebound on those who are foolish enough to defy the primary laws of nature. aus: Barbrook, Richard, and Andy Cameron. 1996. “The Californian Ideology.” Science as Culture 44-72.  



Metaverse 2 – Building the Spatial Internet

Metaverse war der Hype vor dem KI- Hype – das räumliche Internet in 3D als neue technologische Entwicklungsstufe des WorldWideWeb. Mittlerweile wird überwiegend von Spatial Computing oder dem räumlichen Internet gesprochen – eine Evolution der ursprünglichen Metaverse-Vision.

Zum Hype wurde Metaverse als sich Facebook im Oktober 2021 zu Meta umbenannte und in der Folge 36 Mrd $¹ in seine Entwicklungsabteilung Reality Labs investierte. Der Name ist dem dystopischen Science Fiction- Roman  Snowcrash  von Neal Stephenson (1992) entlehnt.

So verbreitete sich eine bestimmte Vorstellung des Metaverse (Meta/ Über -versum) als einer parallelen Welt mit nach Wunsch und Vermögen eingekleideten Avataren und virtuellen Grundstücken – zugänglich über VR- Headsets.  Manchmal phantastisch, zumindest eskapistisch.
Eine mögliche, aber nicht zwingende Vorstellung. Spatial Computing betont dagegen eine nüchterne,  anwendungsorientierte Vision des räumlichen Internet:  digitale Informationen werden in physische Räume integriert. Es gilt der Nutzen von Simulationen, technischen (XR-)  Anwendungen aller Art, z.B. Entwürfe für die Bauwirtschaft, 3D-Visualisierungen, Remote-Zusammenarbeit.

Hintergründe bzw. Voraussetzungen zum Hype waren zum einen technische Fortschritte, so in der Graphikleistung, schnellere Internetverbindungen, kulturell  auch die Gewöhnung der Nutzer an digitale Räume in der nur kurze Zeit  zurückliegenden Pandemie. Blockchain und NFTs spielten anfangs als potenzielle wirtschaftliche Grundlage eine Rolle, verloren aber an Überzeugungskraft und Akzeptanz.

BigTech-Konzerne waren im Social Web reich geworden und drängen in Successor States des heutigen Internet – in die Next version of the Internet. Es geht um das Aufspüren und die Entwicklung neuer Geschäftsbereiche und die  Aufrechterhaltung von Marktmacht. Manche der bestehenden Geschäftsmodelle zeigen Sättigungserscheinungen. Zukunftserzählungen werden oft als unausweichlich und bombastisch inszeniert: futures appropriation. Technologie-Berichterstattung ist daran oft mehr interessiert als an aktueller Realität. Jede Entscheidung, jede Handlung, kann Folgen für den Aktienkurs haben.

Zwei wesentliche Merkmale sind festzuhalten: Das aktuelle Internet basiert technisch auf der Übertragung von Datenpaketen, die in kleinen Partikeln bei Bedarf gesendet werden (wie beim Zugriff auf Webseiten und z.B. auch bei Video-Konferenzen). Das räumliche Internet erfordert eine kontinuierliche Datenübertragung und Synchronisation für die gemeinsame virtuelle Umgebung.
Das Nutzungserlebnis des Metaverse ist das eines durchgängig verbundenen virtuellen Raums – technisch eine persistente, kontinuierliche 3D-Umgebung. Das  (Uni-)Verse im Metaverse impliziert dazu eine universelle, offene soziale Sphäre.

Als First- Mover inszenierte Meta/ Facebook den Hype, andere Konzerne zogen mit unterschiedlichen Schwerpunkten nach: Microsoft, Google investierten in VR-Headsets, in Plattformen  und technologische Infrastruktur.
Gaming-Plattformen wie Roblox, Fortnite und Minecraft boten bereits virtuelle Welten an, die als eine Art Proto-Metaverse erlebt wurden. Diese Plattformen hatten bereits Millionen von Nutzern und zeigten, dass immersive, gemeinschaftliche Erlebnisse in virtuellen Welten einen breiten Anklang finden können.
Apple vermied den Begriff Metaverse, investierte aber in AR/VR-Technologien, lancierte dann im Juni 2023 mit der  Apple Vision Pro den Begriff Spatial Computing – der dann als Spatial Internet den Begriff Metaverse verdrängte. Diese Entwicklung markierte einen Wendepunkt weg von der Vorstellung einer parallelen virtuellen Welt, hin zu einer möglichst nahtlosen Integration digitaler Elemente in die physische Umgebung.
Das Nutzungserlebnis von Spatial Computing ist das einer digital erweiterten physischen Realität – eine möglichst nahtlose Überlagerung und Integration digitaler Elemente in die physische Umgebung. Anwendungen werden für ihren jeweiligen Gebrauch erstellt bzw. programmiert.

Autor Matthew Ball, einer der einflussreichsten Analysten und Vordenker des Metaverse, hatte 2022 auf dem Höhepunkt des Hype mit ‘The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything‘ ein umfassendes Compendium veröffentlicht. Seine Definition des Metaverse wurde weithin als Standardreferenz akzeptiert* (s.u.).
Im August 24 erschien eine Revised and Updated Edition mit dem bezeichnenden Untertitel Building the Spatial Internet. Mehr als 70% des Inhalts wurden neu geschrieben. Im Grunde ein neues Buch, zumindest eine neue Kontextualisierung von Metaverse.
Gegenüber der Auflage von 2022 sind rund 130 Seiten und einige Kapitel hinzugekommen: insbesondere die Rolle der KI, die Weiterentwicklung der XR- Zugangsgeräte und die Integration von Spatial Computing in bestehende Technologie-Ökosysteme.

Was hat sich in den zwei Jahren an der Zukunftsvision verändert? Eine Relativierung ist sofort sichtbar:  Der Satz And How It Will Revolutionize Everything wurde gestrichen – nicht nur als Subtitle.
Nach dem Hype verschwand das Metaverse nicht. Zahlreiche Technologien und Konzepte finden  im Gaming Anwendung; Weiterentwicklung und aktuelle Diskussion finden auf den zugehörigen Plattformen statt. Monatliche Teilnehmerzahlen erreichen dort überraschende Grössenordnungen: Epic Games Store (Fortnite) nennt z.B. 75 Millionen monatlich aktive  Nutzer.
In der Gaming- Szene trifft eine an virtuelle Welten gewöhnte, sehr technikaffine Nutzerbasis auf eine ausgebaute Infrastruktur – und ist auch bereit dafür Geld auszugeben.

Spatial Computing. Foto: Erik Mclean/ Unsplash

Die Plattformen zeigen Merkmale des Metaverse: Es gibt soziale  Aktionen in virtuellen Räumen, eine Creator Economy, die auch so heisst (Fortnite), sie bieten einen gewissen Rahmen für soziale und kommerzielle Interaktionen, die über das reine Gaming hinausgehen.
Sog. Islands bieten interaktive Orte auf den Gaming- Plattformen.  Es sind bedingt soziale, experimentelle und kreative Räume die den Regeln und der wirtschaftlichen Kontrolle der Plattformbetreiber unterliegen und einen bestimmten Nutzertypus ansprechen.  Nutzungen wie virtuelle Geschäfte, soziale Treffpunkte, Markenrepräsentationen oder Aktionen wie Kunstevents und Modenschauen bleiben aber eher experimentell.
Plattformen wie Sandbox und Decentraland bestehen zwar weiterhin, haben aber deutlich an Aufmerksamkeit verloren und erreichen nur einen Bruchteil der Besucherzahlen der Gaming- Plattformen.
Einen kompakten Einblick in die Vorstellungen zum Spatial Computing gibt es übrigens in einem Rundgespräch mit Matthew Ball, Epic- Games CEO Tim Sweeney und Metaverse- Autor Neal Stephenson vom 16.07. diesen Jahres.
So sehr Gaming- Plattformen eine bedeutsame Reichweite erreicht können und so technisch gelungen sie sind –  sie bleiben subkulturelle Phänomene. Sie sind stark an spezifische Gaming-Communities gebunden, mit eigenen Codes, Ästhetiken und Kommunikationsformen, die sich auf die jeweiligen Plattformen konzentrieren.
Subkulturell bedeutet in diesem Kontext, dass es keine breitere gesellschaftliche Durchdringung gibt und kaum eine Überschneidung kultureller Grenzen. Eine universelle, offene soziale Sphäre oder immersive globale Öffentlichkeit – wie sie als collective virtual open space konzipiert wurde – ist derzeit nicht in Sicht.

Zum Hype geht Ball in Distanz. Ein immersives, räumliches Internet hält er aber für zwangsläufig: I’m certain that the future will be increasingly centered around real-time- renderes 3D virtual worlds and networks (379). ²
Die Schwankungen von Hypes, Flops, Investitionen und Rückzügen sind da nur Teilstücke langfristiger Entwicklungen.
Metaverse ist dabei als Begriff eher belastet: durch den Ursprung als Dystopie, spekulative Verwertungen im Blockchain- Umfeld, durch den shocking rise of usage und die Inanspruchnahme durch den Grosskonzern, den Ball weiterhin durchgehend Facebook nennt. Selber bevorzugt er 3D- Internet. Andere verwenden Spatial Computing (Apple) human co-experience (Roblox), hyper-digital reality (Tencent). Dennoch verwendet er Metaverse durchgehend –  immerhin ein Begriff, den er selber mitgeprägt hat.

Es gibt viel Technologiegeschichte im Buch: zur Idee des räumlichen Internet, zur Entwicklung des Personal Computers, des Internets, der Mobiltelefone, Netzwerke, Kabelinfrastruktur, von Streaming und Videospiele, zur Entwicklung von KI in den letzten Jahren – und vor allem zu den Zugängen in 3D- Welten.
Immaterielle Erfahrungen – experiences – brauchen physische  Zugangsgeräte. Der Erfolg eines Spatial Internet  hängt stark davon ab, wie weit es gelingt, kompakte, komfortable Geräte zu entwickeln, die länger und angenehmer genutzt werden können. Aktuell setzen die von Meta/ Facebook und Apple entwickelten Headsets den Standard. So leistungsstark und ergonomisch angepasst sie mittlerweile sind, bleibt ihr Einsatz auf spezifische Aufgaben beschränkt.

Smart Glasses bringen das Spatial Internet in den Alltag – können aber auch als übergriffig erlebt werden (Bild: Dall-e)

Smart Glasses sind dagegen alltagstauglich und eine Art Zugangsschneise in die allgemeine Lebenswelt. Bis jetzt eine Art SmartPhone als Facewear, haben sie noch viel Potential Funktionen des Spatial Internet mit dem Alltag zu verbinden. Problematisch ist zunächst die soziale Akzeptanz: Das Gefühl observiert zu werden, kann Unmut hervorrufen.

Spatial Computing 2024 sind vor allem die sich weiter verbreitenden Anwendungen der Virtual-/ Augmented-/ Mixed- Reality.  Zusammengefasst als XR- Reality, hat sich  XR- Technologie zu einer eigenständigen Branche mit sowohl wirtschaftlich als  technologisch wachsender Bedeutung etabliert. Entwickelt wird für jeweils spezifische Zwecke:  immersive Spiele, Bildungsplattformen, Simulationsanwendungen,   virtuelle Konferenzen, 3D-Modelle für Architektur und Bauprojekte – für das Entertainment oder auch im medizinischen Umfeld. Technisch werden die Anwendungen immer ausgereifter.
XR- Technologie ist dabei Innovationstreiber in verschiedenen Branchen. Produktentwicklung in virtuellen Räumen, Remote-Training für komplexe Maschinen, Design-Reviews in globalen Teams.
Weiterentwicklung findet eher im professionellen Bereich statt. Für Konsumenten attraktive Anwendungen werden zwar mehr – dagegen stehen hohe Kosten für die Hardware.  Ansätze zu einem Social- Metaverse sind wenig zu sehen.
Zeitnah sieht Ball ein Corporate Spatial Internet. Aufstieg und Verbreitung des (atuellen) Internet waren von einer nicht-kommerziellen Entwicklung bestimmt. Talente, Ressourcen und Ambitionen  sammelten sich zunächst im akademischen Umfeld und staatlich finanzierter Forschung. Heute ist die Online- Wirtschaft von BIgTech, Datensammlung, Werbung und der Vermarktung digitaler Produkte bestimmt.

Einige Parallelen  zur KI fallen auf: Bis KI vor zwei Jahren den Durchbruch erlebte, sprach man von KI- Wintern und KI- Frühlingen als Phasen nachlassenden und erneuten Interesses. Ähnlich wechselt das Interesse an einem Metaverse bzw. einem räumlich erlebten Internet, bis zurück zu den Zeiten von Second Life.
Künstlich geschaffene Intelligenz ebenso wie eine parallele Welt sind Themen, die menschliche Phantasie beschäftigen. Beide greifen zurück bis auf uralte Mythen und werden  immer wieder kulturell aufgegriffen.
KI ist zwar längst nicht vollendet, hat aber eine Stufe erreicht, auf der sie in der Breite der Gesellschaft als nützlich erlebt wird. Spatial Computing bietet zwar immer mehr attraktive Anwendungen – sie bleiben aber auch mittelfristig insulär.
Das Spatial Internet kann die digitale Gesellschaft zwar nach und nach durchdringen, stösst aber an Konfliktlagen und Grenzen, die Ball nicht ganz auslässt.
In einem tatsächlich global funktionierenden Metaverse – entsprechend der Definition als eines immersiven, persistenten und nahtlos verbundenen digitalen Raumes – würden sich zudem Strömungen und Konflikte der Weltgesellschaft in einem nicht vorhersehbaren Ausmass spiegeln,  mit kaum einschätzbaren Konflikten um Einflusszonen, wirtschaftliche und politische  Macht.
Interaktivität, Grafikqualität, die Aufrechterhaltung von Persistenz würden zudem exponentiell mehr Rechenleistung erfordern und Energie verbrauchen als das heutige Internet. Kann ein solches System nachhaltig und gesellschaftlich akzeptiert sein?

Matthew Ball: The Metaverse. Building the Spatial Internet  8/ 2024,  446 S.  Metaverse expert Matthew Ball still believes in the 3D internet – Interviewing Meta CTO Andrew Bosworth on the Metaverse, VR/AR, AI, Billion-Dollar Expenditures, and Investment Timelines .  On Spatial Computing, Metaverse, the Terms Left Behind and Ideas Renewed. ² – noch stärker: The very idea of a Metaverse means an ever-growing share of people’s lives, labor, leisure, time, wealth, happiness, and relationships wil be spent inside virtual worlds , rather than just extended or aided through digital devices and software. (379).
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Die Definition von Ball (2022): A massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds that can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments.” 
¹ 36 Mrd  wurden  in Berichten der US-Börsenaufsicht SEC genannt



Demokratie braucht Begegnung

Demokratie braucht Begegnung um zu funktionieren (19) – Begegnung, Öffentlichkeit und Demokratie sind untrennbar miteinander verbunden: Begegnungen ermöglichen Austausch, Öffentlichkeit bietet den Raum dafür, und Demokratie ist das politische System, das von diesem Austausch lebt.

Liberale Demokratie beruht auf zwei Prinzipien: das Volk ist der Souverän, der über sein eigenes Schicksal entscheidet. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit garantieren individuelle Freiheitsrechte und schränken so die Macht der Mehrheit ein. Demokratie erfordert die Aushandlung von Konflikten und Entscheidungen; Kompromisse sind die Regel. Sie lebt davon, dass ihre Mitglieder sich als legitime Andere anerkennen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht Vertrauen – gegenseitig und in demokratische Institutionen – über engere Zugehörigkeiten hinaus. Nur so sind tragfähige Kompromisse möglich. Dazu braucht es Orte bzw. Räume, in denen Vertrauen entstehen und sich entwickeln kann – Orte an denen nicht-medialisierte, direkte Erfahrungen gemacht werden können.

Demokratie fehlt Begegnung – hat Rainald Manthe, Soziologe aus Berlin,  sein Buch über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts genannt.  Im Titel steckt bereits die Feststellung eines Mangels, des Verschwindens, zumindest einer markanten Veränderung der Orte der Begegnung.
Begegnung ist synchron, besteht in der direkten, nicht- zeitversetzten Interaktion, bedeutet den Austausch in irgendeiner Form. Nonverbale Signale spielen eine grosse Rolle. Begegnungen können ebenso sehr Irritationen auslösen, lassen aber meist den Spielraum der Aushandlung bzw. Klärung.
Klassische Orte von Begegnung sind/ waren meist an lokale Gegebenheiten geknüpft. Exemplarisch nennt Manthe die Dorfkneipe – genauso können es alle anderen Orte sein, die von einer Vielzahl von Menschen aufgesucht oder genutzt werden, wie Märkte, Parks, Sportplätze, Bibliotheken, Theater oder eben auch öffentliche Verkehrsmittel.
Daneben gibt es  Begegnungsorte, die von vornherein als solche gedacht sind, von der einfachen Parkbank, dem Viertels- Treff mit Repair- Café  zu Projekten der politischen Bildung.
Die meisten solcher Orte verbinden Menschen mit gleichen bzw. sich ergänzenden Interessen, sie stabilisieren die Teilhabe an lokaler, an kultureller Öffentlichkeit.

Für eine Gesellschaft ist es aber ebenso bedeutsam, dass sich Menschen anderer Lebensrealitäten und anderer Lebensziele zur Kenntnis nehmen, begegnen und austauschen.
Gerade eher unspezifische Alltagsorte sind Schnittstellen zwischen oft sehr unterschiedlichen Milieus, ermöglichen zufällige Begegnungen, informellen Austausch, die Wahrnehmung anderer Lebensrealitäten. Sie können dazu beitragen, sich gegenseitig als “legitime andere” zu akzeptieren – die Interessen dieser Anderen zu erkennen und zu berücksichtigen, Kompromisse mitzutragen. Als Erfahrung
entscheidend ist die selbstverständliche Interaktion im öffentlichen Raum, die ohne Barrieren oder besondere Voraussetzungen stattfindet.

Autor Manthe sieht ein Schwinden vieler Begegnungsorte: Der Abbau öffentlicher Infrastrukturen trifft auf eine Gesellschaft, die immer individualistischer (9) wird. Die nachlassende Bindekraft der grossen Massenorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien – oft auch Träger von Vereinsleben – ist schon länger ein Thema. Posttraditionale Vergemeinschaftungen entwickeln zwar neue Begegnungsorte, die aber geographisch viel weiter gestreut sind.
Segregation verstärkt sich auch durch den angespannten Immobilienmarkt.  In Wohnorte wird man immer seltener hineingeboren – bzw. sozialisiert, man muss sie sich leisten können.
Clubs, Kneipen, Cafés stehen seit der Pandemie unter verstärktem wirtschaftlichen Druck. Das gilt noch mehr für ländliche und suburbane Räume. Das Wirtshaus im Dorf gibt es kaum mehr, nur dann, wenn ein besonderer Einsatz oder besondere Umstände dafür sorgen. Nicht- geförderte Begegnungsorte müssen Umsätze erzielen, um sich zu halten. 

Gesellschaftliche Polarisierung wird zwar oft beklagt – ist aber empirisch wenig bestätigt. Es gibt keine grossen Lager die einander ablehnen. Als Standard aktueller Gesellschaftsanalyse dazu scheint Triggerpunkte von Steffen Mau et al. (2023) akzeptiert zu sein.  Eine Micro- Quintessenz daraus: Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder ja.
Der Autor bestätigt in Verweisen auf andere Studien, dass der soziale Zusammenhalt erstaunlich gut (26) ist. Dass ein ausreichendes Vertrauen in das grosse Ganze und in unsere Mitmenschen vorhanden ist, ist wichtig für gesellschaftliche Handlungsfähigkeit (26). Allerdings nimmt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, genannt wird ein Drittel, kaum mehr an Diskussionen über die Ausgestaltung des Gemeinwesens teil. Bei den jüngeren (unter 29) liegt derAnteil  höher, bei 45 %.  Zugenommen hat eine Politik(er)ferne, man spricht von einem übergreifenden Repräsentationsdefizit (29) – es sind diese letzten beiden Erkenntnisse, die aufhorchen lassen.
Auffallend ist, dass die nähere Umgebung meist als besser empfunden wird, als die Gesamtgesellschaft eingeschätzt wird.

Ort von Begegnung: Forum Groningen (NL)

Wie lässt sich die Bedeutung  der Begegnungsorte  mit anderen  Konzepten verbinden?
Auf das Konzept des  Common Meeting Ground  war ich während der Corona- Lockdowns gestossen – in einer Zeit,  als die Frage auftrat, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn Öffentlichkeit – damit auch Begegnungen  –  fast ausschliesslich über Medien vermittelt wird.
Der Begriff geht auf den Schweizer Soziologen Kurt Imhof (✝2015) zurück: Jede Gesellschaft braucht einen Common Meeting Ground gemeinschaftlich als wichtig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, was in ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf (2008).

Common Meeting Ground lässt sich zum einen als eine Medienöffentlichkeit verstehen, die einen Informationsstand soweit synchronisiert, dass er einen konsensuellen Boden  öffentlicher politischer Kommunikation bietet.  Ein Boden – in diesem Falle abstrakt – auf den Themen, Lösungsansätze, Ansprüche in einen übergreifenden Diskurs gestellt werden können – zu denen Entscheidungen, also meist Kompromisse, ausgehandelt werden.
Ebenso lässt sich Common Meeting Ground als der lebensweltliche, physische Ort verstehen, an dem Gesellschaft erlebt und erfahren wird.  In dem als relevant empfundene Themen und akzeptables Verhalten verhandelt werden. Nicht in Form medialisierter Inhalte, sondern als selbst erlebte Eindrücke und der Resonanz darauf: Wahrnehmung, Reaktion und Interaktion.
Gesellschaft bedeutet nicht Gleichartigkeit, sondern zunächst miteinander auszukommen, dann Austausch, Begegnung . Es geht um die Erfahrung  gegenseitiger Bezogenheit, in der Folge um Prozesse der Aushandlung:  von Umgangsformen, von Akzeptanz, darüber, welche Sprache angemessen ist.  Und auch darüber, was schön ist – so entsteht etwa ein Streetstyle aus  Begegnungen im öffentlichen Raum.

In einer der trübsten Phasen des Lockdowns im Januar 2021 gab es den kurzen Hype der Plattform Clubhouse. Clubhouse kam gefühlt einer physischen Öffentlichkeit näher als andere Social-Media-Formate – die Kommunikation verlief nicht zeitversetzt, sondern sie erfüllte ein wesentliches Merkmal von Begegnung, Synchronität. Clubhouse wurde verglichen mit Barcamps,  mit Thementischen und Cafés, wo man sich an den Tisch dazu setzen kann, mit Late- Night Talks und Partygesprächen – kurzum Begegnungsorten der analogen Welt.
Der Hype versandete rasch – zeigte aber deutlich ein aufgestautes Verlangen nach Austausch und Begegnung.

Digitale Räume haben durchaus Potenzial, Orte von Begegnung zu sein,  Demokratie zu stärken. Ob sie das sind, hängt von ihrer jeweiligen Beschaffenheit ab.
Das von einem Pioniergeist geprägte frühe Social Web, Web 2.0, wurde damals als neuer Ort von Begegnung erlebt. Nutzer verstanden sich als Pioniere, die einen neuen Meeting Ground gestalteten. Vernetzung bedeutete die Summe von Begegnungen, , die nicht mehr so leicht verloren gingen.  Man verstand sich als Community/ Netzgemeinschaft. 
Die Welt der Social Media in den 20er Jahren stellt sich anders dar: Plattformen betreiben ihre Agenda, haben ihre Einflusszonen entlang sozialer Graphen eingenommen. Algorithmen regieren.
Es haben sich neue Formen einer Influencer & Creator Ökonomie entwickelt, die zwar einige Spielräume für Begegnungen lassen, v.a. aber den Gesetzmässigkeiten einer Aufmerksamkeitsökonomie nachkommen. Der Ton hat sich verändert – Pöbelei – aggressive Kommunikation ist keine Seltenheit mehr.
Das grösste Problem: Digitale Begegnungsorte sind im Besitz weniger Konzerne – BigTech. Für die Weiterentwicklung spielen demokratische Prozesse keine Rolle. Es zählen Unternehmensentscheidungen – ein Eigentümerwechsel, wie das Beispiel Twitter/ X zeigt, oder eine Änderung der Unternehmensziele, kann Plattformen rapide umkrempeln.

Begegnung steht an der Basis gesellschaftlicher Wirklichkeit – Menschen können sich überall wo sie sind, begegnen – und entscheiden, wie sie zueinander stehen und wie sie miteinander umgehen.

Ein weiteres soziologisches Konzept lässt sich anfügen: Das Begriffspaar  Community vs Consociality. Community wurde oft überstrapaziert, bedeutet bereits eine Zugehörigkeit über gemeinsame Identität, Interessen, Ziele. Der Begriff steht in einer Tradition des Konzepts Gemeinschaft bei Ferdinand Tönnies.
Bei Consociality geht es nicht um Gemeinschaft, sondern um Begegnungen in einem weiteren gesellschaftlichen Rahmen.

Rainald Manthe: Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte sozialen Zusammenhalts, 139 S. Transcript Verlag, 2024. auch: Alltägliche Begegnungsorte der Demokratie, 11.10.2024. 24 Vgl. auch : Christian Schwarzenegger: Medienöffentlichkeit als Raum der Begegnung, Heinrich Böll Stiftung, Juni 2019, 25 S – Sarah Wohlfeld, Laura-Kristine Krause: Begegnung und Zusammenhalt: Wo und wie Zivilgesellschaft wirken kann, 2021. 27 S. Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89) .- Zahlenangaben in Klammern nennen die Seitenzahl im Buch “Demokratie fehlt Begegnung”

 



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