Netnography Unlimited – Understanding Technoculture (Rez.)

Nach nur etwas mehr als einem Jahr ein weiteres Update zu Netnographie? Erst im Herbst 2019 war mit Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research die dritte aktualisierte Ausgabe zur Methodik von Netnographie erschienen.
Der jetzt vorliegende Band Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research ist das Materialien- zum Methodenbuch. So  geht es um Anwendungsbeispiele von Netnographie, ein Sammelband mit 19 Beiträgen von 34 Autoren. Nicht nur aus den angelsächsischen Ländern, u. a. auch aus Asien, Lateinamerika, Spanien und Schweden.  Im Untertitel taucht bereits ein neuer zentraler Begriff auf – Technoculture-, der das Forschungsfeld von Netnographie absteckt. Technocultural Studies (9 ff.) klingt an Cultural Studies an,  „the whole way of life of a group of people“.

Herausgeber Kozinets sieht Netnographie als den methodischen Arm für dieses Forschungsfeld, das auch mal als Social Media Studies projektiert wird.
Ein Forschungs- und Wissensfeld, das sich durch Kommunikations- und Medienwissenschaft,  Marketing- und Konsumforschung, Computerwissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie zieht.  Das sich zudem oft durch rapide Wechsel und abrupte Brüche der Umgebungen auszeichnet.
Das Buch  ist nach fünf Anwendungsbereichen gegliedert, übertitelt jeweils mit Netnographymobilized/ territorialized/ industrialized/ humanized und /theorized.
Thematisch am weitesten gestreut sind die Beiträge unter Netnography territorialized: PR, Healthcare und Pflegebranche, Tourismus, politischer und sogar ein militärischer Kontext (zur Beruhigung: es geht nicht um militärischen Einsatz, sondern um Bedürfnisse von Militärangehörigen). Sie zeigen Möglichkeiten von Netnographie in ganz unterschiedlichen Kontexten auf. Healthcare und Pflegewesen, hier in einer Studie aus Schweden, sind ebenso von den Möglichkeiten von Information und Zusammenarbeit erfasst.
Tourismus zählt zu den Branchen, die über Jahre hinweg besonders von der Entwicklung des Web beeinflusst wurden. Reisen und das Erzählen davon haben von Beginn an das Social Web begleitet. Dazu die einfache Planbarkeit über unkomplizierte Buchungssysteme bis in weit entfernte Destinationen und einer Fülle von Tourismus- relevanten Apps und Websites.
Netnography in Tourism Beyond Web 2.0 handelt von der Evolution des Web vom statischen Web 1.0, über das social (2.0), mobile und semantic web (3.0) und weitere Zwischenstufen bis zu einem Web 5.0 – Web of Thought – und der parallelen Entwicklung der Interaktion im Tourismus.  Beachtenswert  ist die zweiseitige Übersicht (143/144) dazu, in der Möglichkeiten von Netnographie mit den Entwicklungsstufen des Web abgeglichen werden. Jede höhere Versionsnummer bedeutet mehr an Interaktionsmöglichkeiten. Ein Modell, das in Grundzügen ebenso für andere Felder gelten kann.  Die eher zukünftigen Projektionen wie ein Emotions- sensitives Web 5.0, das auf Gesichtsausdrücke reagiert, kann man skeptisch sehen. Ist ein Eintauchen in virtuelle Welten mehr als ein Gimmick?

Netnography Industrialized umfasst den Einsatz im kommerziellen Umfeld. Darunter fällt der einzige Beitrag aus dem deutschsprachigen Raum: Die Münchner Firma Hyve arbeitet seit 16 Jahren mit Netnography (immer in der engl. Schreibweise). Geschäftsfeld ist Produktentwicklung, Netnography wird dabei von einer möglichst frühen Stufe an  zur  Ableitung unverfälschter Consumer Insights  eingesetzt. Quellen waren und sind oft Bewertungsportale und thread- basierte Foren, wie sie seit dem frühen Internet bestehen. Basketballschuhe, der Thermomix, Pasta- Packungen, Produkte mit Zitrus- Aromen und Kreditkartennutzung – all das gehört zum Portfolio. Die Vorgehensweise ist über die Jahre in etwa gleich geblieben und ist in einem Sechs- Schritte Schema (154) übersichtlich dargestellt.

Der letzte Beitrag im Buch weckt mein besonderes Interesse: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital (Rossella Gambetti, Mailand) bringt Stränge zusammen, die mich seit langem interessieren: vernetzte Sozialität,  die Entwicklung eines Habitus nach Bourdieu und Elias und Netnographie als methodisches Werkzeug. Technokulturelles Kapital erweitert den Kapitalbegriff Bourdieus (kulturelles/soziales/symbolisches/ökonomisches Kapital) um eine neue Dimension. Kulturelles Kapital beruht nach Bourdieu v.a. auf Bildung + dem inkorporierten Wissen um ein soziales Beziehungsgeflecht. Technokulturelles Kapital meint einen “Set of embodied knowledges, skills competencies and dispositions”(295). Spontan fällt mir auch eine Art Netwise ein, parallel zum Begriff Streetwise, Wesentlich ist ein inkorporiertes Wissen um Wirkungsweisen in einem technologisch vermittelten sozialen Raum.
Digitaler Habitus zeigt sich in der Selbstdarstellung als Akt reflexiver Konstruktion eines vernetzten Selbst (von S. 295 übersetzt) in Verhalten, und Geschmack;  Bezugsrahmen ist eine zeitgenössische soziale Welt.
Mit der Verbreitung von Formaten wie Live- Streaming und Social Audio, in denen die Teilnehmer mit Gesicht und/bzw. Stimme vor Publikum auftreten, unterscheidet sich ein Digitaler Habitus allerdings immer weniger von anderen Auftritten in Öffentlichkeiten – entscheidend ist das Wissen um Wirkung bzw. Resonanz.

Netnography Unlimited – zurecht trägt das Buch diesen Titel. Die Beiträge decken methodisch und thematisch eine kaum eingeschränkte Bandbreite ab. Ein sehr materialreiches Buch, dass die vielfältigen Möglichkeiten von Netnographie aufzeigt – als eine Art qualitatives Gegenstück zu quantitativen BigData Analysen.
Das Netz wurde mittlerweile zu einem technokulturellen Ecosystem: global, gewichtig, dauerhaft zugänglich. Es schafft technisch vermittelte soziale Räume, deren Bedeutung als Öffentlichkeit spätestens mit der Corona- Krise unübersehbar ist.  Nutzer orientieren ihr Verhalten und ihre Kommunikation daran. Wie auch anders? Das Netz ist Vermittler und Schauplatz von Popularkulturen wie von Geschäftsleben und Marketingaktivitäten, Teil der Lebenswelt. Das rückt Netnographie in die Perspektive von Ansätzen, wie sie bereits länger bestehen: Consumer Culture, Cultural Studies, eine Soziologie der Öffentlichkeit, die Entwicklung des Habitus, die langfristige Entwicklung von Haltungen und Mentalitäten. Sicherlich kommt produktspezifische Kommunikation, wie sie Marktforscher suchen, oft genug vor – sie bleibt aber eine Nebenerscheinung.

 

Kozinets, Robert V. & Gambetti, Rossella: Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York   ISBN: 978-0-367-42565-4, 325 S., £ 42,99

vgl.: Netnography 3.Ed. (Rezension)
Netnographie 2015 – Rezension zu Netnography: Redifined
Netnography. Doing Ethnographic Research Online Standards zur Online- Feldforschung (Rezension)



Neue Medienöffentlichkeiten?

Öffentliche Orte der Begegnung

Was bleibt von Öffentlichkeit in einer Zeit, in der der öffentliche Raum zeitweise stillgelegt ist? Gibt es ein Exil im Netz bzw. einen Schub in der Entwicklung von Formaten? Welche  Impulse gehen davon aus? Öffentlichkeit soll als der Ort verstanden werden, an dem gesellschaftlicher Austausch, Konsens, eine öffentliche Meinung heranwächst bzw. ausgehandelt wird. Medien- öffentlichkeit kann ein Raum der Begegnung sein, der zwischen Lebenswelten und Erfahrungszusammenhängen synchronisiert*. Einige Überlegungen und Beobachtungen  zusammengetragen ….

Öffentliche Orte halten  Gesellschaften  zusammen. Zunächst die physischen Orte der Öffentlichkeit: Plätze, Märkte, Boulevards, Messen, Bibliotheken, Theater und andere Spielstätten, Clubs, Bars, Cafés u.s.f.  Es sind Orte der Begegnung und der Vermischung. Auf Märkten und Messen werden Waren und Geschäfte ausgehandelt; auch dort, wo nicht gehandelt wird, wird ausgehandelt – zwar nicht materiell, aber das, was sagbar, vertretbar und vorzeigbar ist, Ansichten und Haltungen, Stil und Geschmack.
Medien erweitern Öffentlichkeit über das physisch erreichbare hinaus. Spätestens mit den Zeitschriften der Aufklärung im 18. Jh. konstituierte sich eine nicht ortsgebundene Öffentlichkeit und es begann sich eine öffentliche Meinung herauszubilden.

Massenmedien sichern eine synchronisierte Vorstellung der Realität. Bild: Mike Philippe. unsplash.com

Medienöffentlichkeit bedeutete lange Zeit die Öffentlichkeit der Massenmedien: Presse, TV, Radio; Online- Medien werden nur bedingt dazugezählt. Hervorzuheben ist die Zentralität von Massenmedien, professionalisierte Macher von Medien (Sender) stehen einem medienkonsumierenden Publikum (Empfänger) gegenüber. Das Berufsbild des Journalismus hat sich daran herausgebildet. Wesentlicher Effekt ist eine synchronisierte  Realitätsannahme – Massenmedien sorgen dafür, dass die Vorstellungen von der Realität nicht allzu stark voneinander abweichen, ein grundsätzliches Vertrauen in sie vorausgesetzt. Es sind die Quellen, die herangezogen werden, um eine unsichere Nachricht zu prüfen. Was in den Medien gemeldet wurde, entsprach auch weitgehend der öffentlichen Meinung.
Zugang und mehr noch Kontrolle der Sender wurde zu einer zentralen Machtbasis. In demokratisch kontrollierten Gesellschaften nannten sich Massenmedien gern die Vierte Gewalt, auch wenn sie oft primär wirtschaftlichen Interessen folgten.
Digitale Medienöffentlichkeiten haben das System Massenmedien aufgebrochen. Zwar hat es immer alternative Medienöffentlichkeiten (der Begriff wurde erst in den letzten Jahren einschlägig gekapert und umgedeutet) gegeben, sie verstanden sich meist sub- bzw. gegenkulturell – Einfluss auf die Gesamtgesellschaft nahmen sie erst in einem langfristigen Wandel.

Die frühe Netzöffentlichkeit  der Jahrtausendwende und einiger Jahre danach, später Web 2.0 genannt, verstand sich oft als Bewegung, als eine Netzkultur.  Noch Mitte der 10er Jahre sprach man von einer Netzgemeinschaft (s. New Media Culture, 2015). Damit verbunden waren Erwartungen einer partizipatorischen Kultur und ein gewisses Mass an gesellschaftlicher Utopie, das Energien freisetzt. Heute kann man kaum mehr von einer speziellen Netzkultur bzw. -öffentlichkeit sprechen, höchstens von einer Szene neben anderen.
Seit Jahren wird das Netz von Informationsintermediären dominiert, v.a. den GAFAM**-Konzernen, Zuträgern personalisierter  Informationen und Meinungen, Inhalte und Angebote. Eine Entwicklung, die schon genauso lange kritisiert wird, bis hin zum Überwachungskapitalismus. In diesen algorithmisch figurierten, personalisierten Medienöffentlichkeiten konkurrieren private Kommunikation, redaktionelle Medien, Angebote der Unterhaltungswirtschaft und Werbung um Aufmerksamkeit.

Zoom: Grundversorgung im Lockdown; Bild: Chris Montgomery, unsplash.com

Kann man die Corona- Krise, zumal in der nun länger dauernden Phase, als ein grosses Experiment verstehen, in dem Öffentlichkeit neu erlebt wird? Ohne die Substitution von Funktionen wäre ein Lockdown, der die weitgehende Schliessung der physischen Öffentlichkeit bedeutet, gar nicht möglich gewesen, geschweige denn zu ertragen.
Wo gelingt die Substitution physischer Öffentlichkeit – und wo fühlt sie sich an als Ersatz? Was bleibt davon?  Zwar gibt es manchmal Überdruss (Zoom fatigue),  doch sind Videocall, Online-Konferenzen und -Diskussionen Neues Normal. Tatsächlich erreichen viele Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mehr Publikum als offline. Die Formate werden bleiben, die letztlich weniger  Aufwand benötigen, als im substituierten Original für Mehrnutzen eingesetzt werden muss. Meist ist es der Wegeaufwand, der eingespart werden kann. Mit vielen Formaten wird experimentiert, die Umsetzungen reichen von sinnvoller Ergänzung zu Notlösung. Messen z.B. scheinen kaum sinnvoll ersetzt werden zu können.
Home Office klingt immer noch nach Notlösung, dabei ermöglicht bereits die gängige technische Ausstattung in vieler Hinsicht ortsunabhängige Arbeit – remote work mit all  seinen  Möglichkeiten.

Einen Hype wie den Start von Clubhouse gab es im Social Web schon lange nicht mehr. Clubhouse kommt gefühlt einer physischen Öffentlichkeit näher als alle bisherigen Social Media Formate. Es wird verglichen mit Barcamps, der re:publica, mit Thementischen und Cafés, wo man sich an den Tisch dazu setzen kann, mit Late- Night Talks und Partygesprächen. Gesprochene Sprache ist die selbstverständlichste Form menschlicher Kommunikation, sie ist definitiv O-Ton und verbürgt Authentizität. Nichts weiter lenkt davon ab, dazu Klarnamen und ein minimalistisches Interface. Themen/Sessions in den Rooms werden angekündigt und nach linearem Programmschema meist zu voller Stunde belegt. Gelegentlich wird aufgezeichnet (etwa für einen Podcast), ansonsten Netzkommunikation ohne Konservierungsmittel.
Der Zeitpunkt hätte nicht passender sein können:  Mitten im Lockdown, im grauesten Januar ohne abendliche Ablenkungen, öffnet sich direkt aus dem Wohnzimmer ein Fenster in eine Öffentlichkeit, die vermisst wird. Mit der Corona- Krise und v.a. ihrer persönlichen Bewältigung gibt es ein übergreifendes Thema, das jeden trifft. Potentiell und oft auch tatsächlich ein Ort des Austauschs und der Meinungsfindung.
Sicher sind im Clubhouse verstärkt diejenigen vertreten, die sowieso “was mit Medien” machen bzw. in öffentlicher Kommunikation aktiv sind: Journalisten, Politiker, Comedians, Social Media Aktivisten und all jene, die mit Unternehmenskommunikation ihr Geld verdienen. Ganz sicher verfolgen etliche Teilnehmer eine Agenda, jede Plattform wird auf ihre Potentiale für Marketing und Unternehmenskommunikation abgeklopft. Die längerfristige Entwicklung hängt wohl von Monetarisierungsmodellen ab.

Wenn es um die Frage gesellschaftlichen Zusammenhalts geht, wird häufig die Fragmentierungsthese herangezogen. Kurz zusammengefasst besagt sie, dass mit der zunehmenden Zersplitterung der Medienangebote und des Nutzerverhaltens  Synchronisierung von Information und einer öffentlichen Meinung verloren geht. Schlimmstenfalls existieren kaum verbundene Medienöffentlichkeiten nebeneinander her. Politische Lager bzw. kulturelle Milieus, “Parallelgesellschaften”  können sich dadurch entfremden.
Common Meeting Ground“ meint den Raum, den ein (demokratisch funktionierendes) Gemeinwesen braucht, um zu erkennen, welche Themen, welche Lösungsansätze, welche Ansprüche etc. wichtig sind, in einen übergreifenden Diskurs gehören und verhandelt werden müssen.  Bleibt man beim Begriff der Synchronisation verschiebt sich deren Ort von einer zentralen Instanz, wie den institutionalisierten Massenmedien in den noch näher zu definierenden Meeting Ground.
Verwendet man den Begriff der Öffentlichen Meinung mit seiner langen Geschichte, gab es immer wieder Medienöffentlichkeiten, in denen sich eine solche herausbildete – begonnen mit dem Beispiel des gebildeten Bürgertums der Aufklärung, das eine Öffentliche Meinung gegenüber einem monarchischen Staat und v.a. einer übermächtigen Religion ins Spiel brachte. Auch später, bis hin zu Gremien wie Ethikräten etc. war es immer wieder eine Bildungselite, die eine Öffentliche Meinung definierte.

Derzeit – mit den Erfahrungen von Lockdown, Corona- Krise und deren sehr unterschiedlich zu tragenden Auswirkungen – gibt es einen kaum zu unterschätzenden Bedarf an Common Meeting Ground, an gesellschaftlicher Abstimmung über das, was als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf (Imhof, 2008), verbunden mit weiteren Debatten zur Zukunftsgestaltung: “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”. Und: “Der größte integrative Faktor einer Demokratie ist eine gemeinsame Zukunftsvorstellung.”  (Harald Welzer, s.u.)

Ganz nebenher fällt auf, dass die plurizentrische Öffentlichkeit besser mit dem Modell der Figurationen  zu verstehen ist – die Öffentlichkeit der zentrierten Massenmedien besser mit den Begriffen der Systemtheorie.

 

* vgl.: Christian Schwarzenegger: Medienöffentlichkeit als Raum der Begegnung, Heinrich Böll Stiftung, Juni 2019, 25 S.;   Felix Stalder Kultur der Digitalität. 2016 ,  Stefan Geiß / Melanie Magin / Birgit Stark / Pascal Jürgens:Common Meeting Ground” in Gefahr? Selektionslogiken politischer Informationsquellen und ihr Einfluss auf die Fragmentierung individueller Themenhorizonte (2018); Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89).: Videocalls mit Gunnar Sohn (ichsagmal.com),  Thomas Riedel (Future Future ) und Johannes Meier (journalistic pioneers); Harald Welzer: “Wie sieht eine nachhaltige, moderne Gesellschaft aus?” (ab 27. Min.) ZUKUNFTSFRAGEN – Konferenz zur Nachhaltigkeit| 24.11.2020.**GAFAM= Google-Apple-Facebook-Amazon-Microsoft



Künstliche Intelligenz – einfach erklärt für alle (Rez.)

Künstliche Intelligenz ist nicht lediglich die nächste Generation von Computern und Software – sie ist ein Quantensprung in der Informationsverarbeitung (57).  Und sie führt zu Umwälzungen in vielen Einsatzkontexten. KI ist eine Querschnittstechnologie, deren Anwendung sich nicht auf einzelne Branchen beschränkt.
Stefan Holtel hat eine Einführung mit dem Titel KI-volution – Künstliche Intelligenz einfach erklärt für alle –  vorgelegt. Er ist nicht nur Informatiker, auch Wissensmanager und  Theaterpädagoge, Yogalehrer, Vater und Trainer für Lego Serious Play –  so steht es in Über den Autor.  Es sind diese  Blickwinkel über den Code hinaus  die das Buch bestimmen – erklärte Absicht ist es KI ohne Expertensprache verständlich zu machen, für alle die Folgen bzw. Konsequenzen zu tragen haben bzw. geniessen können. Wichtig ist, zu verstehen, was uns generell erwartet.
Automation des Entscheidens ist die zentrale Metapher, die KI bildlich verständlich machen soll. Die Formulierung ist nicht neu und wird seit einigen Jahren öfters verwendet – anderswo (Postdigital – wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen, Ramge, 2020) ergänzt mit aus Daten lernenden Systemen –  was zusammen eine grundlegende Vorstellung mit sich bringt.
Holtel nutzt Bilder, Sprachbilder und andere, gut gewählte Metaphern sollen zentrale Wirkmechanismen hervorheben. Einstieg ist ein Bild aus der Musik,  hier eine Spieltechnik des Jazzgitarristen Pat Metheny, der zu automatisierten  Musikmaschinen improvisiert (Orchestrionics). So lotet er mit neuartigen Werkzeugen neue Ausdrucksmöglichkeiten aus.
Ein Sprachbild macht seit einigen Jahren die Runde: Daten sind das neue Öl.  Daten sind ganz sicher keine materielle Ressource, die Parallele findet sich in der zentralen Stellung: Ohne Öl (bzw. zuerst Kohle) hätte es keine industrielle Revolution gegeben – ohne digitale Datenströme wäre KI eine verwaiste Technologie. Wertschöpfung erfolgt beide male in der Verarbeitung bzw. Raffinade – mit Hilfe von KI werden aus Daten Steuerungssysteme generiert, die Produktivitätssprünge ermöglichen.

KI ist schon länger Thema – Kurzweil 1990 (dt. 1993)

Der Begriff artificial intelligence/künstliche Intelligenz, kurz KI, ist seit 1955 in Umlauf und löst(e) immer wieder ganz unterschiedliche Vorstellungen, Verheissungen,  manchmal Bilder von Dystopien aus. Oft hat KI mit Vorstellungen aus Science Fiction die Phantasien angeregt. Ray Kurzweil rief schon in den 90er Jahren das Zeitalter der künstlichen Intelligenz aus, bereits damals wurde das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit gepusht.
Die herausstechenden Möglichkeiten von KI entstehen erst mit den digitalen Datenströmen wie sie im Internet, oder mit der Verbreitung autonomen Fahrens entstehen. Beispielhaft ist etwa der Aufstieg von Amazon zum weltweit führenden Handelsunternehmen: mit jedem Einkauf, jedem Suchvorgang sammelt das Unternehmen die Daten seiner Kunden. Dasselbe gilt für alle in Social Media gewonnenen Verhaltensdaten und ihre Übersetzung in personalisierte Werbung. Bedeutsames Feld ist ausserdem die medizinische Forschung, speziell Onkologie, überall dort, wo das Erkennen von Mustern gefragt ist.

Stufen der Automation des Fahrens 2014 (140) Stufen der Automation des Entscheidens am Beispiel des Fahrens,(140) – erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Fallen beim ersten Durchblättern die vielen Boxen, Listen, Tabellen,Hervorhebungen ins Auge, sind die Texte auch linear gut lesbar und bewusst verständlich und bilderreich geschrieben. Nach und nach geht es durch die wesentlichen Punkte zum Thema: Zu den Entscheidungen, die der Automatisierung von Entscheidungen zu Grunde liegen (128 ff), der Staffelung von Automationen (re. die Übersicht am Beispiel des Fahrens),  auf der Nutzen von Scenario- Technik wird verwiesen, eingebundene/augmentierte KI wird vorgestellt etc.
Zu KI sind ín den letzten Jahren viele Bücher erschienen und es kommen laufend neue hinzu. Dies hier ist ein praktisches Buch: die wesentlichen Grundlagen verständlich zusammengestellt.   KI ist eines der zentralen Themen in den Zukunfts- Diskussionen zur Post-Corona- Zeit.

KI ist eine Summe von Technologien, die in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und zu ganz unterschiedlichen Zwecken genutzt werden kann. Was spricht dagegen, wenn Maschinen Menschen Arbeit abnehmen? Warum ist es ein Problem – Arbeitsplatzvernichtung – wenn KI von Arbeit befreit, gleichzeitig Wert schöpft? Ist es nicht ein Problem von Verteilung? Warum soll die Anwendung von KI bei der Mobilität beim autonomen Fahren enden, von PKWs die genauso aussehen wie herkömmliche, mit demselben Bedarf an Strassen- und Parkraum? 

Ray Kurzweil spricht von Technik als Teil der menschlichen Evolution:  Biology and technology will begin to merge in order to create higher forms of life and intelligence*. Sicher ein eigenes Thema, und doch wieder Science Fiction. Technologie und ihre Nutzung sind aber Teil von gesellschaftlicher Evolution, von Evolution der Zivilisation – Technogenese. Dazu in Kürze mehr. 

Dazu auch ein Videointerview mit dem Autor im Live- Streaming Blog von Gunnar Sohn.

Stefan Holtel: Ki- volution – Künstliche Intelligenz einfach erklärt für alle  2020, 254 S., 20 ,- € ; * nach: Ray Kurzweil: The Six Epochs of Technology Evolution   



Buzzword Zukunft?

Verkörpern diese Sneakers die Zukunft? Jedenfalls spricht man überall davon – Bild: @marcosrivas/ unsplash.com

Soviel wie gerade jetzt wurde selten von der Zukunft gesprochen – die Corona- Krise hat das Thema nach oben gedrückt. Es ist weniger eine Debatte, in der Standpunkte gegenüberstehen, als eine Vielzahl von Bestandsaufnahmen, die Unsicherheit von Einschätzungen, die Suche nach einer Haltung –  und steht ein Begriff erst einmal im Mittelpunkt, dann kommt auch kaum ein PR- geleiteter Text mehr ohne ihn aus.
Je länger und ernsthafter die Corona- Pandemie währt, desto mehr dringt ein Gefühl der Verwundbarkeit unserer Zivilisation ins Bewusstsein. Ihre Weiterentwicklung ist abhängig von unserem Handeln. Geht es bei einem Neuen Normal um Krisenmanagement als vorläufigem Ziel, geht das, was unter Zukunftsfragen etc. diskutiert wird, darüber hinaus. Darunter bündeln sich Transformationsdiskurse zu Digitalisierung und  zu Nachhaltigkeit und zu disruptiven Innovationen; die rhetorische Frage “Wie wollen wir leben” taucht immer wieder als Motto auf (so als Themenwoche der ARD, Titel der brandeins, Einleitung zum Kongress “Zukunft für alle”). Es gibt dystopische Ausblicke auf Folgen des Klimawandels und viel ernsthaftere Pandemien (vgl. Interview Mike Davis), es gibt Ermutigungen zu einem Neuen Wirtschaftswunder, Appelle an Gemeinsinn. Und ganz sicher gibt es Consultingangebote.

Die Vorstellung von Zukunft ist oft mit einer Fortschrittserzählung verbunden – des technischen und des gesellschaftlichen und deren wirtschaftlicher Umsetzung. Innovation ist in dieser Erzählung ein Wert an sich.
Betrachtet man das Heute als die Zukunft von gestern, etwa aus der Perspektive der Jahrtausendwende, dann ist die Corona- Krise – zumindest hierzulande – die erste umfassende Unterbrechung dieser lange Zeit – trotz aller Disruptionen – kontinuierlichen Erzählung. Die beiden Dekaden waren geprägt von einem technischen Wandel, der Verbreitung digitaler Techniken, deren kultureller Umsetzung und wirtschaftlicher Nutzung bzw. Ausbeutung (je nach Sichtweise) – Digitaler Transformation. Bis jetzt trifft wahrscheinlich die Bezeichnung Spurtreue Beschleunigung (vgl. D2030) am besten zu.
Gibt dabei Technik oder Gesellschaft den Takt an? Der technische Wandel war schnell und wurde v.a. im Wandel der Medien, in der Folge der Konstruktion neuer Öffentlichkeiten markant erlebt. Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft, analog den Begriffen Psycho- und Soziogenese. Unsere Zivilisation entwickelt sich mit der Technik und ihrer gesellschaftlichen Einbindung.

Zukunft hat eine lange Geschichte (dank an Thomas Riedel für den Hinweis)

Vorstellungen und Voraussagen von Zukunft unterliegen genauso gesellschaftlichen Wandlungsprozessen (bzw. Transformationen) wie andere kulturelle  Merkmale. Die sehr materialreiche Geschichte der Zukunft von Georges Minois, französischer Historiker, mit Schwerpunkt Mentalitätsgeschichte, (1996, dt. 1998, mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlich; 830 S.) handelt vom langfristigen Wandel der kulturellen Muster, Einstellungen, den Methoden zur Voraussicht auf Zukunft, ihrer Soziogenese.
Oft war die Geschichte der Voraussagen eine Geschichte der Irrtümer und Enttäuschungen. Einige grundsätzliche Aussagen (19), die für heute wie für längst vergangene Zeiten gelten, lassen sich hervorheben: Voraussagen heisst auch versuchen, die Zukunft zu beherrschen, die Ereignisse festzulegen, bevor sie eintreten, ebenso Die beste Voraussage ist oft die, die es erlaubt, Massnahmen zu ergreifen, um die vorhergesehene Katastrophe zu verhindern  – was dem in der Corona- Krise oft zitierten Präventionsparadox entspricht. Weiter: Was zählt ist nicht, dass das Vorhergesehene eintritt, sondern dass diese Vorhersage hilft, erleichtert, beruhigt und zum Handeln anregt.
Minois unterscheidet fünf historische Epochen:  Das Zeitalter der Orakel, das der Prophezeiungen, das der Astrologie, das der Utopien und schliesslich der wissenschaftlichen Vorhersagen. Orakel, Prophezeiungen und Astrologie haben heute höchstens metaphorischen und unterhaltenden Wert. Zeitlich endet das Buch bei der (in den 90er Jahren populären) These von Francis Fukuyama zum Ende der Geschichte.  Minois schliesst mit der Feststellung  Das Neue besteht darin,  dass man an die globalen und langfristigen Vorhersagen nicht mehr glaubt ab. Kurzfristig sind hingegen Voraussagen in datenbasierten Wissenschaften wie der Meteorologie, Ökonomie und anderen  sehr effizient geworden.
Die klassischen Utopien gelten als längst entzaubert. Man sollte aber unterscheiden zwischen den grossen, literarischen und ideologischen Entwürfen (in sich geschlossene Systeme) und einem utopischen Denken, ohne das kein Aufbruch denkbar ist: Ohne die Fantasie und die Energie, die utopisches Denken freisetzt, hätte das Netz wie wir es kennen, sich wahrscheinlich nie entwickelt (vgl. T. Thiel, 2014). Und diese  Perspektive gilt auch für die weitere Entwicklung.

Bereits vor Corona war die Fortschrittserzählung des wirtschaftlichen Liberalismus und seine Problemlösungsfähigkeit ermüdet – vgl. dazu A. Reckwitz – Das Ende der Illusionen.
Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Grundsätzliches Dilemma ist, dass die Gesellschaften, die ihren Mitgliedern die grösste Lebenssicherheit, Freiheitsrechte und Wohlstand – ein gutes Leben – ermöglichen,  eine negative ökologische Bilanz haben. Failed States, die ärmsten Länder der Welt, belasten die Umwelt weniger. Der begrenzte Lebensraum Erde ist bis in die letzten Winkel durch menschliche Bewirtschaftung und ihre Folgen geprägt.

Was kann an die Stelle der vergangenen Fortschrittserzählung, die sich am messbaren Wachstum misst treten? Auf den Punkt bringt es Harald Welzer*in einem Beitrag der (Webvideo-) Konferenz Zukunftsfragen (24.11.): “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”. Und: “Der größte integrative Faktor einer Demokratie ist eine gemeinsame Zukunftsvorstellung.” Die übergreifende Vorstellung von Zukunft als gesellschaftliches Band.
Direkt an die aktuellen Zukunftsfragen schliessen die Diskussionen zur  KI, der maschinellen Ausführung automatisierter Entscheidungen an – eine der ganz grossen Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft an.

Und in Zukunft: Der Podcast von Thomas Riedel. www.futurefuture.de

Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen. Utopien. Prognosen,  Orig. 1996; dt. 1998, 830 S. ; *Harald Welzer: “Wie sieht eine nachhaltige, moderne Gesellschaft aus?” (ab 27. Min.) ZUKUNFTSFRAGEN – Konferenz zur Nachhaltigkeit| 24.11.2020.  ScMI AG – Post-Corona-Szenarien: Gesellschaft , Wirtschaft und Politik nach der Corona-Krise Michael Schütz: Psychologische Zukunfts-Szenarien. 18. September 2020 / Innovation, Trendforschung. Thorsten Thiel: Die Schönheit der Chance: Utopien und das Internet. . In: Juridikum : Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft 15 (2014), 4, pp. 459-471.  Konzeptwerk Neue Ökonomie: Zukunft für alle. Eine Vision für 2048. Sept. 2020. «Covid-19 ist erst der Anfang» – Interview mit Mike Davis auf republik.ch 23.12.2020. 



Klaus Janowitz (klausmjan)

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