Demokratiedämmerung? – Der Winter der Oligarchen

Blickt man  auf das Jahr 2024 zurück, bleibt man an einem Datum hängen: dem 6. November – der Tag der zweiten Trumpwahl: Am Morgen wurde die Wahl bestätigt, am Abend flog die Ampel auseinander – zwei Einschnitte an einem Tag.
Die zweite Trumpwahl war kein Unfall mehr. Trump, der lächerliche Prahler, der short fingered vulgarian¹, der keine Vulgarität und keine absurde Anschuldigung auslässt, der als scheidender Präsident den Sturm auf das Capitol, das Monument der US- amerikan. Demokratie anfeuerte, wurde mit tatsächlicher Mehrheit zu ihrem obersten Repräsentanten gewählt.
Sein Wahlsieg verdankt sich u.a. dem Bündnis mit dem derzeit reichsten der BigTech Oligarchen, dem Hektomilliardär Elon Musk, größter Einzelspender und lautstärkster Befürworter von Trumps Wahlkampagne.  Belohnt  wurde Musk mit dem für ihn massgeschneiderten Department of Government Efficiency.
Neu dabei ist, dass ein Geschäftsmann an politischen Entscheidungen beteiligt ist, die sich auf ihn selber auswirken. Schon jetzt nahm er bereits eine parastaatliche Position ein, da sich seine zahlreichen Technologieunternehmen immer mehr in internationale Angelegenheiten einmischen (vgl. The New Yorker).

Die beiden Einschnitte rückten dann kurz vor Weihnachten in einen ganz direkten Zusammenhang. Musk mischte sich persönlich in den deutschen Wahlkampf auf Seiten der Rechtsaussen- AfD  ein. Deren Kandidatin fühlte sich geschmeichelt, was zu erwarten war.
Noch mehr überraschte der folgende Tweet: Christian Lindner, noch wenige Wochen zuvor Finanzminister und Dritter im Rang der Exekutive biederte sich als alternativer Ansprechpartner zur AfD an, und bat um ein Date …

Es folgte der in der Welt am Sonntag platzierte Wahlaufruf, nach aussen als Meinungsäusserung verbrämt. Seitdem Beschimpfungen und eine weitreichende Empörung – gut möglich, dass sich Musks Übergriffigkeit in ihrer Wirkung umdreht.
Lässt sich von einem Schulterschluss von Rechtspopulismus und BigTech, sprechen? Zumindest von dem einiger exponierter Vertreter. BigTech  Milliardäre haben soviel Macht angehäuft, dass sie sich als politische Akteure in der Grössenordnung von Staaten verhalten.
Grundsätzliches Problem ist, das sich wirtschaftliche, mediale und politische Macht, ohne öffentliche Kontrolle verbinden. Der US- amerikanische Präsident ist nicht mehr Führungsfigur der Freien Welt, sondern steht als Primus in einer Achse von Autokraten und Oligarchen. 

Kekius Maximus: Eine Inkarnation des Oligarchen -ein Mix aus Internet-Insiderhumor, Machtsymbolik,  bewusster – rechtsextremer – Provokation  + Verweis auf den  Namen eines Kryptocoin  (Quelle:X)

Schaut man auf drei der aktuell mächtigsten Männer der Welt –  Trump, Musk, Putin: ohne jeden Zweifel Machtmenschen, die sich für charismatisch und unersetzlich halten und denen wenig an konstitutioneller Verankerung liegt.

Flood the zone with shit² – meint den öffentlichen Diskurs so stark mit Desinformation – Bullshit – zu  überschwemmen, dass es nahezu unmöglich wird, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden. Es geht um den manipulativen Einsatz digitaler Medien. Eine  Strategie, die von Trump und Musk, aber auch von Putin genutzt wird. Medien und soziale Plattformen werden zur Disruption von Öffentlichkeiten und liberaler Demokratie eingesetzt.
Trump nutzt soziale Medien intensiv, oft mit beleidigenden und provokanten Inhalten. Musk kontrolliert seit 2022 das vormalige Twitter, als X immer noch eine der  bedeutendsten Plattformen digitaler Öffentlichkeit. Putin kontrolliert intern staatliche Medien, extern setzt er eine Armee von Trollen zur Destabilisierung demokratischer Gesellschaften ein.
FunFact: Putin hatte eine Obsession mit dem Buchstaben Z – der als Symbol seines Angriffskrieges gegen die Ukraine diente – Musk mit dem X, dass in seinen Unternehmungen immer wieder auftaucht, ebenso beim Namen seines Sohnes: X Æ A-12 .

Die Wiederherstellung nationaler Grösse ist eines der zentralen Themen  in populistischen Bewegungen, so auch das Motto Trumps MakeAmericaGreatAgain – entsprechende Parallelen gibt es in fast allen Ländern – mit den  jeweiligen nationalen Besonderheiten. Auch der besonders aggressive Anspruch auf Grossrussland zählt in diese Reihe. 
Was eint eine Achse von Populisten und Oligarchen? Es geht v.a. um das Ausspielen und Durchsetzen von Machtpositionen. Dennoch gibt e unterschiedliche ideologische Hintergründe – und darin liegen durchaus Konfliktpotentiale, etwa zwischen MAGA und den global ausgerichteten Interessen von BigTech.

Liberal und libertär entstammen derselben Wortwurzel, stehen aber für politisch konträre Positionen: Liberal ist ein zwar dehnbarer Begriff, aber mit dem Konzept der liberalen Demokratie verbunden: Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sichern individuelle Freiheitsrechte gegenüber Machtstärkeren.
Libertär lässt sich bis auf den Marquis de Sade zurückverfolgen, meinte einmal eine heroisch- anarchistische Pose, den radikalen Bruch mit Konventionen. Die heutige Vorstellung wurde mit der Autorin Ayn Rand im Silicon Valley populär. Für Libertäre stellt der Markt das Äquivalent zu Gesellschaft dar. Der Markt ist die Gesellschaft.
Einen Schritt weiter geht Anarcho- Kapitalismus. Mit dem klassischen Anarchismus hat er wenig gemein, ausser der Ablehnung des Staates und einer Rhetorik des Individualismus. Es geht um uneingeschränkte Privatwirtschaft und Eigentumsrechte, Ideal ist eine Privatrechtsgesellschaft. Hierarchische Strukturen, die aus kapitalistischer Marktordnung entstehen,  werden begrüsst.

Cyberlibertarismus war zunächst eine Art ideologischer Treiber der digitalen Revolution. Das Internet erschien als Electronic Frontier, als Raum unbegrenzter Möglichkeiten jenseits staatlicher Kontrolle. Damit verbunden waren eine Demokratisierung des Wissens, die Umgehung bestehender Hierarchien und die Entstehung neuer digitaler Gemeinschaften.

Ambivalenzen traten später hervor – als aus StartUps digitale Machtzentren herauswuchsen. Positionen, wie die Ablehnung staatlicher Regulierung, der absolute Glaube an Marktmechanismen, das Ideal des genialen Entrepreneurs wurden weiterhin vertreten. Der aus dem Cyberlibertarismus stammende Freiheitsbegriff verkam mehr und mehr zur  Legitimation ungehemmter Gewinnmaximierung der mittlerweile kapitalstärksten Unternehmen der Geschichte.  Their freedom doesn’t mean your freedom – heisst es in einem Video zu den im BigTech– Umfeld umlaufenden Ideologien.

Persönlich hat mich das Modell der Machtbalance und der Interdependenzen von Norbert Elias seit langem überzeugt: Macht ist erst durch das Mitdenken der Gegenkräfte jeder Macht verstehbar. Machtbalancen sind demnach überall dort vorhanden, wo eine funktionale Abhängigkeit  – Interdependenz –  zwischen Menschen besteht.  
Was balanciert die Macht von Oligarchen? Oligarchen zeichnet  ökonomische Macht durch Kontrolle wichtiger Wirtschaftszweige und
eine enge Verflechtung mit politischen Entscheidungsträgern aus –   als Krönung die Verfügung über Medien mit grosser Reichweite. Ihre Macht und ihr Einfluss reicht weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus. In funktionierenden Demokratien wird kumulierte Macht durch gesellschaftliche Kontrolle balanciert. Ansonsten entwickeln Oligarchen parastaatliche Strukturen.
Oligarchen steigen auf in Zeiten des Umbruchs – das traf auf das Ende der Sowjetunion zu, als die Macht vakant war.
Tech-Oligarchen stiegen auf, als sie in den neu entstehenden digitalen Infrastrukuren Quasi- Monopole aufbauten. Technische und regulatorische Lücken ermöglichten ein systematisches Abschöpfen von Nutzerdaten, darauf aufbauend wurden neue Märkte geschaffen und dominiert.
Tech-Oligarchen legitimieren ihren Einfluss mit Innovation und Disruption.  bauen aber gleichwohl auf kollektiver Leistung und staatlicher Förderung auf.

Elon Musk ist der reichste und lauteste, aber nicht der einzige Tech- Oligarch. Etwas diskreter agiert der deutschstämmige  Peter Thiel, der sein Vermögen mit Palantir, Facebook und Paypal gemacht hat und  offen anti-demokratische Positionen vertritt, bis hin zur  Abschaffung des Wahlrechts für Frauen.  Anders als nach der ersten Trumpwahl arrangieren sich andere Tech- Granden, wie Jeff Bezos von Amazon, Marc Zuckerberg von Meta/ Facebook, und Alphabet/ Google mit Trump. Auch ihr Auftreten, ihr Habitus nimmt mehr und mehr die Züge von Oligarchen an.

Nur wenige Tage, und das Jahr 2025 hat schon ein iconisches Bild: der brennende Tesla vor dem Trump- Hotel in Las Vegas – erinnert mich an David Lynch

Titel wie Demokratiedämmerung haben seit einigen Jahren Konjunktur. Ausgangspunkt ist  Twilight of Democracy: The Seductive Lure of Authoritarianism (dt.: Die Verlockung des Autoritären) von Anne Applebaum, 2020.
Solche Titel passen wohl zu einer Stimmung, sollten aber nicht bedeuten, dass es sich um eine zwangsläufige Entwicklung handelt. Der zeitweilige (?) Erfolg der internationalen populistischen Rechten kann mit einer ganzen Reihe von Modellen erklärt. Die Ausführung des Politikwissenschaftlers
Veith Selk (10/23) wurden relativ breit rezipiert.  Er setzt an der Progessions– These an, die liberale Demokratie sei durch eine progressive Entwicklungstendenz gekennzeichnet, die auf der Annahme der Kumulation von Fortschritten beruht. Ansätze, die eine nähere Betrachtung wert sind.
In der Folge interessiert mich selber die Bedeutung des Cyberlibertarismus. Dazu habe ich mir das Buch von David Golumbia Cyberlibertarianism: The Right-Wing Politics of Digital Technology 8/2024) vorgenommen.
Er argumentiert, dass der digitale Evangelismus zu einer weltweiten Verschiebung nach rechts geführt hat.  Golumbia stützt sich auf mehr als ein Jahrzehnt Forschung, um aufzuzeigen, wie cyberlibertäre Rhetorik und Strategien die Diskussionen über digitale Technologie, Regierung, Politik und soziale Themen prägen. Er hinterfragt die vorherrschende Ansicht, dass das Internet von Natur aus freiheitsfördernd und dezentralisierend sei.  Dazu in Kürze mehr. 

¹vgl. Sueddeutsche Zeitung 12.04.2017 Franz C. Mayer, LL.M. (Yale) Demo­k­ra­tie­däm­me­rung. Was folgt auf Trumps Wahlsieg  Ali BrelandElon Musk’s X Endgame: The world’s richest man has become a new kind of oligarch. The Atlantic 20.12.2024Kyle ChaykaHow Elon Musk Rebranded Trump. The New Yorker.  13.11.2024  YouTube, Google & Co: Die Elefanten, gegen die unsere Medien kaum eine Chance haben? Telepolis. 16.12.2024. Maura Reynolds: ‘Everything Is Subservient to the Big Guy’: Fiona Hill on Trump and America’s Emerging Oligarchy. Politico 28.10.2024 Martin AndréeElon Musk, WamS und rechte politische Bündnisse. (WDR- Audio) 30.12.2024. : Means TVWhy Is Elon Musk Like That? – Introduction to Cyberliberatarianism. ² Steve Bannon, zitiert nach Michael ZürnWie kann eine demokratische Gesellschaft ihre Vernunft ver­lieren? – FAZ 30.12.2024 – Niklas MaakDas Zeitalter des Elonismus ist angebrochen. FAZ. 5.01.2025 Anne Applebaum: Twilight of Democracy: The Seductive Lure of Authoritarianism. 07/2020 – deutsch:Die Verlockung des Autoritären: Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist . 2022  Veith Selk: Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie. 10/2023. Gerhard Oberlin: Demokratiedämmerung.Wie der Wohlstand die Demokratie gefährdet. 06/ 2023.

 



Bloggen im Netz der Plattformen

So stellt sich Chat GPT ein Bloggercamp vor

Kürzlich (29.11.) war ich bei der Bloggerkonferenz, einem Mini-Online-Barcamp, das dann  so mini gar nicht war:  >60 TeilnehmerInnen hatten sich eingeloggt – die meisten davon aktive Blogger, darunter eine ganze Reihe bekannter Gesichter. Trotz aller Wendungen eine markant resiliente Szene.

Im Netz der Plattformen bilden Blogs eine winzige Nische, die oft mit rückläufigen Besucherzahlen und oft schwieriger Sichtbarkeit in Suchergebnissen zu kämpfen hat.
Andererseits bedeuten sie die Unabhängigkeit, Themen frei zu setzen, eine Personenmarke aufzubauen.

Es gab eine Zeit, in der Blogs und ihre Betreiber auf breites gesellschaftliches Interesse stießen. Blogs waren eine der ersten Möglichkeiten für Einzelpersonen, ohne allzu großen technischen Aufwand Inhalte im Internet zu veröffentlichen und zu teilen, Publikation in Eigenregie – ohne Gatekeeper.
Blogger waren Pioniere einer neuen, digitalen  Öffentlichkeit. Netzgemeinschaft war die Selbstwahrnehmung, man verstand sich als Bewegung. Damit verbunden waren Vorstellungen einer partizipatorischen Kultur und eine Utopie der vernetzten Gesellschaft mit freiem Zugang zu Wissen für alle.
Der Begriff Blogosphäre klingt heute befremdlich  – zeitweise wurde der entstehende vernetzte Raum so genannt, bis sich der zugkräftige Begriff  Web 2.0 durchsetzte.

Inhaltlich waren die frühen Blogs oft unspezifisch, eine Mischung aus persönlichem Tagebuch und Experimentierfeld für digitale Kommunikation. Es ging um Sichtbarkeit, Vernetzung und das Verstehen von Mechanismen öffentlicher Präsenz im virtuellen Raum.
Blogger erwarben Vorsprungswissen: Sie lernten, wie Reichweiten erzielt werden, was es braucht Reputation aufzubauen, wie man digitale  Öffentlichkeiten aufrecht erhält. Kein Wunder, dass aus Blogs PR- und Online-Kommunikationsberatungen hervorgingen. Andere Themenfelder waren solche mit hohem Unterhaltungswert: Reisen, Essen & Trinken,  Mode, Sportarten.  Genau die Themen mit höchst individuellem Konsumverhalten.

Von einer Netzkultur sprach man noch ziemlich lange. Plattformen wurden zunächst als Erweiterungen von Reichweite und Vernetzungsmöglichkeiten begrüsst, ganz besonders wurde #Twitter als Turbo von Reichweiten und thematischer Bündelung erlebt. Irgendwann ging  diese Utopie verloren.

Was ist die Zukunft des Bloggens und hat Bloggen eine Zukunft? –  war das Motto des Vormittags – und soll sich darüber hinaus fortsetzen.
So mikroskopisch gering der Anteil von Blogs am gesamten Online- Traffic ist, so sehr verkörpern sie die Ideen, den Spirit des Social Web:  Vernetzung, Begegnung im digitalen Raum. Blogs sind das Autoren- Medium schlechthin. Sie bieten die Möglichkeit des Aufbaus einer Personenmarke – eine Monetarisierung des Engagements auf Umwegen.

Erfahrungen überschneiden sich oft: Vernetzung und Sichtbarkeit bleiben zentrale Anliegen – im Netz der Plattformen herrschen andere Bedingungen, als sie es einmal waren. Dennoch bleiben Möglichkeiten des Social Web bestehen, die sich nutzen lassen! Einfach mal Blogposts kommentieren, zitieren, Gedanken aufnehmen und weiter entwickeln!

Verteilung des Online- Traffic 2023 – Andrée S. 250

Vorab gab es Impulsbeiträge, zwei davon von Autoren aktuell diskutierter, sehr eindringlicher Bücher zum Thema:  Martin Andrées Big Tech muss weg ist mittlerweile Pflichtlektüre, wenn es um die Medienmacht von BigTech geht, auch in diesem Blog nachzulesen.
Die Graphik rechts zeigt etwas vereinfacht die Verteilung des Online- Traffic: Der allergrösste Teil  davon entfällt auf die wenigen dominierenden Plattformen.

Das Ende von Social Media wurde schon des öfteren proklamiert. So gibt es seit einiger Zeit die These des Auseinanderfallens in zwei verschiedene Funktionslogiken:  Soziale Interaktion, die zunehmend in geschlossenen digitalen Räumen stattfindet und massenmediale Kommunikation.  Letztere ist das Hauptgeschäft im Netz der Plattformen.

Vernetzte Öffentlichkeit – Graphik erstellt mit Touchgraph (2012)

Dominik Ruisinger ist Autor von Das Ende von Social Media – ein Buch, das  noch auf meiner Leseliste steht. Gemeint ist der Verlust der sozialen Ebene: Social meinte eine vernetzte Öffentlichkeit.  Social Media waren gedacht, Menschen an digitalen Orten zusammenzubringen. Die Idee des aktiven Austausches ist erodiert durch algorithmische Filter, durch KI-Content, durch passives Entertainment, durch polarisierende Inhalte (Ruisinger). Der InterestGraph hat den Social Graph abgelöst. Social Graph meint das Netzwerk von Beziehungen und Verbindungen zwischen Personen und Objekten innerhalb von sozialen Netzwerken

Social Media haben tatsächlich die Welt verändert. Die Geschichte des Internet und der digitalen Öffentlichkeit ist Kulturgeschichte des 21. Jahrhunderts. Blogs spielten dabei als ein Basismedium digitaler Öffentlichkeit eine Rolle- nicht als einzelne, sondern als Publikationsform in einem partizipatorischen Netz.
Die digitale Öffentlichkeit wuchs zu der für aktuelle Gesellschaften entscheidenden Öffentlichkeit heran. Die Hoheit über darüber ist ein wesentlicher Machtfaktor. Zunächst war sie als vernetzt, hierarchie- frei, divers gedacht. 
Heute ist das Netz der Plattformen die dominante Massenkultur des 21. Jahrhunderts, so wie es TV von den 60ern bis in die 90er Jahre war, das Radio in der Zeit davor. Eine Massenkultur mit ihren eigenen Möglichkeiten von Machtkonzentration und  Manipulationen. Machtkonzentration in der digitalen Öffentlichkeit wird  vielfach  als Gefahr für die Demokratie gesehen.
In dem – etwas wenig beachteten –  Buch Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen   (Gebauer & Rücker, 2019) ist von  individualisierten Massen  die Rede – genau das hat sich im Netz der Plattformen verwirklicht. Serviert wird jedem Teilnehmer ein ganz eigenes – algorithmisch gesteuertes – Programm.

Menschen an einem digitalen Ort zusammen zu bringen bedeutet Begegnung – so lässt sich eine Brücke schlagen zum Konzept Demokratie braucht Begegnung Digitale Räume sind sicher nicht dasselbe wie realweltliche Räume, aber sie haben das Potenzial, Orte von Begegnung zu sein,  Demokratie zu stärken. Ob sie das sind, hängt von ihrer jeweiligen Beschaffenheit und dem Engagement ab. Im (Blogger-) Barcamp wurde auch das Verschwinden lokaler Öffentlichkeiten thematisiert – eine weitere Parallele.

Stellt man Bloggen in einen weiteren Rahmen, lassen sich Zusammenhänge zu einer breiteren Bewegung zum Rückgewinn Digitaler Souveränität erkennen. Über die Graphik rechts ist der Zugang zu einer Roadmap Reclaiming Digital Sovereignty verlinkt.  Für sich allein genommen, sind Blogs fast schon digitale Folklore – in einem grösseren Bild Teil einer demokratischen digitalen Öffentlichkeit. Blogs bleiben  weiterhin ein Medium im digitalen DiskursDemokratie  erfordert dauerhaften Einsatz – der aktuell besonders erfordert scheint.

Veranstaltet wurde das Mini-Online-Barcamp von Daniela Sprung und Thomas Riedel. In näherer Zukunft vorgesehen sind ein Termin auf der re: publica (5/25). Bis dahin besteht auf folgenden (nicht- spezifischen)  Barcamps die Möglichkeit zum Austausch. Ansonsten: Die Funktionen des Social Web gibt es noch, und sie lassen sich nutzen ;-).

vgl..: Martin Andree: BIG TECH muss weg. Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft. Wir werden sie stoppen. Campus Verlag. 2023.  Vortrag–zum Download: Wie digitale Monopole den Journalismus zerstören und die Demokratie bedrohen.   Dominik Ruisinger: Das Ende von Social Media. Warum wir digitale Netzwerke neu denken müssen. 4/2024.
Zum Bloggercamp: Thomas Riedel „Zukunft Bloggen!?“ – Ein Mini-BarCamp – Johannes Mirus: Aus dem Leben.  Barcamp Zukunft Bloggen – Martin Andrée – Vortrag (Video)   Markus Pflugbeil: https://www.pflugblatt.de/zukunft-bloggen-barcamp/
Gunter Gebauer & Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. DVA, München 2019.  345 S. (Rezension)

 

 



Atlas of AI – die materielle Basis der KI (Rezension)

Auf den Atlas of AI wurde ich durch ein Interview in der FAZ am Sonntag (18.08) mit der australischen Autorin Kate Crawford aufmerksam – aus Anlass der deutschen Ausgabe, die in derselben Woche  erschien.
Die englische Ausgabe liegt bereits seit August 2021 vor – was macht ein Buch zu einem derart aktuellen Thema auch nach drei Jahren so interessant, eine Übersetzung herauszugeben?

AI is neither artificial nor intelligent  (8). Ein KI-System denkt nicht, sondern verarbeitet bzw. trifft Vorhersagen, ähnlich wie Google oder andere Computersysteme. Crawford widerlegt die Vorstellung von KI als immaterieller Cloud-Software, indem sie den enormen physischen und gesellschaftlichen Ressourcenverbrauch aufzeigt, der mit der Technologie verbunden ist. Sie beleuchtet die politische und ökonomische Verankerung von KI sowie die damit verbundenen sozialen und ökologischen Kosten.
U. a. beschreibt sie KI als Metamaschine (48 ff), ein komplexes, globales Agglomerat aus technologischen Funktionen, das sich letztendlich auf Daten, menschlicher Arbeit und Umweltressourcen aufbaut. KI als Metamaschine verdeutlicht die Rolle von Technologie als übergreifender, datengetriebener Instanz, die  in  Machtstrukturen eingebunden ist.

Der Atlas of AI führt an eine Reihe von Orten der Abschöpfung– der Titel ist gemeint als Kartierung der materiellen und gesellschaftlichen Grundlagen künstlicher Intelligenz.
Extraktiv/ abschöpfend ist der Begriff, mit dem Crawford KI immer wieder belegt: extractive industry, Technologie der Extraktion, Culture of data extraction (119).
Gemeint ist die Abschöpfung von Zulieferungen materieller, operativer und ideeller Art. Bleibt man im Bild werden in sechs Kapiteln sechs “Kontinente” kartiert:

  1. Earth – Die Gewinnung von Rohstoffen wie Seltene Erden, Lithium und Kobalt, die für die Produktion von KI-Hardware unerlässlich sind, oft unter schwierigen geo- und umweltpolitischen Bedingungen
  2. Labor – Die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, insbesondere in Form von Crowdworking, um KI-Systeme zu trainieren, oft unter prekären Arbeitsbedingungen.
  3. Data – Der immense Bedarf an Trainingsdaten, der zur Abschöpfung aller verfügbaren digitalen und zu digitalisierenden  Materialien führt, einschließlich Texten, Code, Stimmen, Handgesten, Bildern und Bewegungsdaten
  4. Classification – Die Kategorisierung und Klassifizierung von Menschen und Dingen, die tief in kulturelle und soziale Normen eingebettet ist
  5. Affect – Die Erkennung und Nutzung menschlicher Emotionen durch biometrische Verfahren wie Gesichtsanalyse.
  6. State – Die enge Verbindung zwischen der Tech-Branche und dem militärisch-industriellen Komplex.
  7. Conclusion/ Power untersucht, wie KI als Machtstruktur funktioniert, die Infrastruktur, Kapital und Arbeit vereint.

Als Anhang das Kapitel Coda/ Space zum Raumfahrtspektakel der Tech- Milliardäre, dargestellt als  common corporate fantasies.
Hinzu kommt der Verbrauch enormer Mengen an Energie – der global zusammengefasst an Volkswirtschaften in der Grösse von Argentinien oder Schweden reicht, mit steigender Tendenz.

Von Supply Chains/ Lieferketten ist in der KI – Diskussion selten die Rede, doch lassen sich, ähnlich wie bei physischen Produkten, Schritte und Komponenten  die notwendig sind, um KI-Lösungen zu entwickeln, bereitzustellen und in Betrieb zu halten, als solche verstehen.
Ein Absatz (218) fasst den Blickwinkel Crawfords kompakt zusammen: KI/ AI is born from salt lakes in Bolivia and mines in Congo, constructed from crowdworker- labeled datasets that seek to classify human actions emotions, and identities. It is used to navigate drones over Yemen, direct immigration police in the US, und modulate credit scores of human value and risk around the world. A wide-angle, multiscalar perspective on AI is needed to contend with these overlapping regimes.

Der “Atlas of AI” bleibt drei Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe ein Schlüsselwerk zur Diskussion der strukturellen, sozialen und ökologischen Dimensionen von KI.  Seit dem Erscheinen der Originalausgabe 2021 wurde der Atlas of AI in 10 Sprachen übersetzt. Forschungsverlauf und Reisen dazu reichen weitere zehn Jahre zurück. Es geht nicht um die Momentaufnahme eines bestimmten Jahres.
Was sich in den letzten beiden Jahren verändert hat, ist bekannt: Seit dem Launch von ChatGPT und weiterer KI- Modelle hat sich ihre Nutzung stark verbreitet, und die Investitionen  haben sich beschleunigt.
In einem Interview von  Juni 23* äusserte sich Crawford zu den Modellen  generativer KI: Sie sieht den Launch der Large Language Models (LLMs) als einen bedeutsamen Wendepunkt, etwas, das es in diesem Ausmaß seit langem nicht gegeben habe. LLMs sind nicht nur eine neue Schnittstelle, sondern ein neues Medium, über das wir in den kommenden Jahren Informationen erhalten und erstellen werden. Das Wachstum der LLM erfordert enorme Datenmengen, mehr Menschen, die hinter den Kulissen als Clickworker und in Fabriken arbeiten, und einen immer höheren Energieverbrauch – damit auch einen weiteren Anstieg von Emissionen.

Der Atlas der KI ist ein politisches Buch, ein Korrektiv zum Hype: Crawford geht es um den Zusammenhang von Kapitalismus, Computation und  Kontrolle (227). Sie thematisiert Arbeits-, Klima- und Datengerechtigkeit, um eine realistische Analyse der Umweltauswirkungen, Überreichweiten exekutiver Gewalt. KI wird als Teil eines Systems beschrieben, das auf einer Kette des Extraktivismus beruht, der alles andere als immateriell ist.

Manchmal wurde KI mit technologischen Sprüngen, wie der Einführung der Dampfmaschine oder der Elektrizität, verglichen. Innovationen, die zu ihrer Zeit ganz neue industrielle Möglichkeiten und Dynamiken eröffneten.
KI ist Teil der digitalen Revolution, oder besser: ein weiterer Schub der digitalen Evolution. Sie baut auf den Fortschritten in der Datenverarbeitung, Vernetzung und Rechenleistung sowie auf dem riesigen Umfang digital gespeicherten Wissens und von Verhaltensdaten auf.

wenig überraschend sind die Parallelen zum Überwachungskapitalismus von S. Zuboff (2018)

Deutlich sind die Parallelen zur Analyse des Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff (2018). Zuboff thematisierte die massenhafte Abschöpfung und Vermarktung von Verhaltensdaten, die zu einer Grundlage des digitalen (Plattform-) Kapitalismus wurde.
Beide Autorinnen beleuchten kritisch, wie digitale Technologien zu neuen Formen von Machtkonzentration und Kontrolle führen. Zuboff spricht von der Instrumentarisierung menschlichen Verhaltens, während Crawford die extraktiven Machtstrukturen hinter KI-Systemen aufdeckt. Beide Bücher sind sowohl wissenschaftlich fundiert, wie auch aktivistisch motiviert.

Social Media wie auch generative KI beruhen auf der digitalen Lesbarkeit von Kommunikation und Wissen – to capture the planet in a computationally legible form. Wissen über Verhalten und Verbindungen der Nutzer sind Geschäftsgrundlage. Beide Branchen nutzen Technologien, um wirtschaftlich verwertbare  Informationen abzuschöpfen, und werfen dabei Fragen zu Datenschutz, Ethik und Regulierung auf. Das Konzept der Landnahme lässt sich mit beiden verbinden: Die Einnahme und Bewirtschaftung des Digitalen Neuland.
KI macht das, was Digitalität auszeichnet: Sie zerlegt Inhalte in kleinere, analysierbare Einheiten, analysiert sie und fügt sie nach definierten Vorgaben wieder neu zusammen. Auf diese Weise lässt sich durchaus von einer Neuorganisation des Wissens sprechen.

Datenextraktion ist die neue Dimension: LLMs systems harvest everything that can be made digital, and then use it to train corporate AI models *.
Neben Text, Code etc. zählen dazu alle zugänglichen Medienformate in Bild, Ton/ Musik, Video/ Film, Daten über Menschen, wie Stimmen, Gesichtsbilder/ Selfies, Fahndungsfotos, Handgesten, Selfies, Tattoes bis hin zu Daten, die Haushaltsgeräte oder Schrittzähler sammeln. All das kann auch als Rohmaterial zur Generierung von  Avataren dienen. Sicherlich gibt es  Unterschiede in der Handhabung zwischen den Modellen. Letztlich setzt sich die Dominanz weniger Konzerne, wie wir es von BigTech kennen, fort.
Viele der abgeernteten Inhalte sind Produkte der Arbeit von Autoren, Künstlern und anderen Kreativen. Oft steckt langfristige Arbeit dahinter und/ oder es bestehen Urheberechte. Seit neueren wurden hier und da Nutzungsverträge abgeschlossen.
Neue Techniken sind eine Sache, kulturelle Rechte eine andere: Stehen sie tatsächlichen oder rechtlichen Urhebern zu, sind sie globale Allmende – oder steht den Entwicklern der neuen Technik die Abschpfung zu? Generative KI schickt sich an, diejenigen, von deren Inhalten sie lebt, in deren eigenem Markt zu ersetzen** (s.u.).

Aktuell scheint der Hype um KI etwas abzuflachen – vom Erreichen eines Plateaus ist immer öfter die Rede. Die jüngsten Fortschritte übertreffen die Erwartungen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor. Der Mehrwert der Verbesserungen scheint den Umfang der Investitionen nicht mehr zu rechtfertigen. Das bedeutet aber nicht, dass die Verbreitung generativer KI abflaut. Die jüngsten Fortschritte übertreffen die Erwartungen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor.
Die Autorin steht der Branche nicht fern: Sie ist, neben anderen akademischen Positionen, Senior Principal Researcher bei Microsoft Research New York, ist aber auch an Kunsprojekten im Spannungsfeld Technologie/ Macht beteiligt, so an dem  2025 in Mailand geplanten Projekt Calculating Empires: A Genealogy of Technology and Power, 1500–2025.

Die deutsche Ausgabe gibt es als Atlas der KI: Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien  für 32 € bei C.H. Beck, die englische ist für  18 € als Paperback bestellbar. 

Kate Crawford: Atlas of AI. Yale University Press. 2021. 327 S.  de: Atlas der KI . Übers: Frank Lachmann  8/24 — KI ist von vorn bis hinten Politik – Interview mit Kate Crawford. FAZ am Sonntag. 18.08.2024, S. 33. Calculating and Powers: Interview with Kate Crawford– * Mining for Data: The Extractive Economy Behind AI – Green European Journal 13.06.2023.  John Wyatt et al.: Atlas of AI’ by Kate Crawford: a review In. Evangelical Focus. Tech Human, 16.08.2023. + **vgl.: Matthias Hornschuh, In: KI-Training ist Urheberrechtsverletzung Initiative 4.09.24  —  *so der franz./ amerikan. Gründer von Hugging FaceClément Delangue auf LinkedIn. – 14.09. 



Remote Work in der Diskussion

Die KI (Adobe Firefly) zeichnet das home Office als grünes Idyll – ohne spezifisches Prompting

Spätestens seit Corona zählen Home Office/ Remote Work/ mobiles Arbeiten zu den intensiv diskutierten Themen – und das gleich auf mehreren Ebenen:  persönlich in der Arbeits – und Alltagsorganisation, in Unternehmen als betriebliche Organisation, perspektivisch in Politik und Zukunftsdiskussionen. Das Thema  berührt im weiteren viele Fragen bis hin zu  Verkehrsplanung und Urbanistik.

In einem Zeitraum  Februar/ März 2024  (20.2. – 20.3.) haben wir mit der Social Listening Software Talkwalker die  deutschsprachige öffentliche Online- Kommunikation zu Remote Work und Home Office erkundet. Einbezogen wurden Nennungen in deutschsprachigen Quellen. In Talkwalker sind dabei Daten aus bis zu 20 Medienkategorien  auswählbar. Talkwalker bietet dazu weitere Funktionen, wie z.B. die Sentiment Analyse ( +/- Bewertung), die hier nicht genutzt wurden.
Beide Anglizismen sind ähnlich weit verbreitet. Home Office kam als Provisorium und meint wirklich nur den häuslichen Raum, der als Büro genutzt wird,  in der Umgangssprache verdrängte es Ausdrücke, wie Heimarbeit oder von zu Hause arbeiten.

Homeoffice im Neubezug

Remote Work  ist der weiter gefasste Begriff für vom Betriebsstandort unabhängige Arbeit – gleich ob von zu Haus, aus einem CoWorking Space oder ganz aus der Ferne als digitaler Nomade – die Orte, von denen aus Arbeit erledigt wird, sind prinzipiell gleichrangig. Der Begriff hat sich  von der IT- Branche aus verbreitet.
Vorläufer gibt es seit langer Zeit, etwa die Unterrichtsvorbereitung von Lehrern, der Schreibtisch und die Aktenordner im Einfamilienhaus, Auftragsarbeiten von Freiberuflern – aber erst mit den neuen Begriffen wird darüber ernsthaft diskutiert.
Zusammengerechnet wurden beide Begriffe 4.700 x in den Kategorien des deutschsprachigen Netz genannt. Etwas überrascht, dass Remote Work deutlich mehr (3t/1,7t) Nennungen erreicht. Ebenso der hohe Anteil  von Twitter, das als X für viele nicht mehr die erste Wahl ist. Teilweise zu erklären durch zahlreiche Re- Tweets, mit denen sich einzelne Inhalte multiplizieren.

Die %- Angaben  sind nicht direkt vergleichbar! Zu Remote Work gibt es ca. 3000 Nennungen, zu Home Office ca. 1600. Die Graphik aus Talkwalker stellt die jeweiligen % – Anteile davon dar

Die Verteilung nach Tagen (re.) zeigt immer wieder Ausschläge, an denen sich die Nennungen häufen.  Der stärkste Ausschlag folgte auf  einen Ausspruch des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder am 4.03:  Nur mit Teilzeit und Homeoffice werden wir im internationalen Wettbewerb nicht bestehen.
So spiegelt sich in den Zahlen die öffentliche Diskussion, bzw. es werden immer wieder auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtete, oft provokative Statements von Politikern, Unternehmern und anderen Meinungs- Influencern eingeworfen, meist  gezielt platziert.

Home Office as usual

Zeitlich ganz eingrenzen lässt sich das Sample nicht: Ältere Aussagen und Argumente werden immer wieder herangezogen: So von Trigema- Chef Wolfgang Grupp: Home Office gibt es bei mir nicht. Wenn einer zu Hause arbeiten kann, ist er unwichtig-  später zwar im Zusammenhang relativiert, wurde das Statement dennoch als markig- konservativ medial verbreitet.

Arbeitnehmer befürworten das Homeoffice, während Arbeitgeber skeptisch sind  (Computerwoche, 11.03.) –  unter dieser Titelzeile werden Argumente gegen das Home Office aufgeführt, die auch in anderen Quellen erscheinen: Sinkende Produktivität, mehr Zeitaufwand für den gleichen Output.
Beschäftigte, die sich bewusst dafür entscheiden, von zu Hause aus zu arbeiten, tun dies häufig auch, weil sie dort andere Verpflichtungen haben, —  dazu wird mangelnder sozialer Austausch innerhalb der Belegschaft beklagt. Das beeinträchtige nicht nur die Stimmung im Team, sondern auch die Innovationsfähigkeit bei kreativen Aufgaben. Es werde schwieriger, sich spontan zwischen Tür und Angel mit einem bestimmten Kollegen auszutauschen, was eben Innovationsprozesse hemme. Die meisten Argumente lassen sich auch mit diversen Studien belegen – bloss bleibt unklar, wie allgemeingültig deren Ergebnisse sind.
Nicht zu vergessen sind Verweise auf IT- Sicherheit: In einer zunehmend dezentralen Arbeitsumgebung steigt die Anfälligkeit für Ransomware-Angriffe exponentiell (18.03.).

Home Office im Termindruck

Die einen sammeln Argumente gegen etwas, die anderen sammeln Erfahrungen. Das meint Thomas Dehler, Gründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Telearbeit (Gefta) im Interview  mit Gunnar Sohn (28.02). Flexible Arbeit ist auf dem Vormarsch, trotz einiger Unternehmen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück ins Büro holen – Dehler ist engagierter Vertreter der  flexiblen Arbeit. Remote Work ist definitiv ein Thema, wenn der Mitarbeiter im Mittelpunkt steht.
Wer Homeoffice in Frage stellt, wolle Leute rausekeln, manchmal gebe es ein rabiates Rollback. Dahinter stecke oft in Wirklichkeit die nackte Angst von Führungskräften, nicht zu wissen, wie sie die Arbeit aus der Ferne kontrollieren können.  Aber auch ein gegenseitiger Prozess: Jeder Bewerber, der an eine Marke angedockt werden möchte, wird einen Kompromiss schaffen, auch wenn er völlig remote-minded ist. Neue Organisationsformen von Arbeit lösen so  Innovationsprozesse aus.
Weiter verweist Dehler auf den Beitrag zur Dekarbonisierung. Jeder nicht gefahrene Arbeitsweg-Kilometer spart Tonnen von CO2.
Auch in anderen Quellen wird die Entwicklung neuer Arbeitsmodelle betont: Mit voranschreitender technologischer Entwicklung werden die neuen Arbeitsmodelle allerdings für immer mehr Menschen zum “New Normal”  werden. Sie suchen nach Arbeitgebern, die eine damit kompatible Kultur sowie Identität bietet (Personalwirtschaft.de , 7.03.)

Manche Arbeitgeber nennen das Home Office als eine gewährte Vergünstigung: Wir bieten freie Zeiteinteilung, Homeoffice, wir haben eine Tischtennisplatte im Büro, mittwochs gibts ein kostenloses Mittagessen aus regionalen Produkten und freitags nachmittags Freibier (7.03.).
Unternehmen haben noch keine dauerhafte Lösung beim Thema Remote Work gefunden- so sagt es ein Berater aus dem Kienbaum Institut.

Home Office – bright & light

In einigen Diskussionssträngen eingestreut werden Fragen der Arbeitsmoral. Verbunden mit einem Bashing der Generation Z teilt etwa die Beraterin Susanne Nickel  in ihrer Kolumne im Focus (14.03.) aus: Remote arbeiten, was heißt: möglichst da, wo der Chef nicht plötzlich auftauchen, kritisieren und Anweisungen geben kann. Und bloß nicht zu viel und zu schwer.  Weiter: In der Generation Z werden nämlich die drei großen F’s gefeiert: Freizeit, Freiheit und Flexibilität. Das sind die „Werte“, die zählen – und nicht etwa Fleiß, Leistung und Karrierestreben.
Das Bashing hat einen Zweck: Es geht um die Bewerbung ihres Buches: Verzogen, verweichlicht, verletzt: Wie die Generation Z die Arbeitswelt auf den Kopf stellt und uns zum Handeln zwingt – erschienen am 19.03.

Aus diesem – querfeldein –  Ausschnitt von 30 Tagen erfährt man bereits viel über die verbreiteten Meinungen und Haltungen  –  aber bis dahin ziemlich wenig über die alltägliche Wirklichkeit von Home Office/ Remote Work, über die konkreten Arbeitsbedingungen. Bis hierhin ist es Medienbeobachtung, eine Exploration der öffentlichen Thematisierung in einem Ausschnitt, der  sich verbreitern oder auch enger fokussieren lässt.
Weitere Schritte zu einer Netnographie richten sich nach einer zu stellenden Forschungsfrage – die formulieren soll, was man denn wissen will. Etliche der Quellen ermöglichen einen tieferen Einstieg mit weiteren Recherchen.
Sicher enthält das Sample noch viele weitere Informationen bereit, so z.B. zur richtigen Ausstattung des Home Offices (ein Geschäftsfeld)  – bis hin zum Feng Shui

Home Office/ Remote Work verbreitete sich als temporäre Lösung während der Pandemie. Eine Entwicklung, die bereits begonnen hatte, wurde so massiv  angetrieben. Noch wenige Jahre zuvor waren digitale Medien und Techniken nur in wenigen Branchen ausreichend verbreitet. Heute gehören die Techniken zu einer wohl flächendeckend verbreiteten Infrastruktur.
Die digitale Öffentlichkeit ist mehr denn je eine Bühne der Positionierung, die von vielen Akteuren bespielt wird, die sich ihrer möglichen Wirkung bewusst sind.
Ist Remote einer der Trigger (vgl. Triggerpunkte), der Reizbegriffe, an denen Konflikte  entzündet werden? – Manchmal fühlt man sich auch an die Instrumentalisierung von Begriffen wie woke erinnert.

 

Einzelne Quellen: Wie zeitgemäße Arbeitsmodelle die Unternehmenskultur beeinflussen. Personalwirtschaft.de – 7.03.24. — Die Rückkehr ins Büro: Was steckt wirklich dahinter? Personalwirtschaft.de 4.03. 24 — Gunnar Sohn: Interview mit Thomas Dehler.  28.02.24 –  Gunnar Sohn:  Wer Homeoffice in Frage stellt, will Leute rausekeln #ZPSued  Susanne Nickel: Die Gen Z verhält sich, als ginge sie die ganze Misere im Land nichts an – Focus  14.03.24. Wirtschaftspsychologen tagten zum „New Normal“. Forschung und Praxis analysierten Ansätze zur Gestaltung der Arbeitswelt . 27.02.24   Mitarbeiterbindung versus Präsenzpflicht  — Pressemitteilung von: virtuu: Streit ums Homeoffice: Studie zeigt, dass sich Führungskräfte vor allem um den Teamzusammenhalt sorgen. 27.02.24
Warum Arbeitgeber das Homeoffice tolerieren 11.03.24.  Homeoffice- Nicht für jeden geeignet – Luckx Das Magazin. 7-03.24  — New Work schafft neue Realität. Lebensmittel Zeitung 7.03.24.  —– Bilder vom Home Office von ob. nach u.: Klaus Janowitz, Johannes Mirus, Gunnar Sohn, Birgit Eschbach,  — – z.B. auf den Seiten  der Hans- Boeckler Stiftung sind einige Studien einsehbar bzw. stehen frei zum download. 

 

 



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