Was treibt die Zukunft an?

Treibt technischer Fortschritt oder gesellschaftlicher Wandel die Zukunft an? Vorstellungen von Zukunft sind genauso dem Wandel unterworfen wie andere gesellschaftliche Strömungen auch. In der längsten Zeit über die Jahrtausendwende hinaus bis in die 2010er Jahre stand die Dynamik der Digitalisierung im Vordergrund. Immer wieder sah es so aus, als treibe die technische Entwicklung Wirtschaft und Gesellschaft vor sich her. Technik schuf neue soziale, mediale, v.a. ökonomisch nutzbare Möglichkeiten. SmartPhones bündeln mittlerweile derart viele Funktionen, dass ein Leben ohne sie erhebliche Einschränkungen (bis hin zum Covid- Zertifikat) bedeutet. Kommunikations- und Kulturtechniken, die man noch vor gar nicht so langer Zeit als Zukunftsfiktion verstanden hätte,  sind längst Alltag geworden – und das weltweit. Die Welt von heute ist nicht vorstellbar ohne die Verbreitung der digitalen Techniken.
Wissenschaft ist die Grundlage von technologischem Fortschritt (Godin, 2020), zumindest in der modernen Welt. Ebenso eine Gesellschaft, die ihn in ihre materielle Zivilisation einbindet. Letztlich setzen sich Techniken nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (vgl. Nassehi, 2019).

Manuel Castells(2001): Die Revolution der Informations-technologie und die Erneuerung des Kapitalismus begründeten die Netzwerkgesellschaft

Der digitale Aufbruch um die Jahrtausendwende war mit vielen Erwartungen und Vorstellungen von Zukunft verbunden.  Der Cyberspace war zunächst sphera incognita, ein Freiraum für Neues; Web 2.0 stand etwa für eine partizipatorische Netzkultur mit der konkreten Utopie  Wissen und Information für alle frei zugänglich zu machen. Zukunftsentwürfe einer fluiden  Demokratie, die in einer politischen Kultur der Offenheit und Partizipation wurzelt, wurden diskutiert – sie verschwanden aber wieder mit dem Ende der Piratenpartei.

Manuel Castells nannte in seinem drei-Bände-Werk Das Informationszeitalter (1996-98/dt. 2001) die technische Revolution der Informationstechnologie und die Erneuerung des Kapitalismus als Grundlagen der Netzwerkgesellschaft. Im damaligen Kontext bedeutete erneuerter Kapitalismus eine weitgehende Deregulierung der Märkte, v.a. der Finanzmärkte, die zum Rückgrat der Globalisierung wurden. Flexibilisierung auf vielen Ebenen, aber oft nur im Sinne von Kapitaleignern.  Ein Gegengewicht zur Globalisierung liegt in der Macht der Identität, die sich zum einen als offensive Bewegungen mit dem  Anspruch gesellschaftlicher und kultureller Umgestaltung, der Inanspruchnahme von Selbstbestimmung, wie etwa Feminismus und Umweltbewegung,  aber auch in reaktiver Form  im Namen von Nation, Religion, Familie oder Ethnizität zeigt.
Eine weitere Erneuerung bedeutete die Neubewertung von Eigenschaften wie Kreativität, Spontaneität, der Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, wie sie in Der Neue Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello, 1999/2003),  beschrieben wurde. Sich neu konstituierende Cluster einer Creative Class, die Bedeutung eines kulturellen Umfeldes, die Anziehungskraft von Umgebungen der Vielfalt, die   Einbeziehung des Concept of Cool in die Wertschöpfungsketten sind damit verbunden.

Von der Kalifornischen Ideologie ist öfters die Rede, auch wenn sie nicht eindeutig erscheint. Gemeint ist der Glaube an das emanzipatorische  Potential der Informationsgesellschaft, wie er in der Bay Area aus der  Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien des Silicon Valley seit den 80er Jahren entstand. Sicher waren San Francisco und die Bay Area immer wieder Ausgangspunkte  und Nährboden von Bewegungen mit globaler Ausstrahlung: Beatniks, Hippies, Gay Liberation, Ökotopia, dazu allerlei synkretistische Lebensstile. Die moderne Supermacht des Storytellings, Hollywood, sitzt ganz in der Nähe. Allen diesen Bewegungen ist durchaus ein libertärer Geist zu eigen  – im ursprünglichen Sinne der Befreiung von Fremdbestimmung und Freisetzung menschlicher Energien.  Das Burning Man Festival in der Wüste von Nevada gilt als ein Icon der kalifornischen Ideologie, der v.a. von Apple vermarktete Digital Lifestyle wurzelt darin, die Versionsbezeichnungen aus kalifornischer Topographie (Yosemite, Big Sur, Monterey) erinnern daran.
Aktuell bezeichnet libertär eine von jeglicher Einschränkung befreite Selbstverwirklichung von oligarchischen Investoren und Milliardären, wie sie etwa von Peter Thiel verkörpert wird.

Eine entscheidende Entwicklung  im weiteren Verlauf war etwa dann, als aus dem Web 2.0 Social Media wurde: der Durchmarsch der grossen Plattformen, manchmal als Landnahme bezeichnet. Michael Seemann hat in seinem Buch Die Macht der Plattformen  diese Einnahme als Graphname beschrieben, d.h. entlang sozialer Graphen, die man  sich wie Territorien vorstellen kann: Der Social Graph stellt Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – “the global mapping of everybody and how they’re related**. Die neue Infrastruktur der  Social Media Plattformen ist seitdem weitgehend in Corporate Hands.

Utopien siedeln sich zunehmend im realen Raum an

Das Thema Zukunft boomt seit einigen Jahren.  Zukunft wurde zu einer Art Überthema, in dem sich Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsdebatten bündeln. Aktuelle Leitbegriffe sind Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Gemeint ist die Krisenfestigkeit von Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften, und die Fähigkeit dauerhaft ohne weitere ökologische Belastung zu wirtschaften. Gegenüber früheren Zukunftsdiskussionen fällt auf, dass die aktuellen Debatten kaum von  diffusen, in die weite Zukunft gerichteten Utopien bestimmt sind. Sie sind meist sehr konkret: Es geht um neue Arbeitsformen, ob  unter dem  Label  New Work oder nicht,  um die Neugestaltung von Mobilität,  um nachhaltigen Konsum, Energieversorgung und  Ernährung.  Wohl nicht ganz zufällig hat die deutsche Ausgabe eines populären Buches zum Thema den Titel Utopien für Realisten (2016/2017). Man kann auch sagen, es geht um den sozialen Benefit der Digitalisierung.

Soweit eine Zusammenstellung, ein  Parcours durch die letzten beiden Jahrzehnte – der sich ganz sicher in der Fülle wie in den Details ausweiten und ausarbeiten lässt. Muster und Entwicklungen, eine Linie der Wechselwirkung von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel sind erkennbar. In der langfristigeren Entwicklung werden Gegenströmungen und Ausgleichsprozesse deutlich. Unsere Zivilisation entwickelt sich in diesen Ausgleichsprozessen.  Technogenese bedeutet eine Co- Evolution von Technik und Gesellschaft. Evolution ist generell keine beabsichtigte Entwicklung. Der Begriff stammt von dem französischen Medientheoretiker  Bernard Stiegler (✝2020) in Anlehnung an Anthropogenese.
Genauso offensichtlich klingt Technogenese  an die Konzepte Sozio– und Psychogenese bei Norbert Elias an. Geht es dort um langfristige Wandlungen von Gesellschafts – und Persönlichkeitsstrukturen,  um die Herausbildung eines Habitus, kann man Technogenese als Herausformung  der jeweils spezifischen technisch/ materiellen Zivilisation verstehen.
Erwähnt sei schliesslich noch das Konzept der Sprunginnovationen. Sprunginnovationen sind solche Innovationen, die eine radikale technologische Neuerung beinhalten. Sie haben das Potenzial, bislang bekannte Techniken und Dienstleistungen bahnbrechend zu verändern und zu ersetzen.

Soweit einige Gedanken, die ich als Impulsbeitrag zur  zweiten  Staffel der Futures Lounge unter dem Motto “Was treibt die Zukunft an –  technischer Fortschritt oder Sozialer Wandel” zusammengetragen habe.

vgl.: Manuel Castells: Das Informationszeitalter, 3 Bände, dt. Ausgabe 2001 – 2003 (Orig.The Information Age: Economy, Society, and Culture 1996 – 1998); Robert V. Kozinets & Gambetti, Rossella (Eds.): Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York.  Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaften, Kap. IX. Technik, S. 235 ff Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021  Werner Rammert. Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. 2006. Armin Nassehi: Muster \\\Theorie/// der Digitalen Gesellschaft., 9/ 2019.  Benoît Godin: The Invention of Technological Innovation: Languages, Discourses and Ideology in Historical Perspective (2020).  Rafael Laguna del Vera & Thomas Ramge: Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen. Econ- Verlag, 2021; vgl auch Innovation und Gesellschaft, Über den Prozess der Digitalisierung, Rutger Bregman: Utopien für Realisten, 2016, Orig. 2014; Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus  **A. Iskold, “Social Graph: Concepts and Issues,” ReadWriteWeb, September 12, 2007



Post Covid – Neue Horizonte oder Goldene Zwanziger?

Ein Jahr Corona- Krise, das heisst auch ein Jahr Zukunftsdiskussion mit (unbestimmter) Terminierung: Das Thema Post Covid spielt immer im Hintergrund und mischt sich mit den schon länger geführten Zukunftsdiskussionen.
Im Laufe der  Corona- Krise wurde Zukunft zum Buzzword. Ganz sicher bedeutet die Pandemie einen Einschnitt, der die Zeit in vor oder nach Corona trennt. Wirklich abzuschätzen sind die Folgen noch längst nicht, wirtschaftlich sind sie sehr ungleich verteilt – gesellschaftlich sind Corona und Lockdown aber auch kollektive Erfahrungen. Ein Neustart/Wandel sollte demnach einem neu ausgehandelten Konsens entsprechen.
Weit verbreitete Erwartung ist ein Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft, mit einer Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Dagegen stehen Auffassungen, die man in etwa mit einer Macht der Muster zusammenfassen kann. Die Beharrungskräfte einmal eingespielter, dominierender Muster bleiben – und der damit verbundene Lebensstil behält für viele seine Attraktivität. Nicht immer ist es eine Gegenposition, oft Skepsis gegenüber einer allzu zwangsläufig erscheinenden Entwicklung. Und es gibt  starke Positionen, denen v.a. daran liegt, Wirtschaft und Konsum so wie sie waren schnellstmöglich  wiederherzustellen. Frage ist, inwieweit die Corona- Krise tatsächlich einen Anstoss zum Strukturwandel gibt.

erwartete Veränderungen nach Corona: 73% erwarten Neue Horizonte; 4/2020 – Graphiken erscheinen nach Klick in neuem Fesnster

Neue Horizonte und Goldene Zwanziger sind bildhafte Bezeichnungen für Szenarien beiderseits der Scheidelinie von “traditioneller” und “transformierter Wirtschaft“, vgl. rechts auf der Landkarte der Zukunft (nach ScMI*). Goldene Zwanziger knüpft als Wortspiel an die Dekade vor 100 Jahren an. Neue Horizonte ist eines der vier Szenarien zu 2030 (vgl. hier), und passt m. E. besser als  “Neue globale Dynamik” zu einer  Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. In einer Aktualisierung im Frühjahr 2020 stimmten fast drei Viertel der in einem „Corona-Stresstest“ befragten Experten damit überein (vgl. hier).
Ähnlich  äusserte sich das Wien/Frankfurter Zukunftsinstitut und sprach von gesellschaftlichen Tiefenströmungen in Richtung Postwachstum, Wir-Kultur, Glokalisierung und Post-Individualisierung. Trends die bereits vor der Krise existierten, würden durch die kollektive Corona-Erfahrung von der Nische in den Mainstream katapultiert. Mehr oder weniger finden sich ähnliche Haltungen und Erwartungen in zahllosen Zukunftsdiskussionen.

Szenarien sind keine eindeutigen Beschreibungen, sondern machen mögliche Zukünfte sichtbar. »Denk-Werkzeuge«, die mögliche Zukunftsverläufe aufzeigen, so die Szenario- Spezialisten des  ScMI*. Big Pictures  von dem, was wir erwarten können, und sie sollen in sich widerspruchsfrei sein.
Goldene Zwanziger/Roaring Twenties ist eine schöne Metapher, knüpft an die kulturell attraktive Vorstellung einer Dekade, die zwischen den Katastrophen des 20. Jh. für einen kurzen Aufbruch stand und dabei Klassiker der Moderne (wie das Bauhaus) schuf. Aber gibt es mehr an Parallele als die Dekadenfolge? Die Katastrophe des 1. WK, die den 1920ern vorausging war ganz anderer Dimension, auch die damalige Spanische Grippe  lässt sich nur sehr bedingt mit Corona vergleichen. Als Szenario bedeutet Goldene Zwanziger einfach die möglichst schnelle und ungebrochene Rückkehr zum alten Normal incl. Mobilität und Konsum.
Die heutige Krise traf eine globalisierte Welt und ist seitdem durch die weitreichenden Folgen ihrer Eindämmung geprägt.  Sie wird oft mit einer Krise von Leitmodellen, die seit 30 Jahren mehr oder weniger dominieren, verbunden: Ein Unbehagen an der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, dem Vorrang des ökonomischen Erfolges in einer individualisierten Gesellschaft (vgl. Reckwitz, Das Ende der Illusionen, 2019). Sind die  Neuen Horizonte ein realistisches Ziel, Wunschvorstellung oder doch ein zu verfolgendes Leitbild, das sich eben immer nur in Teilen und Schüben umsetzt? Die Unterschiede zwischen den Szenarien sind letztlich graduell. Eine Rhetorik mit Werten der Nachhaltigkeit und Diversität ist weit verbreitet.
Gunnar Sohn, Live- Streamer zu Wirtschaftsthemen, zieht mittlerweile andere  Schlüsse und hat eine Diskussion dazu angeregt – selber hält er mittlerweile die Restauration des Vorhergehenden für wahrscheinlicher.

Anteil Home Office 20/21 Abb: Statista nach Hans-Böckler-Stiftung;  – nach Klick in neuem Fenster
Mobilitätsveränderung 2020 durch Corona. Abb.: Statista nach Statist. Bundesamt

Was wird von Veränderungen bleiben, die in der  Krise angestossen wurden? Home Office setzt den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitäts-aufkommens. Aber zunächst ist es Ersatz. Das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Die Möglichkeiten dezentraler Arbeit – Remote Office – werden nur angedeutet. Mittlerweile (2. Hälfte Febr.) unterscheidet sich das  Mobilitätsaufkommen nur wenig von der Zeit vor Corona.

Mobilitätswende ist eines der Kernstücke Neuer Horizonte. Die Wende vom Verbrenner- zum Elektromotor ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber bedeutet der Austausch des Antriebs bereits einen Neuen Horizont? Die Energiequelle verschiebt sich, der Raumbedarf von fahrendem und ruhendem Verkehr bleibt derselbe. Tesla ist der neue Benz – ein Statussymbol. Fahrradverkehr, auf der Nahstrecke unschlagbar, wird immer noch benachteiligt. Öffentliche Verkehrsmittel stehen während der Pandemie auf der Verliererseite, sind auf Dauer aber unverzichtbar. Gefragt sind intelligente Mobilitätskonzepte, die ein Leben ohne Auto attraktiv machen.
Einige Branchen standen im Laufe der Krise unter Beschuss: Massentierhaltung und Fleischindustrie sind seit langem aus ethischen, ökologischen und vielen anderen Gründe in der Kritik. Es ist eine Schlüsselbranche mit weitreichenden Verkettungen, zunehmend exportorientiert. Abgenommen hat der Fleischkonsum nur minimal, aber  dass sich scheinbar eingefleischte Konsumgewohnheiten langfristig ändern können, zeigt etwa der Rückgang des Bierumsatzes um ein Drittel von 1993 bis heute.
Tourismus findet derzeit nur eingeschränkt statt. Kreuzfahrtschiffe und Après- Ski im Wintertourismus waren zeitweise Spreading Events und sind seitdem komplett ausgefallen. Manches spricht dafür, dass sich die Attraktivität touristischer Formate verschiebt. Fernreisen sind und bleiben aber als grosse Erlebnisse eine attraktive Verlockung, ob arrangiert oder selbst organisiert. Der Tourismus, manchmal  Overtourismus, der Jahre vor Corona war bereits das Golden Age of Budget Tourism, auch dank der oft sehr einfachen digitalen Möglichkeiten von Planung und Buchung. Ganz sicher gibt es Nachholbedarf – ebenso wie bei den ganz elementaren Dingen des öffentlichen Lebens: Begegnung, Kultur, Gastronomie, Nachtleben, Sport. Nur menschlich. Tourismus bleibt eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen, entfernt sich aber immer mehr von der klassischen 2-3 Wochen Buchung, vermischt sich weiter mit dem Lebensstil und kann mit Remote- Arbeit Teil einer neuen Arbeitswelt sein.

Eine der kulturellen Formen von Digitalität ist Gemeinschaftlichkeit, s. Stalder: Kultur der Digitalität

Direkte Auswirkungen im Sinne Neuer Horizonte scheinen begrenzt zu sein. Bleiben die längerfristigen, die auf sich ändernden Haltungen beruhen.  Vieles wird sich zeigen, wenn sichtbar wird, wie sehr Kultur, Gastronomie und die bestehenden Nischen der Solo- Selbständigen geschädigt sind. Gerade diese Bereiche sind eng mit urbanen, gesellschaftlichen Infrastrukturen verbunden. Viele werden gezwungen sein, sich neu zu strukturieren.
Zu den Möglichkeiten einer Kultur der Digitalität zählen  Formen von Gemeinschaftlichkeit, wie sie in  Konzepten von Community of Practice deutlich werden:  informeller, aber strukturierter Austausch, gerichtet auf neue Wissens- und Handlungsmöglichkeiten (vgl. Stalder 129 – 164). Entsprechend intelligenter, ressourcenschonender Lösungen vernetzter Mobilität, ein Modell von Sozialität und Arbeit. Neue Horizonte sind untrennbar von digitalen Innovationen.  Sie sind keine Selbstläufer, sie bedürfen Einsatz, sie müssen  gelebt,  politisch und diskursiv weitergetrieben werden. Die grossen Systeme entwickeln ihre Sachzwänge, die sich weitreichend auswirken. Technologie ist nicht allein fortschrittstreibend, aber Werkzeug  zur Umsetzung von  Perspektiven.

Schliessen möchte ich mit dem (schon mehrfach zitierten) Satz von Harald Welzer “Ohne positives Narrativ und die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, der diese herbeiführen könnte”.

Der Link zur Diskussion:  Goldene Zwanziger oder Neue Horizonte?

Vgl.: Post- Corona – Szenarien für die Zeit danachCorona-Stresstest-Pressemitteilung.pdf Ökonom Schulmeister: “Das Schlimmste kommt erst“. Wiener Zeitung , 25.02.21 . *ScMI: Post Corona Szenarien. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, edition suhrkamp 2679, 2016; Rezension *ScMI = Scenario Management International, Paderborn



Gesellschaft 4.0 ?- Networked Economy und Networked Sociality

Gesellschaft 4.0 ist ein etwas seltsamer Begriff, der sich einreiht in die Serie von 4.0 Begriffen (Arbeit, Technologie, Wirtschaft, PolitikGesundheit), die alle auf Industrie 4.0 zurückgehen. Industrie 4.0 verweist auf automatisierte Digitalisierung als vierter industrieller Revolution – nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung. 4.0 steht für das von Ministerien, Unternehmen, Verbänden etc. getragene Zukunftsprojekt für eine vernetzte Produktion und Wirtschaft.
Fasst man es knapp, ist Industrie 4.0 eine Zielvorstellung bzw. Vision Digitaler Transformation. Zunächst geht es dabei um die Sicherung Deutschlands als führendem Produktionsstandort. Die Spitzenstellung v.a. in Anlagenbau und Produktionstechnik soll gesichert und ausgebaut werden. Intelligente und flexible Produktion – Smart Factories – soll die Potentiale automatisierter Fertigung und Logistik, das Internet der Dinge für individuell angepasste Produkte nutzen – Networked Economy.

Erwerbsarbeit bedarf einer neuen Definition Bildnachweis: kallejipp / photocase.de

Wenn die Produktion von Gütern, die Ausführung von Dienstleistungen und ihre Organisation sich grundsätzlich verändert, dann gilt das auch für die Arbeit und ihre Organisation. Automatisierung bedeutet den Wegfall von Arbeitsplätzen bei gleichzeitig erhöhter Wertschöpfung – das macht Arbeit 4.0 zu einer Verteilungsfrage. Das Verständnis von Erwerbsarbeit bedarf einer neuen Definition.
Das Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hat ein umfangreiches Weißbuch Arbeiten 4.0 dazu herausgegeben.
Ausführungen zu Gesellschaft 4.0 fallen in der 4.0 Debatte bisher dünn aus. Für sich allein genommen macht der Begriff wenig Sinn. Die Versionsnummer ist einer anderen Zählweise entlehnt, was wäre etwa Gesellschaft 2.0 gewesen? Die Ableitung von Industrie 4.0 bringt zudem den Beigeschmack mit, den Erfordernissen der produzierenden Wirtschaft nachgeordnet zu sein.
Gesellschaftliche Prozesse sind interdependent mit wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen verflochten, nicht nachfolgend als Gegenstand von Folgeeinschätzungen. Gesellschaften werden wesentlich über Aushandlungsprozesse zusammengehalten – über das, was schön ist oder als solches gilt, was recht ist, welches Maß an Ungleichheit akzeptiert wird, welches Verhalten, welcher Lebenswandel angemessen erscheint – letztlich dem, was eine Kultur, eine Zivilisation ausmacht.

Networked Sociality

„Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich“ – diesen Satz von Manuel Castells zur transformativen Kraft von Netzwerken aus „Die Netzwerkgesellschaft“ (2001, S. 527) kann man über fast alle Ausführungen zum Digitalem Wandel stellen.
Prinzipien wie Konnektivität (die Möglichkeit der Verbindung zwischen allen Beteiligten bzw. items in einem Netzwerk) finden sich in sozialen wie in technischen Zusammenhängen. Automatisierte Personalisierung (die Möglichkeit „maßgeschneiderter“ Anpassung), wie sie für Industrie 4.0 zentral ist, finden wir im Marketing, Gesellschaft der Massenmedien zu einer der personalisierter Medien und überall dort, wo Matchingergebnisse angestrebt werden.
Die Prinzipien von Organisiertheit haben sich verschoben: an die Stelle von Versäulungen, den traditionellen meist orts-, und oft konfessions-, gewerkschafts- oder parteigebundenen Organisationen treten individualisierte Vergemeinschaftungen – Networked Sociality. Das Bild der Granularen Gesellschaft von Christoph Kucklick kommt dem nahe. Ebenso passt das auf Norbert Elias zurückgehende Konzept der Figurationen zu den sich immer neu arrangierenden Konstellationen – bzw. Digitalen Figurationen.
Wenn es eine erstrebenswerte Vision einer “Gesellschaft 4.0” gibt, dann ist es die digital vernetzte Zivilgesellschaft – oder eben einer Digitalen Zivilisation.

 

 




New Work und Flexibilisierung

flexibel und agil

New Work ist Buzzword geworden – als eigener Begriff und unter der etwas seltsam konstruierten, von Industrie 4.0 abgeleiteten Bezeichnung Arbeit 4.0. Letztere v.a. im Umfeld staatlicher Stellen (so das Weißbuch Arbeiten 4.0  des Ministeriums für Arbeit und Soziales).
Als Begriff geht New Work auf den deutsch-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann zurück. In dessen Verständnis von Arbeit stehen drei Formen gleichrangig nebeneinander: die klassische Erwerbsarbeit, eine modernisierte Subsistenzwirtschaft (so High-Tech-Self-Providing) und die leidenschaftliche Arbeit, die man wirklich, wirklich tun will – in Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen, Hoffnungen, Träumen und Begabungen.
Soweit ein Ansatz zur Lebensreform, der sich mehr an Menschen richtet, die für sich selber entscheiden, als an Entscheider, die dies für andere tun. Es geht um den Anspruch, die eigene Lebenswirklichkeit selber zu gestalten oder zumindest eine  persönliche Balance abzusichern. Die aktuelle Diskussion zu New Work findet hingegen im Kontext von Personalführung und Organisationsentwicklung statt – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: der von Unternehmen und Organisationen, der von Beratern, von staatlichen Stellen und den ganz individuellen Sichtweisen.
So ist New Work in der begrifflichen Verwendung sehr weitgespannt,  fast überdehnt. Wo eine Grenze bzw. ein Übergang zwischen Neuer und dementsprechend Alter Arbeit liegt, bleibt weitgehend unscharf. Bedeuten neue Kommunikationsmittel, etwas Hierarchieabbau, einige Anpassungen an technische Innovationen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse gleich Neue Arbeit?  Erwerbsarbeit gilt als Gradmesser gesellschaftlicher Integration, Vollbeschäftigung als politischer Erfolg. Kulturelle Dominanz und Deutungshoheit in diesem Feld bedeuten reale Macht, vorherrschende kulturelle Standards haben normative Kraft.  All das trägt zur Attraktivität des Begriffs New Work bei.

Aufzeichnungen zur Arbeitswelt (World Café Transformation der Systeme)

Digitalisierung ermöglicht ganz andere Organisationsformen und ein mehr an Flexibilität als vordem jemals möglich war. Das ist das kollaborative Potential. Grundlage ist das Prinzip der Konnektivität, dass sich grundsätzlich jeder mit jedem verbinden kann, ergänzt durch das der Consozialität – der Verbindung über Gemeinsamkeiten. Das ergibt neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Akteuren, Inhalten und Ideen – auch in ergebnisorientierter Kooperation: Arbeit.

Flexibilisierung (eine Form der Individualisierung) war und ist zum einen eine der wesentlichen Forderungen der neoliberalen Agenda seit den 80er Jahren – im betriebswirtschaftlichen Sinne. Abbau bürokratischer Hemmnisse, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, generell aller wirtschaftlicher Aktivitäten und der Beschäftigungsverhältnisse im besonderen – und ebenso der Systeme der sozialen Absicherung.
Eine immer wiederkehrende These ist die, erst die sozialen Bewegungen der 60er bis 80er Jahre hätten die neoliberale Transformation des Kapitalismus seit den 80er Jahren ermöglicht. Beide Strömungen operierten mit dem attraktiven Begriff der persönlichen Freiheit, beide wandten sich gegen verkrustete Strukturen  hierarchisch-  bürokratischer Organisationen. Felix Stalder nennt in Kultur der Digitalität beide Strömungen als Treiber der gesellschaftlichen Transformationen (S. 32), die die Gegenwart der digitalen  Moderne prägen. In ihrem Ursprüngen liegen sie weit auseinander – ging es den Neuen Sozialen Bewegungen um Beteiligung, Zusammenleben und Persönlichkeitsentwicklung, ging es den Marktradikalen (“there is no such thing as society“, Thatcher) um die Freiheit des Marktes. Verbunden mit der Kritik am Wohlfahrtsstaat sollte jeder selber für sein Leben verantwortlich sein.
Pop- Autor Diedrich Diedrichsen spricht von der Lockerungsrevolte, in deren Folge Kreativität zu einer ökonomischen Ressource wurde. Kalifornischer Flower Power zählt zumindest zu dem Humus, auf dem die digitale Revolution gedieh.

Man denke an die Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre, in denen man anstrebte, Arbeit außerhalb des “Systems” zu organisieren. Die damals vorherrschende Unternehmenskulturen hielt man oft für unerträglich. Zwanzig Jahre später scheute die Digitale Bohème nicht mehr dessen Nähe. “So arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit verdienen” wurde zum Leitspruch, der in der Breite nachwirkt.
New Work ist letztlich eine kulturelle Frage, in der Begriffsverwendung unscharf, aber attraktiv. Arbeit ist ein mehrschichtiger Begriff, Erwerbsarbeit bedeutet letztlich das, was andere (Kunden) bereit sind, für das, was wir tun (bzw. liefern), zu zahlen. Für Arbeitnehmer in privilegierten Situationen bedeutet es, individuell bestmögliche Bedingungen auszuhandeln. Und es ist ein vortreffliches Geschäftsfeld für Berater. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse finden ohnehin statt – neue Arbeitsumgebungen entstehen immer wieder.

Dieser Beitrag ist Teil der von Winfried Felser initiierten Blogparade zu New Work – #newwork17

Felix Stalder, 2016: Kultur der Digitalität. edition suhrkamp 2679;  283 S., 18 €; Wolf Lotter: Gute Arbeit. In: Brand Eins 03/2017 – Schwerpunkt Neue Arbeit. S. 32 – 40; Header: kallejipp / photocase.de;


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