Krisen und der Zukunftsdiskurs – #Corona #Klima

Ist Corona ausgestanden? Bild: Guido Hoffmann. unsplash.com

Ob Corona im Herbst 2021  ausgestanden ist, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Manches spricht dafür und mit der Impfkampagne  sind die spürbarsten Einschränkungen aus dem Alltag verschwunden.
Gesellschaftliche Folgen bzw. Auswirkungen lassen sich aber resumieren, zumindest  einschätzen – nach gut anderthalb Jahren ist die Zeit dazu, Schlüsse zu ziehen. Übrigens auch auf der subjektiven Ebene der Empfindungen, wie ein Blick in die literarischen Neuerscheinungen in den Auslagen der Buchhandlungen zeigt.

Corona- Erfahrungen – nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seie

Gleich zweimal wurden die Zukunftsannahmen aus den 2017 vorgestellten Szenarien von D 2030 auf ihre Gültigkeit überprüft.  Zu Beginn der Pandemie und im Sommer 2021. Die letzten Auswertungen waren im September abgeschlossen. Grundlegende Fragestellung war Wie weit hat die Pandemie unsere Zukunftserwartungen beeinflusst?
Bei den Befragten zeigt sich ein deutlicher Wunsch nach einer Nachhaltigen Transformation (25) – bzw. der positiven Zukunftserwartung der Neue Horizonte – Szenarien. Im Vergleich zur frühen Phase der Pandemie fielen die Einschätzungen im Sommer 2021 dazu pessimistischer aus. Erlebt wurde oft eine schnelle Rückkehr zu alten Routinen, einer (manchmal) hohen staatlichen Lösungskompetenz steht ein Mangel an Teilhabe gegenüber. Deutlich werden Wertekonflikte zwischen  konträren Positionen, wie etwa Digitalisierungsschub vs. Mangelhafte Digitalisierung; Corona hat Veränderungsfähigkeit gezeigt vs. Corona hat Beharrungstendenzen aufgezeigt (4).
Zu den zentralen Erfahrungen der Pandemie zählt, dass Ereignisse, die  gesellschaftliche Änderungen in großem Maßstab zu Folge haben jederzeit möglich sind. Wer hätte etwa 2019 einen Lockdown für möglich gehalten? Erlebt wurden die Chancen, manchmal auch die Grenzen der Digitalisierung: flexibles, mobiles Arbeiten, Online- Konferenzen, die Mobilität einsparen, der Boom des Online- Handels. Andere Auswirkungen treffen unterschiedlich hart: ein Lockdown im Haus mit Garten wird anders erlebt als in beengten Verhältnissen. Das soziale Leben wurde erschüttert, incl. der damit verbundenen Branchen: Kunst und Kultur in ihren Live- Events, Gastronomie, Tourismus.
Übereinstimmung herrscht in zwei Punkten: 1. Die Klimakrise war zwar zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt, wird aber das beherrschende Thema der PostCoronaZeit sein. 2. Die Veränderung der Arbeitswelt ist durch Corona beschleunigt worden. Hier wird sich eine Neue Normalität einstellen. — Bildung, Klima und Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Partizipation, aber auch Deutschlands geopolitische Rolle werden als vordringliche Themen eines öffentlichen Zukunftsdiskurses genannt.  Soweit ein zusammenfassender Einblick, mehr im Ergebnisdokument CoronaStresstest 2 .

Armin Nassehi war als Mitglied der Leopoldina-Expertengruppe während der Pandemie der wohl medienpräsenteste Soziologe und  äusserte sich in verschiedenen Phasen der Krise dazu, wie Corona unsere Gesellschaft verändert. Seine Positonen standen immer wieder im Gegensatz zu den  Haltungen, die in der Krise die Chance zur Veränderung sehen: «Gesellschaften sind träge, sie ändern sich in und nach Katastrophen nicht grundlegend. Die Routinen werden sehr schnell wiederkommen, wenn diese Krise vorbei oder zumindest leichter beherrschbar ist» meinte er im April 20 in der NZZ – und das trifft seine Haltung ziemlich gut.
In seinem neuen Buch Unbehagen- Theorie der überforderten Gesellschaft (9/21) ist die Pandemie nicht direkt das Thema, sondern neben der Klimakrise – aufs allgemeingültige herausgehoben – Referenzkrise.  Nassehis Blick darauf ist theoriegeleitet, das heisst bei ihm systemtheoretisch.  Der Gegensatz Sachdimension vs Sozialdimension  (vgl. 106-109) zieht sich durch die Argumentationen. Die Sozialdimension erzeugt eine Art Überzeitigkeit des Gemeinsamen,  die Sachdimension eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (123). Sozialdimension beschreibt Gesellschaft als integrierte oder integrierbare Einheit von Kollektiven, ihre Öffentlichkeit als Arena aufeinandertreffender Strömungen. Ordnungsaufbau findet über die Sachdimension statt, dem System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, der Eigendynamik  der Funktionssysteme Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht  und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Funktionssysteme reagieren entsprechend ihrer eigenen Logik.
Nassehis grundlegendes Thema ist die Frage, warum Gesellschaften darin scheitern, wenn sie sich kollektiv verändern wollen. Die Eigendynamiken von technisch aufgerüstetem Wirtschaftssystem, auf Gleichheitsversprechen und Inklusion ausgerichtetem Rechtssystem, flächendeckendem Bildungssystem, das sowohl ungleiche Positionen zuweist als auch Aufstiegschancen moderieren kann, Mediensystem etc. entzieht sich zentraler Koordination (312). In der Gesellschaft bilden sich Handlungsmöglichkeiten daraus.
Krisen unterbrechen den Ablauf des Gewohnten, es gibt für sie keine Routinen. Krisen sind disruptiv, gesellschaftliche Veränderung verläuft aber evolutionär.  Zu erreichen ist sie über die Veränderung von Organisationsroutinen.
Nassehis Buch enthält zahllose Beobachtungen, Beschreibungen und Detailanalysen, und auch einige abschliessende Erfahrungen, die Erkenntnisse in der (Post-) Corona- Diskussion vermitteln, aber es ist sicher nicht lösungsorientiert im Sinne eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Das war aber auch von vornherein klar.

In der ersten Phase der Pandemie beeindruckte v.a. die Akzeptanz und das Tempo der Durchsetzung von Home-Office und digitaler Kommunikation. Home Office setzte den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitätsaufkommens. Die Graphik links zeigt eindrucksvoll den steilen Rückgang im  Frühjahr 2020.  Ein Ereignis gesellschaftlicher (incl. staatlicher) Einhelligkeit. Die späteren Lockdowns im Winterhalbjahr 20/21 bilden sich deutlich schwächer ab – sie pendelten sich     spätestens in der zweiten Hälfte des  Sommers 2021 wieder auf das Niveau der Zeit vor Corona ein. Etwas anders entwickelte sich die Mobilität auf kürzeren Distanzen (<5km) die bis dahin  weniger zurückgegangen war.
Noch deutlicher lässt sich dieselbe Entwicklung  an der nebenstehenden Übersicht zum Verkehr auf Autobahnen sehen: Der markante (disruptive?) Knick im April 20, die leichte Abschwächung zum Jahresende und die Annäherung an die Prä- Covid Ära  bis zum Sommer 2021.
V.a. am Rückgang der Pendlermobilität und den Möglichkeiten der dezentralen Arbeit/Remote Office hatten sich Erwartungen eines mit der Krise beschleunigenden Wandels festgemacht. Entsprechend enttäuschend wird diese Entwicklung wahrgenommen, gesellschaftliche Lernschleifen werden nicht gesehen. Reaktionen auf die Pandemie allein machen keine Transformation, das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer Verkehrswende liegt in der Arbeitsorganisation.

Corona- Krise und Klimakrise werden zwar oft nebeneinander gestellt, unterscheiden sich aber grundlegend. Corona brach plötzlich in eine globalisierte, funktionsteilig organisierte Welt ein und man wusste wenig davon.  Die Sachzusammenhänge der Klimakrise (+ Folgen der Zerstörung von Lebensräumen, wie das Artensterben) sind seit langem bekannt. Die Klimakrise ist menschengemachte Folge gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlich- industriellen Handelns und sie hat dystopisches Potential. Wenn man es so ausdrücken will: Entfesselte Funktionssysteme. Von einem Krisenmanagement ist zu erwarten, sie einzuschränken. Wie, ist die Aufgabe eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Demokratische Gesellschaften  sind nicht zu führen wie Organisationen.

Deutschland 2030+: Corona Stresstest 2 – Ergebnisse.  – Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. 9/ 2021 384 S. –Interview mit Armin Nassehi: Wie verändert Corona unsere Gesellschaft?  12.07.21.  Untere Graphiken aus:  Statistisches Bundesamt: Mobilitätsindikatoren auf Basis von Mobilfunkdaten.  und Bundesanstalt für Strassenwesen: Verkehrsbarometer: Monatliche Entwicklungen des Strassenverkehrs 2020/2021.  Ifo- Institut: Home Office im Verlauf der Corona- Pandemie.   Juli 2021—
Zu den Graphiken: (obere): Veränderung der Mobilität 1/20 bis 9/21 nach Distanz- nach Klick in voller Grösse auf neuer Seite. Quelle: Statistisches Bundesamt; (untere: Monatliche Entwicklungen des Straßenverkehrs auf Bundesfernstraßen und Auswirkungen der Corona-Pandemie. Verkehrsbarometer).



Die Neuerfindung des Unternehmertums (Rez.)

Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution (2021) Themen, die in den Zukunftsdiskussionen eine zentrale Rolle spielen der lange Titel ist bereits eine kurze Inhaltsangabe. Auf das Buch  wurde ich durch einen Livetalk aufmerksam – und es ist das erste aus den Wirtschaftswissenschaften, das ich hier bespreche.
Reinhard Pfriem, emeritierter Prof. der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Oldenburg,   Mitbegründer (1985) des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung,  ist seit langem mit dem Themenfeld befasst – das Buch ist sein Opus Magnus und lässt sich durchaus als Zusammenfassung seines Lebenswerkes lesen. Es  geht um die zukunftsfähige Neuverbindung von Ökonomie und Politik, um unternehmerische Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Gleich zu Beginn knüpft Pfriem an die Great Transformation von Karl Polanyi (21) an – und setzt damit  einen Rahmen. Great Transformation bedeutete letztlich Industrialisierung, Marktwirtschaft und grenzenlose Wachstumsökonomie als gesellschaftliche Organisationsprinzipien. Vor dem Hintergrund ökologischer Risiken und Katastrophen, sozialer Verwerfungen und ökonomischer Krisen stellt sich die Frage nach einer lebenswerten Zukunft,  einem guten Leben für alle, neu.
Pfriem geht es um eine Transformation vergleichbaren  Ausmasses, bei der ausgerechnet Unternehmen als wichtigste Organisationskörper moderner kapitalistischer Gesellschaften (21) eine besondere Rolle zukommt. Vom Unternehmertum gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen, klassisch ist die des mittelständischen Eigentümers, neuerdings auch die der oft wie Popstars gefeierten Entrepreneure. Pfriem hält sich wenig mit diesen Ausformungen auf, er fasst zehn Merkmale und Wissensdimensionen transformativer Unternehmen  (281 ff) zusammen.
Übergreifendes Postulat ist Enabling, das Möglichmachen – die Gestaltung von Gesellschaft durch unternehmerisches Handeln.  Bereits vor einigen Jahren hatte Pfriem den Begriff der Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft in die Welt gesetzt. In diesem Kontext sind Transformative Unternehmen Akteure des Wandels, einer Systemwende zu gemeinschaftsorientierten Formen des Wirtschaftens.   Das Teilsystem Wirtschaft ist dominant. Eine derart von ökonomischen Kalkülen bestimmte Gesellschaft ist nur transformierbar, wenn die Ökonomie transformiert wird.
Die einzelnen Themenfelder werden in 15 übersichtlich angelegten Kapiteln behandelt. Es geht um transformative Unternehmen, Nachhaltigkeit, solidarische Ökonomie, radikale Demokratie, bis zum Entwurf einer  Neuausrichtung der Wirtschaftswissenshcaften und als Ziellinie die Bausteine einer zukunftsfähigen Politik (415 ff). Darunter finden sich so oft diskutierte Themen wie  Mobilitäts, – Energie-  und Ernährungswende und ein Kurswechsel auf soziale Gerechtigkeit.

Zentral ist die Kritik an den aktuellen Wirtschaftswissenschaften, an ihrer  Herauslösung aus gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere einer Mathematisierung der BWL. Pfriem bezeichnet die BWL, immerhin sein eigenes Fach,  als implizite Rechtfertigungswissenschaft kapitalistischer Marktwirtschaften (128). Gegenentwurf ist eine Transformative Wirtschaftswissenschaft (369 ff), die den bestehenden Mainstream der Wirtschaftswissenschaften, der auf subjektunabhängige Objektivität, Identifikation von Gesetzmässigkeiten und Messbarkeit/Quantifizierbarkeit zielt (370; vgl. Pfriem 2000), ablöst, zumindest ergänzt: Eine Handlungswissenschaft, die Beiträge zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leistet, Zukunft für die Menschen zu einem erstrebenswerten Projekt macht.   

Genau wie die zeitgenössische BWL steht  auch die aktuelle Soziologie, der er eine Ökonomievergessenheit attestiert, in der Kritik. Im Kapitel Gesellschaftstheoretische Sackgassen werden soziologische Autoren der letzten Jahre, das waren v.a. Hartmut Rosa mit dem Konzept der Resonanz  und Andreas Reckwitz mit der Gesellschaft der Singularitäten, auf ihr Potential abgeklopft. Beide Bücher hatte ich hier im Blog rezensiert (Rez. Rosa; Rez. Reckwitz).  So sinnvoll und eingängig das Konzept Resonanz grundsätzlich erscheint, so wenig überzeugt es als Grundlage einer Gesellschafttstheorie. Reckwitz stellt den im Konsum differenzierten singularistischen Lebensstil der Neuen Mittelschichten in den Vordergrund – Pfriem nennt es eine  Engführung – und vernachlässigt gesellschaftliche Ungleichheiten.  Allenfalls in später veröffentlichten Aufsätzen relativiert er eine an Konsumstilen ausgerichtete gesellschaftliche Schichtung.  Nebenbei: unter dem Titel Spätmoderne in der Krise: Was leistet die Gesellschaftstheorie? erscheint im Oktober ein von beiden Autoren gemeinsam verfasstes Buch, dazu hier dann mehr.
Weiteres Feld der Auseinandersetzung ist Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007), dem er einen sehr einseitigen Blick auf das Unternehmertum – allein ausgerichtet auf Markterfolg – vorhält. 

Polanyi ist epochaler Bezugsrahmen,  die Analysen von Thomas Piketty zu Ungleichheit und der Vertiefung der Spaltung zwischen arm und reich werden herangezogen. Auf Schumpeter geht der Blick auf die Rolle des Unternehmers incl. der Erkenntnis, dass unternehmerischer Erfolg und gesellschaftliches Wohlergehen auseinander treten können, zurück. Mit deutlicher Sympathie  verweist Pfriem auf Frithjof Bergmanns Neue Arbeit, Neue Kultur: die wunderbare Formulierung “was sie wirklich, wirklich wollen” (57). Etwas wundert mich, dass die in den letzten Jahren oft  diskutierten Arbeiten von Maja Goepel,  die sich ebenso mit einer Transformativen Ökonomie befassen, nirgends  erwähnt werden.

Die Neuerfindung  des Unternehmertums ist ein programmatisches, oft erstaunlich radikal- utopisch, nicht durchgehend analytisch gehaltenes Buch – der Autor nennt es selber eher wissenschaftlich gehalten. Er setzt sich mit bestehenden Wissenschafts- bzw. Gedankengebäuden auseinander um einer Handlungswissenschaft zur Gestaltbarkeit von Zukunft den Weg zu bereiten. Weitere Umsetzung ist stark von einer Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft (444) bestimmt.  Und manches scheint, dass jetzt der Zeitpunkt dazu ist.
481 Seiten sind per se eine Menge Material, die wahrscheinlich selten in einem Durchgang gelesen werden. Man kann das Buch als ein Compendium, eine Art Handbuch zu einer Transformativen Wirtschaftswissenschaft sehen und nutzen. Ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden der  Themenstränge, macht sie den laufenden Zukunftsdiskussionen zugänglich.

Zum Schluss der Gedanke der  Co- Evolution von Wissenschaft und Gesellschaft (könnte man das etwa Scientogenese nennen?), der ganz sicher an das Konzept Technogenese erinnert.  In den Gesellschaftswissenschaften lassen sich immer Phasen und Epochen finden, in denen  Forschungsfragen einmal eingefahrenen Mustern folgen. Hier ist ein Werk, das neue Wege beschreite will – dem kann man zustimmen bzw. sich damit auseinandersetzen.

Den Titel  des Einbands ziert übrigens ein Werk von Otto Freundlich (1878-1943), ein zu unrecht weniger bekannter Pionier abstrakter Malerei, der wie so viele andere von den Nazis ermordet wurde.

Reinhard Pfriem: Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution – 2021. 481 S.  Metropolis Verlag, 38 € –  Livestream- Interview mit Reinhard Pfriem  vom 28.07.2021



Amazon and the Invention of a Global Empire – (Rez. zu Amazon unaufhaltsam )

Der Titel Amazon unaufhaltsam (von Amazon unbound) klingt etwas spröde  übersetzt – passender ist der amerikanische Subtitel Jeff Bezos and the Invention of a Global Empire – wie die Landnahme eines strategisch denkenden Konquistadoren. Passend dazu das Siegerlächeln (oder –grinsen) auf dem Titel. Autor Brad Stone ist Wirtschaftsjournalist bei Bloomberg News, schrieb auch für Newsweek und die New York Times.
Das Buch ist die Geschichte des Aufstiegs, von 2010* bis zur (teilweisen) Übergabe an Andy Jassy im Februar 2021. Dazwischen liegen die Phasen des Wachstums (im Volumen wie der Breite), der Perfektionierung, einzelne Flops (so das Fire Phone), und die immer stärker werdende öffentliche Beachtung. Eine Langzeitreportage zu einem Unternehmen und ein Stück Zeitgeschichte bis zu den Trumpjahren und zur Pandemie. Nicht unkritisch, aber mit Bewunderung.

Das Bild eines Globalen Imperiums passt wohl zu allen fünf GAFAM- Unternehmen. Allen gemeinsam ist eine Strategie der Monopolisierung sozialer Graphen, wie es Michael Seemann in seinem kürzlich (5/21) erschienenen Buch Die Macht der Plattformen herausgearbeitet hat. Amazon startete mit einem sozialen Graphen im Online- Buchhandel, dehnte seine Handelsaktivitäten immer weiter aus  und verfügt nun im weitesten Sinne über den Konsumptionsgraph** – das Netzwerk aller Produkte und ihrer möglichen Käufer. Produkteinführungen wie der Kindle (2007) und später Echo (2015, mit Alexa) waren  v.a. auf die Nutzung eigener Angebote, wie E- Books, Musik- Streamings etc. angelegt. Die Verkaufsplattform Marketplaces erschliesst den Handel über eigene Angebote hinaus.

Von den übrigen vier unterscheidet sich Amazon durch den Handel mit überwiegend physischen Gütern und steht damit mit einem Bein in der  stofflichen Wirtschaft. Google und Facebook bauten ihre Imperien ausschliesslich in der neuen, noch unbewirtschafteten  Welt des Internet auf. Google erschloss diese Welt erst wirklich, Facebook kanalisierte das Social des Web in seine Formate. Apple hat eine lange Geschichte, positionierte sich seit iTunes und als Pionier des SmartPhones neu. Microsoft dominierte in der ersten Phase der Digitalisierung, geriet zeitweise in den Hintergrund.

Der Erfolg von Amazon beruht auf mehreren Faktoren, insbesondere auf dem  Leverage/Hebeleffekt: Die Umwandlung des Einzelhandelsgeschäfts in eine einfach zu bedienende Plattform, die mit minimaler menschlicher Unterstützung Gewinne generiert (197). Einzelne Fragen standen dabei immer im Vordergrund: Wie können die Kosten der Betriebsabläufe bei  gleichzeitiger Umsatzsteigerung gesenkt  werden? Wo können Automation und Algoritmen  menschliche Arbeitskraft reduzieren?
Get big fast war das erste Motto, KI und Machine learning, automatisierte Generierung von Wissen aus Erfahrung, von Beginn an zentrale Disziplinen. Das Wissen über Kunden, was sie interessiert und was sie schliesslich kaufen,  plus die Kontrolle der Wertschöpfungsketten sind entscheidend – und damit trat Amazon in immer mehr  Geschäftsfelder.

Das Image von Amazon ist gespalten: auf der einen Seite das innovative Unternehmen mit absoluter Orientierung am Kundenerlebnis incl. schneller Liefergarantie.  Alles,  von der Waschmaschine bis zu den Gewürzen, Cloud- Services, Streaming und Amazon Studios. Bezos ist gefeierter CEO und Hardcore- Chef, Apostel  des Einsparens, Investor, Innovator, kindlich begeistert für die Raumfahrt  und schliesslich Celebrity.
Kritik fährt Amazon einmal bei der Politik nach Innen ein: eine beinharte Unternehmenskultur  incl.  Stack Ranking – Angestellte unterliegen einem regelmässigen Ranking – unterhalb einer gewissen Position werden sie automatisch gefeuert. Der Vorwurf des achtlosen Umgang mit der Belegschaft (465), der das Personal in Lager und Auslieferung nicht vor der Pandemie schützt.
Man erfährt noch viel zu Amazon: zum Eintritt in den Markt Indien, zum Engagement bei der Washington Post, zu einem  Nachhaltigkeits-management, zu Ungleichbehandlungen während der Pandemie u.v.m.

Im Stil erinnert das Buch an andere, die es zu CEOs der Digitalbranche gibt, so zu Facebook bzw.  Marc Zuckerberg. Steve Jobs und aktuell Elon Musk haben noch mehr Starpotential. Treiber von Innovationen sind nicht Funktionalitäten, sondern charismatische Leader. Bei aller kritischen Distanz geht es immer um den gelebten American Dream.  In derselben Weise könnte man auch über Stars aus Hollywood schreiben. Das Buch ist detailreich recherchiert, mal langatmig, mal unterhaltsam und soweit anekdotisch angereichert, dass man es als Vorlage einer Verfilmung im Genre Business heranziehen könnte.
Das Buch ist übersichtlich in drei Teile und 15 Kapitel gegliedert. Die umfangreichen Quellenangaben und ein ebensolches Register machen es einfach im analog gedruckten Text auch quer zu lesen. Nichts gegen die Übersetzung, aber derlei Titel erlesen sich besser im Original.

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft-  Ariston, München 2021.  540 S. 26,- € – Orig.: Amazon Unbound: Jeff Bezos and the Invention of a Global Empire.   *Vorausgegangen war “The Everything Store: Jeff Bezos and the Age of Amazon”, 2013 vom selben Autor   **Vgl.: Christoph Engemann: In Gesellschaft der Graphen. Warum Datenschutz mehr als das Individuum berücksichtigen muss. FAZ am Sonntag, 12.4,2020. Feuilleton, S. 40; Nachträglich ein Beitrag aus der Wired vom 19.06.2021: Matt Burgess: All the ways Amazon tracks you and how to stop it.


Die Macht der Plattformen (Rezension)

Eine Plattform ist ein Geschäftsmodell, das zwei (oder mehr) unterschiedliche Interessengruppen zusammenbringt, wie auf einem Markt. Nur wird dieser durch ein Unternehmen kontrolliert, das auch seine Strukturen vorgibt”* (24).

Die Macht der Plattformen ist als  (vorläufige) Plattformtheorie zu verstehen.  Vorläufig deshalb, da Plattformen längst keine abschliessend zu definierenden Gebilde sind. Sie sind im ständigen Wandel, somit politisch offen, gestaltbar (352). So wie wir sie heute kennen, sind sie in den beiden letzten Jahrzehnten gewachsen – weder beliebig noch zwangsläufig.
Das Buch war ursprünglich für Mai 2020 angekündigt, passend zur re:publica.  Grund für die Verspätung ist wohl die gleichzeitige Abgabe als Dissertation.

Im ersten Buch von Michael Seemann (@mspro) “Das neue Spiel – Strategie für die Welt nach dem digitalen  Kontrollverlust ” (2014)  ging es um neue Spielregeln für die Zeit danach. Kontrollverlust bedeutet, dass sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen. Niemand ist mehr Herr seiner eigenen Daten und das betrifft  alle Formen der Informationskontrolle.
Die folgende These zum Neuen Spiel lässt sich ohne weiteres einer Besprechung des vorliegenden voranstellen: Im Neuen Spiel treten Plattformen als neue, machtvolle Akteure auf den Plan. Sie bilden die Infrastruktur der kommenden Gesellschaft. Wer in Zukunft Politik machen will, muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Es begann mit Napster – ein Erweckungserlebnis, auf das im ganzen Buch hindurch immer wieder Bezug genommen wird. Das frühe Internet war von der Vision getrieben, Wissen und Information frei zugänglich zu machen, incl. Musik, Software.  Eine Diensteplattform für Musik- Nerds hebelte eine ganze Branche aus und führte zur  Disruption der Musikwirtschaft,  die  ein neues Paradigma des Wirtschaftens erzwang (277/78). Napster hatte die Kenntnis über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt (145). War Napster Datenpiraterie, war iTunes die folgende Legalisierung. Spotify u.a. folgten – und ist Gegenstand einer umfangreichen Plattformanalyse (340-352) – die Musikindustrie hatte aber inzwischen gelernt.

Der Untertitel Politik in Zeiten der Internetgiganten führt ein wenig auf die falsche Spur – lässt einen weiteren mahnenden Text vor der Macht der GAFAM- Giganten erwarten. Den Datensammel- und Überwachungsaspekt hält Seemann für überbewertet (404). Darum geht es zwar auch, vorrangiges Thema sind aber die grundsätzlichen Machtquellen, die Plattformen aus ihrer Funktionsweise erwachsen.  Netzwerkmacht ist hegemoniale Macht dessen, der Standardisierungen durchsetzen kann.
Plattformmacht beruht nach Seemann dazu auf Hebeln der Kontrolle, er nennt sie Kontrollregimes, insgesamt sechs.   Als erstes das Zugangsregime, in etwa ein Hausrecht, mit dem Zugang gewährt und verwehrt wird.  Im weiteren das  Query- Regime  als Instrument der Datenabfrage, eine Vorselektion potentieller Verbindungen mit erheblichen Möglichkeiten von Einflussnahme und Kontrolle.

Social Graph. Quelle:  mburpee/flickr.com

Eigentliches Machtzentrum ist – er nennt  es so  – das  Graphregime, dessen Name sich von Social Graph ableitet: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related“**.  Soziale Graphen kann man sich wie Territorien vorstellen – deren Einnahme im  Plattformkapitalismus Unternehmensziel wird. Graphname klingt wie Landnahme, und bedeutet auch die Einnahme eines  bereits existierenden Beziehungsnetzwerkes oder Interaktionszusammenhanges – Amazons Graphname war etwa zunächst der (Online-) Buchhandel, Facebooks die Campi von Universitäten. Beide wären nicht erfolgreich, hätten viele der Bedürfnisse nicht bereits existiert. Gefestigte Graphnamen bedeuten gefestigte Machtquellen: Facebook hat (incl. instagram und What’s App) ein Graphmonopol der sozialen Verbindungen, Google hat den Interest Graph, Amazon den Consumption Graph, Apple und Google teilen sich den Mobilfunkgraph (159). Das Wissen über die Verbindungen ist Machtfaktor.

Die Graphname ist auch die erste Phase im Lebenszyklus von Plattformen, der Keim, aus dem alles erwächst.  Es folgen Wachstum und Konsolidierung. Wachstum erfordert maximale Offenheit- man will die Welt erobern und verbessern – Don’t be evil fällt in diese Phase.  Konsolidierung stellt dann die  wirtschaftliche Reproduktion in den Vordergrund. In Phase 4, der Extraktion kippt das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit. Schliesslich der Niedergang – das öffentliche Interesse lässt nach, dennoch wird oft noch eine Rente erwirtschaftet.  Kaum jemand weiss, dass etwa MySpace und Second Life immer noch existieren. Andere, wie Ebay scheinen dauerhaft konsolidiert.

Soweit die zentralen Aussagen zur Plattformmacht, skizziert. Seemanns Arbeit berührt eine ganze Reihe weiterer Themenfelder, die Diskussionen anstossen können, etwa eine politische Ökonomie der Plattform. Oder zur Creators Economy als einer evtl.  erstrebenswerten Perspektive.
Es gibt auch Material zur boomenden Zukunftsdiskussion in Form von Zehn Prognosen (352ff).   Ob sich dabei bereits ein Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie (368 ff) ankündigt, ist eine gewagte These.  Ganz sicher verlieren die grossen, prägenden  Organisationen einer Massengesellschaft, darunter die Volksparteien,  massiv an Einfluss – Vergemeinschaftung und Interessenorganisation verlaufen oft in Mustern von Consozialität.
Die Wechselwirkung von Technologie und Gesellschaft wird angesprochen.  Seemann vertritt das Konzept der Affordanz, das meint den Angebotscharakter eines Objektes – anderswo taucht der Begriff Technogenese auf, der die parallele Entwicklung technischer und gesellschaftlicher Entwicklung betont.

War es Zufall, dass die Plattformisierung ausgerechnet von der Musikbranche ihren Ausgang nahm? Zum einen ist Musik (auf Tonträgern) zwar an ein Trägermedium gebunden, sie liess sich aber schon immer mit mehr oder weniger Aufwand  kopieren. Dazu war die Gründer- und Aufbaugeneration des Internet mit Popmusik bzw. Popkultur aufgewachsen und sozialisiert. Pop war Medium von Vergemeinschaftung und Distinktion und oft Gradmesser von  Coolness – ein sozialer Graph par excellence.

Obgleich Dissertation wirkt das Buch und sein Duktus kaum innerakademisch. Klassischer theoretischer Bezug ist das Konzept der Kontrollgesellschaft von Gilles Deleuze.  Ansonsten überwiegen in den Literaturverweisen  aktuelle Quellen bis zum Jahre 2020 – der Text ist also nicht beim zunächst vorgesehenen Erscheinungstermin stehen geblieben 😉
Die Argumentation folgt der eigenen Perspektive und spiegelt selbsterlebte Zeitgeschichte. Die Motivation, der Antrieb dazu ist gleich zu Beginn genannt:  “Diese Mechanismen sind so radikal anders als die Welt, in der ich aufgewachsen bin, dass ich alles darüber wissen muss.” Manchmal hat man etwas den Endruck, es gehe um soziale Physik.  Beim Lesen kommt man nicht aus dem Anstreichen heraus … ein wichtiges Buch.

Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten,  Berlin, Ch. Links Verlag 2021; 448    S. – auf Youtube: Napster, iTunes, Spotify und die Plattformisierung der Welt – Podcast bei Future  Histories 30.05.2021
*Jean-Charles Rochet, Jean Tirole, Platform Competition in Two-Sided Markets, Journal of the European Economic Association, Volume 1, Issue 4, 1 June 2003, Pages 990–1029,
**A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



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