Platform Socialism (Rez.)

Whoever controls the platforms controls the future. The simple proposal of this book is that should  be us (10). Us/Wir – ist gemeint als kollektive Selbstbestimmung. James Muldoon (Exeter, GB) entwirft Wege zu einer Demokratisierung der digitalen Infrastruktur, jenseits von  Big Tech oder Big State von der  lokalen bis hin  zur globalen Ebene.
Die ersten Kapitel sind eher eine Bestandsaufnahme des Status Quo und wie es dazu kam, in der zweiten Hälfte geht es um  die Ausformung von  Alternativen und die Vorstellung einer wünschenswerten digitalen Zukunft.

Der Titel Platform Socialism knüpft an Nick Srniceks Essayband Platform Capitalism (2016) an, der den Aufstieg der Plattformökonomie in  einen breiteren wirtschaftsgeschichtlichen Kontext gestellt hatte und das in kompakter Form vermittelte.  Die Transformationen zur Plattformökonomie sind Folge langfristiger Trends, Ergebnis eines intensiven Wettbewerbs von Unternehmen, die nach neuen Einnahmequellen suchen. Online-Aktivitäten konnten verfolgt und monetarisiert werden – ein Geschäftsmodell, das eingeführt wurde, bevor es als solches verstanden wurde (40). Weiterer Effekt ist die zunehmende Ökonomisierung gesellschaftlicher Beziehungen und Lebensbereiche.
Muldoon und Srnicek sind beide im selben Autonomy Think Tank  aktiv. Selbstbezeichnung: We develop projects, programs and proposals that support new forms of work and leisure, designing radical and pragmatic visions for the future –  an anderer Stelle: Our aim is to develop a policy agenda for this new era that moves beyond nostalgia and an outdated playbook of economic and social categories.

Auch zu Shoshana  ZuboffÜberwachungskapitalismus (2018) nimmt Muldoon Bezug, setzt sich aber deutlich von ihr ab. Zuboffs umfangreiche Kritik richtete sich v.a. gegen Google und Facebook und deren Geschäftsmodelle – freie digitale Dienste gegen die Sammlung und Verwertung von Nutzerdaten – die Abschöpfung des Verhaltensüberschusses. Gegenüber diesem Surveillance/ Überwachungs- Kapitalismus steht bei Zuboff ein advocacy- oriented Kapitalismus mit gegenseitigen Rechten und Pflichten als Gegenbild. Apple kommt dem am nächsten.
Letztlich richte sich Zuboffs Kritik allein auf werbefinanzierte Plattformen, was nach Muldoon zu der Illusion führe, es gäbe einen wünschenswerten Zustand, zu dem man zurückkehren könne.

Plattformunternehmen streben danach, Ecosysteme miteinander verbundener Dienste und Produkte zu errichten, die im Verbund Gewinn erwirtschaften:  The global platform wants to own the club, the stadium, the league and the franchise rights for advertisers (12).
Facebook (Monetising Community, 26ff) und  Airbnb (Community washing Big Tech, 43ff) – ist jeweils ein ganzes Kapitel gewidmet. Beide  werden als Meister des Community- Washing (analog zu Greenwashing) bezeichnet: sie pflegen Narrative des  Community- Building, vom Connecting the entire world zur Konstruktion von Zugehörigkeit – Belonging:  ‘It’s not enough to simply connect the world, we must also work to bring the world closer together (27). Airbnb präsentierte sich anfangs als eine Art Graswurzelbewegung von Micro- Entrepreneuren, längerfristig wirkt es invasiv in urbanen Umgebungen.
Der Text ist aktuell genug, dass Facebooks Metaverse Engagement zumindest Eingang findet. World Building (12) bekommt hier eine noch pointiertere Bedeutung für den Griff nach einem Raum ausgedehnter immersiver Erfahrungen. Physische und virtuelle Welten sollen mit einer voll funktionsfähigen Wirtschaft und der Möglichkeit der nahtlosen Übertragung von Inhalten zwischen verschiedenen Erfahrungen verschmelzen.: the Metaverse will be a place in which proper empires are invested in and built, and where these richly capitalized businesses can fully own a customer, control APIs/data, unit economics, etc.  (13)**

Take Back Control (über digitale Dienste und öffentliche Räume) – der britische Slogan zum Brexit – wäre ein anderer möglicher Titel des Buches.  Am Begriff Plattformsozialismus mögen sich manche stören, genau wie an Planwirtschaft, – zu sehr wurde Sozialismus immer wieder für weit auseinanderliegende Gesellschaftsentwürfe benutzt. In Platform Socialism geht es um ethischere, fairere Formen von Plattformen, um eine Idee und einen Prozess, generell ein Langzeit- Gegen- Hegemonielles ProjektEs geht um Alternativen jenseits privatwirtschaftlicher Oligarchien – BigTech –  und ausufernder staatlicher Bürokratien – BigState, generell jenseits von top-down. Muldoon greift einige fast vergessene Autoren der Zwischenkriegszeit, G.D.H Cole (Guild Socialism) und Otto Neurath auf (80ff), und überträgt ihre politischen und ökonomischen Modelle auf die Welt der digitalen Plattformen. Demokratische Plattformen sollen nach dem Subsidiaritätsprinzip funktionieren. Ein pluralistischer Ansatz auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene.
Sechs bedeutende Ziele werden genannt und beschrieben, es geht u.a. darum aktive Selbstverwaltung zu ermöglichen, um gleichere Verteilung des sozialen und ökonomischen Nutzens digitaler Technologien, Möglichkeiten und Vorteile der Technologien sollen weltweit zugänglich sein und emanzipatorische Prozesse gestützt werden. Die Ziele sind verwurzelt in Formen kommunaler Selbstverwaltung, wie in der Praxis von Bewegungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen, in  Dekolonisationsprozessen. Dahinter steht die Überzeugung, dass gesellschaftlicher Wohlstand auch gesellschaftlich produziert wird. Im Kapitel Building Civic Platforms (101-118) geht Muldoon weiter ins Detail.

Geht es um Demokratisierung der Plattformen, taucht eine Frage mit Sicherheit auf:  Developing a Public Search Engine (124 ff). Eine solche ist unabdingbar für eines der zentralen Elemente aller mit dem Internet verbundenen Utopien – dem freien Zugang zum kollektiven Wissen der Menschheit. Wie soll eine öffentlich Suchmaschine geschaffen werden? Eine Software in öffentlichem Auftrag würde sich einreihen in den Marktanteil der Sonstigen, neben Ecosia oder DuckDuckGo. Googles hegemoniale Stellung steht weiterhin auf festem Boden, der  Marktanteil bei 94%. Diskutiert wird die Umwandlung in ein gemeinnütziges Unternehmen. Mehr im Kapitel Global Digital Services, 119-136.

Bisher ging es in Debatten zur Plattformökonomie oft um die Freiheit von etwas – davon, nicht überwacht zu werden (vgl. Zuboff), bei Muldoon geht es um das Recoding our Digital Future – die Gestaltung von Zukunft, in der digitale Plattformen weiterhin eine massgebliche Rolle spielen werden. Ein nachhaltiger Wandel  der Plattformökonomie ist nur mit einer fundamentalen Verschiebung der Machtbalance zwischen Eignern und Nutzern möglich.
Gefragt ist die Weiterentwicklung konkreter Utopien. Irgendwo bin ich auf den schönen Begriff des Ökonomischen Science Fiction  gestossen – der Aufbau von Digitaler Demokratie mit neuen Formen sozialen Eigentums. Es geht auch um Gegenpole zu mächtigen Kapitalinteressen und zu einem Begriff von libertär, der zu einer Vorstellung schrankenlosen Freiheit von Investoren verkommen ist. Platform Socialism – wie ich es verstanden habe – bedeutet hingegen eine kollektive Anstrengung zur Selbstbestimmung – dazu gehört die Vorstellung möglicher Zukünfte – to  imagine possible futures– die nicht von hegemonialen Strukturen bestimmt ist.
Das Buch ist übersichtlich und kompakt geschrieben (156 S.) Es ergänzt sich mit  Die Macht der Plattformen von Michael Seemann, in dem die Landnahme (bzw. Graphname) der Plattformen detailreich erklärt wird. Das Stichwort DAO – Decentralized autonomous organization –  kommt zwar nicht vor, Platform Socialism liefert aber das in diesem Feld grundlegende politische und gesellschaftliche Verständnis.
Apropos Brexit: Buchbestellungen aus Grossbritannien sind umständlich geworden – Dauer etwa 4 – 6 Wochen, Zollabgaben sind harmlos,  ärgerlich aber die vom Auslieferer erhobene Auslagenpauschale.


James Muldoon: Platform Socialism. How to Reclaim our Digital Future from Big Tech. Pluto press, London 2022.  Nick Srnicek: Platform Capitalism, Polity Press, Malden Mass. 2017, 171 S.  . Jan Gross:  Podcast Future Histories – James Muldoon on Platform Socalism. 9.01. 2022  – FAANGM = Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google, Microsoft. **  Matthew Ball, ‘The Metaverse: What It Is, Where to Find It, Who Will Build It, and Fortnite’  2020.

 



Die Neuerfindung des Unternehmertums (Rez.)

Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution (2021) Themen, die in den Zukunftsdiskussionen eine zentrale Rolle spielen der lange Titel ist bereits eine kurze Inhaltsangabe. Auf das Buch  wurde ich durch einen Livetalk aufmerksam – und es ist das erste aus den Wirtschaftswissenschaften, das ich hier bespreche.
Reinhard Pfriem, emeritierter Prof. der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Oldenburg,   Mitbegründer (1985) des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung,  ist seit langem mit dem Themenfeld befasst – das Buch ist sein Opus Magnus und lässt sich durchaus als Zusammenfassung seines Lebenswerkes lesen. Es  geht um die zukunftsfähige Neuverbindung von Ökonomie und Politik, um unternehmerische Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Gleich zu Beginn knüpft Pfriem an die Great Transformation von Karl Polanyi (21) an – und setzt damit  einen Rahmen. Great Transformation bedeutete letztlich Industrialisierung, Marktwirtschaft und grenzenlose Wachstumsökonomie als gesellschaftliche Organisationsprinzipien. Vor dem Hintergrund ökologischer Risiken und Katastrophen, sozialer Verwerfungen und ökonomischer Krisen stellt sich die Frage nach einer lebenswerten Zukunft,  einem guten Leben für alle, neu.
Pfriem geht es um eine Transformation vergleichbaren  Ausmasses, bei der ausgerechnet Unternehmen als wichtigste Organisationskörper moderner kapitalistischer Gesellschaften (21) eine besondere Rolle zukommt. Vom Unternehmertum gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen, klassisch ist die des mittelständischen Eigentümers, neuerdings auch die der oft wie Popstars gefeierten Entrepreneure. Pfriem hält sich wenig mit diesen Ausformungen auf, er fasst zehn Merkmale und Wissensdimensionen transformativer Unternehmen  (281 ff) zusammen.
Übergreifendes Postulat ist Enabling, das Möglichmachen – die Gestaltung von Gesellschaft durch unternehmerisches Handeln.  Bereits vor einigen Jahren hatte Pfriem den Begriff der Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft in die Welt gesetzt. In diesem Kontext sind Transformative Unternehmen Akteure des Wandels, einer Systemwende zu gemeinschaftsorientierten Formen des Wirtschaftens.   Das Teilsystem Wirtschaft ist dominant. Eine derart von ökonomischen Kalkülen bestimmte Gesellschaft ist nur transformierbar, wenn die Ökonomie transformiert wird.
Die einzelnen Themenfelder werden in 15 übersichtlich angelegten Kapiteln behandelt. Es geht um transformative Unternehmen, Nachhaltigkeit, solidarische Ökonomie, radikale Demokratie, bis zum Entwurf einer  Neuausrichtung der Wirtschaftswissenshcaften und als Ziellinie die Bausteine einer zukunftsfähigen Politik (415 ff). Darunter finden sich so oft diskutierte Themen wie  Mobilitäts, – Energie-  und Ernährungswende und ein Kurswechsel auf soziale Gerechtigkeit.

Zentral ist die Kritik an den aktuellen Wirtschaftswissenschaften, an ihrer  Herauslösung aus gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere einer Mathematisierung der BWL. Pfriem bezeichnet die BWL, immerhin sein eigenes Fach,  als implizite Rechtfertigungswissenschaft kapitalistischer Marktwirtschaften (128). Gegenentwurf ist eine Transformative Wirtschaftswissenschaft (369 ff), die den bestehenden Mainstream der Wirtschaftswissenschaften, der auf subjektunabhängige Objektivität, Identifikation von Gesetzmässigkeiten und Messbarkeit/Quantifizierbarkeit zielt (370; vgl. Pfriem 2000), ablöst, zumindest ergänzt: Eine Handlungswissenschaft, die Beiträge zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leistet, Zukunft für die Menschen zu einem erstrebenswerten Projekt macht.   

Genau wie die zeitgenössische BWL steht  auch die aktuelle Soziologie, der er eine Ökonomievergessenheit attestiert, in der Kritik. Im Kapitel Gesellschaftstheoretische Sackgassen werden soziologische Autoren der letzten Jahre, das waren v.a. Hartmut Rosa mit dem Konzept der Resonanz  und Andreas Reckwitz mit der Gesellschaft der Singularitäten, auf ihr Potential abgeklopft. Beide Bücher hatte ich hier im Blog rezensiert (Rez. Rosa; Rez. Reckwitz).  So sinnvoll und eingängig das Konzept Resonanz grundsätzlich erscheint, so wenig überzeugt es als Grundlage einer Gesellschafttstheorie. Reckwitz stellt den im Konsum differenzierten singularistischen Lebensstil der Neuen Mittelschichten in den Vordergrund – Pfriem nennt es eine  Engführung – und vernachlässigt gesellschaftliche Ungleichheiten.  Allenfalls in später veröffentlichten Aufsätzen relativiert er eine an Konsumstilen ausgerichtete gesellschaftliche Schichtung.  Nebenbei: unter dem Titel Spätmoderne in der Krise: Was leistet die Gesellschaftstheorie? erscheint im Oktober ein von beiden Autoren gemeinsam verfasstes Buch, dazu hier dann mehr.
Weiteres Feld der Auseinandersetzung ist Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007), dem er einen sehr einseitigen Blick auf das Unternehmertum – allein ausgerichtet auf Markterfolg – vorhält. 

Polanyi ist epochaler Bezugsrahmen,  die Analysen von Thomas Piketty zu Ungleichheit und der Vertiefung der Spaltung zwischen arm und reich werden herangezogen. Auf Schumpeter geht der Blick auf die Rolle des Unternehmers incl. der Erkenntnis, dass unternehmerischer Erfolg und gesellschaftliches Wohlergehen auseinander treten können, zurück. Mit deutlicher Sympathie  verweist Pfriem auf Frithjof Bergmanns Neue Arbeit, Neue Kultur: die wunderbare Formulierung “was sie wirklich, wirklich wollen” (57). Etwas wundert mich, dass die in den letzten Jahren oft  diskutierten Arbeiten von Maja Goepel,  die sich ebenso mit einer Transformativen Ökonomie befassen, nirgends  erwähnt werden.

Die Neuerfindung  des Unternehmertums ist ein programmatisches, oft erstaunlich radikal- utopisch, nicht durchgehend analytisch gehaltenes Buch – der Autor nennt es selber eher wissenschaftlich gehalten. Er setzt sich mit bestehenden Wissenschafts- bzw. Gedankengebäuden auseinander um einer Handlungswissenschaft zur Gestaltbarkeit von Zukunft den Weg zu bereiten. Weitere Umsetzung ist stark von einer Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft (444) bestimmt.  Und manches scheint, dass jetzt der Zeitpunkt dazu ist.
481 Seiten sind per se eine Menge Material, die wahrscheinlich selten in einem Durchgang gelesen werden. Man kann das Buch als ein Compendium, eine Art Handbuch zu einer Transformativen Wirtschaftswissenschaft sehen und nutzen. Ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden der  Themenstränge, macht sie den laufenden Zukunftsdiskussionen zugänglich.

Zum Schluss der Gedanke der  Co- Evolution von Wissenschaft und Gesellschaft (könnte man das etwa Scientogenese nennen?), der ganz sicher an das Konzept Technogenese erinnert.  In den Gesellschaftswissenschaften lassen sich immer Phasen und Epochen finden, in denen  Forschungsfragen einmal eingefahrenen Mustern folgen. Hier ist ein Werk, das neue Wege beschreite will – dem kann man zustimmen bzw. sich damit auseinandersetzen.

Den Titel  des Einbands ziert übrigens ein Werk von Otto Freundlich (1878-1943), ein zu unrecht weniger bekannter Pionier abstrakter Malerei, der wie so viele andere von den Nazis ermordet wurde.

Reinhard Pfriem: Die Neuerfindung des Unternehmertums  – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution – 2021. 481 S.  Metropolis Verlag, 38 € –  Livestream- Interview mit Reinhard Pfriem  vom 28.07.2021



Die Macht der Plattformen (Rezension)

Eine Plattform ist ein Geschäftsmodell, das zwei (oder mehr) unterschiedliche Interessengruppen zusammenbringt, wie auf einem Markt. Nur wird dieser durch ein Unternehmen kontrolliert, das auch seine Strukturen vorgibt”* (24).

Die Macht der Plattformen ist als  (vorläufige) Plattformtheorie zu verstehen.  Vorläufig deshalb, da Plattformen längst keine abschliessend zu definierenden Gebilde sind. Sie sind im ständigen Wandel, somit politisch offen, gestaltbar (352). So wie wir sie heute kennen, sind sie in den beiden letzten Jahrzehnten gewachsen – weder beliebig noch zwangsläufig.
Das Buch war ursprünglich für Mai 2020 angekündigt, passend zur re:publica.  Grund für die Verspätung ist wohl die gleichzeitige Abgabe als Dissertation.

Im ersten Buch von Michael Seemann (@mspro) “Das neue Spiel – Strategie für die Welt nach dem digitalen  Kontrollverlust ” (2014)  ging es um neue Spielregeln für die Zeit danach. Kontrollverlust bedeutet, dass sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen. Niemand ist mehr Herr seiner eigenen Daten und das betrifft  alle Formen der Informationskontrolle.
Die folgende These zum Neuen Spiel lässt sich ohne weiteres einer Besprechung des vorliegenden voranstellen: Im Neuen Spiel treten Plattformen als neue, machtvolle Akteure auf den Plan. Sie bilden die Infrastruktur der kommenden Gesellschaft. Wer in Zukunft Politik machen will, muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Es begann mit Napster – ein Erweckungserlebnis, auf das im ganzen Buch hindurch immer wieder Bezug genommen wird. Das frühe Internet war von der Vision getrieben, Wissen und Information frei zugänglich zu machen, incl. Musik, Software.  Eine Diensteplattform für Musik- Nerds hebelte eine ganze Branche aus und führte zur  Disruption der Musikwirtschaft,  die  ein neues Paradigma des Wirtschaftens erzwang (277/78). Napster hatte die Kenntnis über die Verbindungen – wer sich für welche Musik interessiert, darüber verfügt und wer sie teilt (145). War Napster Datenpiraterie, war iTunes die folgende Legalisierung. Spotify u.a. folgten – und ist Gegenstand einer umfangreichen Plattformanalyse (340-352) – die Musikindustrie hatte aber inzwischen gelernt.

Der Untertitel Politik in Zeiten der Internetgiganten führt ein wenig auf die falsche Spur – lässt einen weiteren mahnenden Text vor der Macht der GAFAM- Giganten erwarten. Den Datensammel- und Überwachungsaspekt hält Seemann für überbewertet (404). Darum geht es zwar auch, vorrangiges Thema sind aber die grundsätzlichen Machtquellen, die Plattformen aus ihrer Funktionsweise erwachsen.  Netzwerkmacht ist hegemoniale Macht dessen, der Standardisierungen durchsetzen kann.
Plattformmacht beruht nach Seemann dazu auf Hebeln der Kontrolle, er nennt sie Kontrollregimes, insgesamt sechs.   Als erstes das Zugangsregime, in etwa ein Hausrecht, mit dem Zugang gewährt und verwehrt wird.  Im weiteren das  Query- Regime  als Instrument der Datenabfrage, eine Vorselektion potentieller Verbindungen mit erheblichen Möglichkeiten von Einflussnahme und Kontrolle.

Social Graph. Quelle:  mburpee/flickr.com

Eigentliches Machtzentrum ist – er nennt  es so  – das  Graphregime, dessen Name sich von Social Graph ableitet: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related“**.  Soziale Graphen kann man sich wie Territorien vorstellen – deren Einnahme im  Plattformkapitalismus Unternehmensziel wird. Graphname klingt wie Landnahme, und bedeutet auch die Einnahme eines  bereits existierenden Beziehungsnetzwerkes oder Interaktionszusammenhanges – Amazons Graphname war etwa zunächst der (Online-) Buchhandel, Facebooks die Campi von Universitäten. Beide wären nicht erfolgreich, hätten viele der Bedürfnisse nicht bereits existiert. Gefestigte Graphnamen bedeuten gefestigte Machtquellen: Facebook hat (incl. instagram und What’s App) ein Graphmonopol der sozialen Verbindungen, Google hat den Interest Graph, Amazon den Consumption Graph, Apple und Google teilen sich den Mobilfunkgraph (159). Das Wissen über die Verbindungen ist Machtfaktor.

Die Graphname ist auch die erste Phase im Lebenszyklus von Plattformen, der Keim, aus dem alles erwächst.  Es folgen Wachstum und Konsolidierung. Wachstum erfordert maximale Offenheit- man will die Welt erobern und verbessern – Don’t be evil fällt in diese Phase.  Konsolidierung stellt dann die  wirtschaftliche Reproduktion in den Vordergrund. In Phase 4, der Extraktion kippt das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit. Schliesslich der Niedergang – das öffentliche Interesse lässt nach, dennoch wird oft noch eine Rente erwirtschaftet.  Kaum jemand weiss, dass etwa MySpace und Second Life immer noch existieren. Andere, wie Ebay scheinen dauerhaft konsolidiert.

Soweit die zentralen Aussagen zur Plattformmacht, skizziert. Seemanns Arbeit berührt eine ganze Reihe weiterer Themenfelder, die Diskussionen anstossen können, etwa eine politische Ökonomie der Plattform. Oder zur Creators Economy als einer evtl.  erstrebenswerten Perspektive.
Es gibt auch Material zur boomenden Zukunftsdiskussion in Form von Zehn Prognosen (352ff).   Ob sich dabei bereits ein Ende der staatlich organisierten repräsentativen Demokratie (368 ff) ankündigt, ist eine gewagte These.  Ganz sicher verlieren die grossen, prägenden  Organisationen einer Massengesellschaft, darunter die Volksparteien,  massiv an Einfluss – Vergemeinschaftung und Interessenorganisation verlaufen oft in Mustern von Consozialität.
Die Wechselwirkung von Technologie und Gesellschaft wird angesprochen.  Seemann vertritt das Konzept der Affordanz, das meint den Angebotscharakter eines Objektes – anderswo taucht der Begriff Technogenese auf, der die parallele Entwicklung technischer und gesellschaftlicher Entwicklung betont.

War es Zufall, dass die Plattformisierung ausgerechnet von der Musikbranche ihren Ausgang nahm? Zum einen ist Musik (auf Tonträgern) zwar an ein Trägermedium gebunden, sie liess sich aber schon immer mit mehr oder weniger Aufwand  kopieren. Dazu war die Gründer- und Aufbaugeneration des Internet mit Popmusik bzw. Popkultur aufgewachsen und sozialisiert. Pop war Medium von Vergemeinschaftung und Distinktion und oft Gradmesser von  Coolness – ein sozialer Graph par excellence.

Obgleich Dissertation wirkt das Buch und sein Duktus kaum innerakademisch. Klassischer theoretischer Bezug ist das Konzept der Kontrollgesellschaft von Gilles Deleuze.  Ansonsten überwiegen in den Literaturverweisen  aktuelle Quellen bis zum Jahre 2020 – der Text ist also nicht beim zunächst vorgesehenen Erscheinungstermin stehen geblieben 😉
Die Argumentation folgt der eigenen Perspektive und spiegelt selbsterlebte Zeitgeschichte. Die Motivation, der Antrieb dazu ist gleich zu Beginn genannt:  “Diese Mechanismen sind so radikal anders als die Welt, in der ich aufgewachsen bin, dass ich alles darüber wissen muss.” Manchmal hat man etwas den Endruck, es gehe um soziale Physik.  Beim Lesen kommt man nicht aus dem Anstreichen heraus … ein wichtiges Buch.

Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten,  Berlin, Ch. Links Verlag 2021; 448    S. – auf Youtube: Napster, iTunes, Spotify und die Plattformisierung der Welt – Podcast bei Future  Histories 30.05.2021
*Jean-Charles Rochet, Jean Tirole, Platform Competition in Two-Sided Markets, Journal of the European Economic Association, Volume 1, Issue 4, 1 June 2003, Pages 990–1029,
**A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



Netnography Unlimited – Understanding Technoculture (Rez.)

Nach nur etwas mehr als einem Jahr ein weiteres Update zu Netnographie? Erst im Herbst 2019 war mit Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research die dritte aktualisierte Ausgabe zur Methodik von Netnographie erschienen.
Der jetzt vorliegende Band Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research ist das Materialien- zum Methodenbuch. So  geht es um Anwendungsbeispiele von Netnographie, ein Sammelband mit 19 Beiträgen von 34 Autoren. Nicht nur aus den angelsächsischen Ländern, u. a. auch aus Asien, Lateinamerika, Spanien und Schweden.  Im Untertitel taucht bereits ein neuer zentraler Begriff auf – Technoculture-, der das Forschungsfeld von Netnographie absteckt. Technocultural Studies (9 ff.) klingt an Cultural Studies an,  „the whole way of life of a group of people“.

Herausgeber Kozinets sieht Netnographie als den methodischen Arm für dieses Forschungsfeld, das auch mal als Social Media Studies projektiert wird.
Ein Forschungs- und Wissensfeld, das sich durch Kommunikations- und Medienwissenschaft,  Marketing- und Konsumforschung, Computerwissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie zieht.  Das sich zudem oft durch rapide Wechsel und abrupte Brüche der Umgebungen auszeichnet.
Das Buch  ist nach fünf Anwendungsbereichen gegliedert, übertitelt jeweils mit Netnographymobilized/ territorialized/ industrialized/ humanized und /theorized.
Thematisch am weitesten gestreut sind die Beiträge unter Netnography territorialized: PR, Healthcare und Pflegebranche, Tourismus, politischer und sogar ein militärischer Kontext (zur Beruhigung: es geht nicht um militärischen Einsatz, sondern um Bedürfnisse von Militärangehörigen). Sie zeigen Möglichkeiten von Netnographie in ganz unterschiedlichen Kontexten auf. Healthcare und Pflegewesen, hier in einer Studie aus Schweden, sind ebenso von den Möglichkeiten von Information und Zusammenarbeit erfasst.
Tourismus zählt zu den Branchen, die über Jahre hinweg besonders von der Entwicklung des Web beeinflusst wurden. Reisen und das Erzählen davon haben von Beginn an das Social Web begleitet. Dazu die einfache Planbarkeit über unkomplizierte Buchungssysteme bis in weit entfernte Destinationen und einer Fülle von Tourismus- relevanten Apps und Websites.
Netnography in Tourism Beyond Web 2.0 handelt von der Evolution des Web vom statischen Web 1.0, über das social (2.0), mobile und semantic web (3.0) und weitere Zwischenstufen bis zu einem Web 5.0 – Web of Thought – und der parallelen Entwicklung der Interaktion im Tourismus.  Beachtenswert  ist die zweiseitige Übersicht (143/144) dazu, in der Möglichkeiten von Netnographie mit den Entwicklungsstufen des Web abgeglichen werden. Jede höhere Versionsnummer bedeutet mehr an Interaktionsmöglichkeiten. Ein Modell, das in Grundzügen ebenso für andere Felder gelten kann.  Die eher zukünftigen Projektionen wie ein Emotions- sensitives Web 5.0, das auf Gesichtsausdrücke reagiert, kann man skeptisch sehen. Ist ein Eintauchen in virtuelle Welten mehr als ein Gimmick?

Netnography Industrialized umfasst den Einsatz im kommerziellen Umfeld. Darunter fällt der einzige Beitrag aus dem deutschsprachigen Raum: Die Münchner Firma Hyve arbeitet seit 16 Jahren mit Netnography (immer in der engl. Schreibweise). Geschäftsfeld ist Produktentwicklung, Netnography wird dabei von einer möglichst frühen Stufe an  zur  Ableitung unverfälschter Consumer Insights  eingesetzt. Quellen waren und sind oft Bewertungsportale und thread- basierte Foren, wie sie seit dem frühen Internet bestehen. Basketballschuhe, der Thermomix, Pasta- Packungen, Produkte mit Zitrus- Aromen und Kreditkartennutzung – all das gehört zum Portfolio. Die Vorgehensweise ist über die Jahre in etwa gleich geblieben und ist in einem Sechs- Schritte Schema (154) übersichtlich dargestellt.

Der letzte Beitrag im Buch weckt mein besonderes Interesse: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital (Rossella Gambetti, Mailand) bringt Stränge zusammen, die mich seit langem interessieren: vernetzte Sozialität,  die Entwicklung eines Habitus nach Bourdieu und Elias und Netnographie als methodisches Werkzeug. Technokulturelles Kapital erweitert den Kapitalbegriff Bourdieus (kulturelles/soziales/symbolisches/ökonomisches Kapital) um eine neue Dimension. Kulturelles Kapital beruht nach Bourdieu v.a. auf Bildung + dem inkorporierten Wissen um ein soziales Beziehungsgeflecht. Technokulturelles Kapital meint einen “Set of embodied knowledges, skills competencies and dispositions”(295). Spontan fällt mir auch eine Art Netwise ein, parallel zum Begriff Streetwise, Wesentlich ist ein inkorporiertes Wissen um Wirkungsweisen in einem technologisch vermittelten sozialen Raum.
Digitaler Habitus zeigt sich in der Selbstdarstellung als Akt reflexiver Konstruktion eines vernetzten Selbst (von S. 295 übersetzt) in Verhalten, und Geschmack;  Bezugsrahmen ist eine zeitgenössische soziale Welt.
Mit der Verbreitung von Formaten wie Live- Streaming und Social Audio, in denen die Teilnehmer mit Gesicht und/bzw. Stimme vor Publikum auftreten, unterscheidet sich ein Digitaler Habitus allerdings immer weniger von anderen Auftritten in Öffentlichkeiten – entscheidend ist das Wissen um Wirkung bzw. Resonanz.

Netnography Unlimited – zurecht trägt das Buch diesen Titel. Die Beiträge decken methodisch und thematisch eine kaum eingeschränkte Bandbreite ab. Ein sehr materialreiches Buch, dass die vielfältigen Möglichkeiten von Netnographie aufzeigt – als eine Art qualitatives Gegenstück zu quantitativen BigData Analysen.
Das Netz wurde mittlerweile zu einem technokulturellen Ecosystem: global, gewichtig, dauerhaft zugänglich. Es schafft technisch vermittelte soziale Räume, deren Bedeutung als Öffentlichkeit spätestens mit der Corona- Krise unübersehbar ist.  Nutzer orientieren ihr Verhalten und ihre Kommunikation daran. Wie auch anders? Das Netz ist Vermittler und Schauplatz von Popularkulturen wie von Geschäftsleben und Marketingaktivitäten, Teil der Lebenswelt. Das rückt Netnographie in die Perspektive von Ansätzen, wie sie bereits länger bestehen: Consumer Culture, Cultural Studies, eine Soziologie der Öffentlichkeit, die Entwicklung des Habitus, die langfristige Entwicklung von Haltungen und Mentalitäten. Sicherlich kommt produktspezifische Kommunikation, wie sie Marktforscher suchen, oft genug vor – sie bleibt aber eine Nebenerscheinung.

 

Kozinets, Robert V. & Gambetti, Rossella: Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York   ISBN: 978-0-367-42565-4, 325 S., £ 42,99

vgl.: Netnography 3.Ed. (Rezension)
Netnographie 2015 – Rezension zu Netnography: Redifined
Netnography. Doing Ethnographic Research Online Standards zur Online- Feldforschung (Rezension)



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