Netnography Unlimited – Understanding Technoculture (Rez.)

Nach nur etwas mehr als einem Jahr ein weiteres Update zu Netnographie? Erst im Herbst 2019 war mit Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research die dritte aktualisierte Ausgabe zur Methodik von Netnographie erschienen.
Der jetzt vorliegende Band Netnography Unlimited. Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research ist das Materialien- zum Methodenbuch. So  geht es um Anwendungsbeispiele von Netnographie, ein Sammelband mit 19 Beiträgen von 34 Autoren. Nicht nur aus den angelsächsischen Ländern, u. a. auch aus Asien, Lateinamerika, Spanien und Schweden.  Im Untertitel taucht bereits ein neuer zentraler Begriff auf – Technoculture-, der das Forschungsfeld von Netnographie absteckt. Technocultural Studies (9 ff.) klingt an Cultural Studies an,  „the whole way of life of a group of people“.

Herausgeber Kozinets sieht Netnographie als den methodischen Arm für dieses Forschungsfeld, das auch mal als Social Media Studies projektiert wird.
Ein Forschungs- und Wissensfeld, das sich durch Kommunikations- und Medienwissenschaft,  Marketing- und Konsumforschung, Computerwissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie zieht.  Das sich zudem oft durch rapide Wechsel und abrupte Brüche der Umgebungen auszeichnet.
Das Buch  ist nach fünf Anwendungsbereichen gegliedert, übertitelt jeweils mit Netnographymobilized/ territorialized/ industrialized/ humanized und /theorized.
Thematisch am weitesten gestreut sind die Beiträge unter Netnography territorialized: PR, Healthcare und Pflegebranche, Tourismus, politischer und sogar ein militärischer Kontext (zur Beruhigung: es geht nicht um militärischen Einsatz, sondern um Bedürfnisse von Militärangehörigen). Sie zeigen Möglichkeiten von Netnographie in ganz unterschiedlichen Kontexten auf. Healthcare und Pflegewesen, hier in einer Studie aus Schweden, sind ebenso von den Möglichkeiten von Information und Zusammenarbeit erfasst.
Tourismus zählt zu den Branchen, die über Jahre hinweg besonders von der Entwicklung des Web beeinflusst wurden. Reisen und das Erzählen davon haben von Beginn an das Social Web begleitet. Dazu die einfache Planbarkeit über unkomplizierte Buchungssysteme bis in weit entfernte Destinationen und einer Fülle von Tourismus- relevanten Apps und Websites.
Netnography in Tourism Beyond Web 2.0 handelt von der Evolution des Web vom statischen Web 1.0, über das social (2.0), mobile und semantic web (3.0) und weitere Zwischenstufen bis zu einem Web 5.0 – Web of Thought – und der parallelen Entwicklung der Interaktion im Tourismus.  Beachtenswert  ist die zweiseitige Übersicht (143/144) dazu, in der Möglichkeiten von Netnographie mit den Entwicklungsstufen des Web abgeglichen werden. Jede höhere Versionsnummer bedeutet mehr an Interaktionsmöglichkeiten. Ein Modell, das in Grundzügen ebenso für andere Felder gelten kann.  Die eher zukünftigen Projektionen wie ein Emotions- sensitives Web 5.0, das auf Gesichtsausdrücke reagiert, kann man skeptisch sehen. Ist ein Eintauchen in virtuelle Welten mehr als ein Gimmick?

Netnography Industrialized umfasst den Einsatz im kommerziellen Umfeld. Darunter fällt der einzige Beitrag aus dem deutschsprachigen Raum: Die Münchner Firma Hyve arbeitet seit 16 Jahren mit Netnography (immer in der engl. Schreibweise). Geschäftsfeld ist Produktentwicklung, Netnography wird dabei von einer möglichst frühen Stufe an  zur  Ableitung unverfälschter Consumer Insights  eingesetzt. Quellen waren und sind oft Bewertungsportale und thread- basierte Foren, wie sie seit dem frühen Internet bestehen. Basketballschuhe, der Thermomix, Pasta- Packungen, Produkte mit Zitrus- Aromen und Kreditkartennutzung – all das gehört zum Portfolio. Die Vorgehensweise ist über die Jahre in etwa gleich geblieben und ist in einem Sechs- Schritte Schema (154) übersichtlich dargestellt.

Der letzte Beitrag im Buch weckt mein besonderes Interesse: Netnography, Digital Habitus, and Technocultural Capital (Rossella Gambetti, Mailand) bringt Stränge zusammen, die mich seit langem interessieren: vernetzte Sozialität,  die Entwicklung eines Habitus nach Bourdieu und Elias und Netnographie als methodisches Werkzeug. Technokulturelles Kapital erweitert den Kapitalbegriff Bourdieus (kulturelles/soziales/symbolisches/ökonomisches Kapital) um eine neue Dimension. Kulturelles Kapital beruht nach Bourdieu v.a. auf Bildung + dem inkorporierten Wissen um ein soziales Beziehungsgeflecht. Technokulturelles Kapital meint einen “Set of embodied knowledges, skills competencies and dispositions”(295). Spontan fällt mir auch eine Art Netwise ein, parallel zum Begriff Streetwise, Wesentlich ist ein inkorporiertes Wissen um Wirkungsweisen in einem technologisch vermittelten sozialen Raum.
Digitaler Habitus zeigt sich in der Selbstdarstellung als Akt reflexiver Konstruktion eines vernetzten Selbst (von S. 295 übersetzt) in Verhalten, und Geschmack;  Bezugsrahmen ist eine zeitgenössische soziale Welt.
Mit der Verbreitung von Formaten wie Live- Streaming und Social Audio, in denen die Teilnehmer mit Gesicht und/bzw. Stimme vor Publikum auftreten, unterscheidet sich ein Digitaler Habitus allerdings immer weniger von anderen Auftritten in Öffentlichkeiten – entscheidend ist das Wissen um Wirkung bzw. Resonanz.

Netnography Unlimited – zurecht trägt das Buch diesen Titel. Die Beiträge decken methodisch und thematisch eine kaum eingeschränkte Bandbreite ab. Ein sehr materialreiches Buch, dass die vielfältigen Möglichkeiten von Netnographie aufzeigt – als eine Art qualitatives Gegenstück zu quantitativen BigData Analysen.
Das Netz wurde mittlerweile zu einem technokulturellen Ecosystem: global, gewichtig, dauerhaft zugänglich. Es schafft technisch vermittelte soziale Räume, deren Bedeutung als Öffentlichkeit spätestens mit der Corona- Krise unübersehbar ist.  Nutzer orientieren ihr Verhalten und ihre Kommunikation daran. Wie auch anders? Das Netz ist Vermittler und Schauplatz von Popularkulturen wie von Geschäftsleben und Marketingaktivitäten, Teil der Lebenswelt. Das rückt Netnographie in die Perspektive von Ansätzen, wie sie bereits länger bestehen: Consumer Culture, Cultural Studies, eine Soziologie der Öffentlichkeit, die Entwicklung des Habitus, die langfristige Entwicklung von Haltungen und Mentalitäten. Sicherlich kommt produktspezifische Kommunikation, wie sie Marktforscher suchen, oft genug vor – sie bleibt aber eine Nebenerscheinung.

 

Kozinets, Robert V. & Gambetti, Rossella: Netnography Unlimited.  Understanding Technoculture Using Qualitative Social Media Research..  2021, Routledge, New York   ISBN: 978-0-367-42565-4, 325 S., £ 42,99

vgl.: Netnography 3.Ed. (Rezension)
Netnographie 2015 – Rezension zu Netnography: Redifined
Netnography. Doing Ethnographic Research Online Standards zur Online- Feldforschung (Rezension)



Influencer und Personenmarken

Influencer am Werk? Bild: unsplash.com/YouXVentures

Influencers are individuals who have the power to affect decisions of others because of their (real or perceived) authority, knowledge, position, or relationship*.
Influencer Marketing lässt sich als strategische Weiterentwicklung des word-of-mouth verstehen. Word-of-mouth war in den frühen Jahren der Social Media Buzzword, gemeint war die informelle, wertende Kommunikation von Kunden bzw. Konsumenten über Marken**. Die gab es zwar schon immer, war jetzt aber in den Foren und auf den Plattformen live zu verfolgen – und eben auch zu beeinflussen.

Mit dem Social Web sind die öffentlichen Kommunikationsräume dezentralisiert. Marken bzw. Unternehmen suchen Zugang zu den Teilöffentlichkeiten – da, wo sich tatsächliche und potentielle Kunden tummeln – und sie wollen das dort verbreitete Bild von sich zumindest mitgestalten. Aufmerksamkeit ist im Social Web die zunächst entscheidende Währung und ihre Vermittlung hat kommerziellen Wert. Werbung soll sich nicht so anfühlen wie Werbung, Marketing nicht wie Marketing, sondern sich möglichst bruchlos in die Kommunikationsabläufe einfügen. Influencer setzen ihr soziales und kulturelles, auf Bildern auch ein optisches Kapital in sozialen Medien ein.  Die Reputation baut auf Authentizität und Glaubwürdigkeit – zumindest in der Zielgruppe.

Was ist neu am Phänomen Influencer? Neu ist zunächst der Aufbau von Personenmarken mit hohen Reichweiten in Teilöffentlichkeiten. Personenmarken bauen auf die Angebote, das Image und zumeist auf den Stil einer Person, die damit eine interessierte Teilöffentlichkeit erreicht. Das reicht vom Model, das Mode präsentiert, über spezialisierte Reiseblogger zum Journalisten, der moderierte Livestreams zu Wirtschaftsthemen sendet – um einige Beispiele zu nennen. Es gilt der auf Paul Lazarsfeld zurückgehende Satz vom Menschen, der von anderen geschätzt wird und dessen Meinung daher maßgeblich ist – was bedeutet das sie diese Meinung zielgerecht in (Teil-) Öffentlichkeiten verbreiten und auf Einschätzungen und Entscheidungen Dritter Einfluss nehmen.

Personenmarken sind dabei in ganz unterschiedlichem Ausmass werbe- und marketingorientiert. Redaktionell bearbeitete Angebote sind es weniger, zumindest weniger direkt.  Ganz sicher abhängig von der Branche: Mode, Kosmetik sind per se werbeaffin, geht es doch um die Präsentation von Produkten. Und sie werden oft so vorgestellt, wie man es auch aus Modezeitschriften kannte – bekannte Influencerinnen (z. B. Caro Daur) präsentieren sich und die Mode wie Models der 90er Jahre. Andere Modeblogs nehmen hingegen bezug auf popkulturelle Diskurse.
Tourismus findet derzeit zwar nur eingeschränkt statt, bleibt aber ein sehr ausdifferenziertes Feld mit vielen Spezialgebieten: Reiseziele, Sport- und Kulturinteressen, Kulinarisches, Sprachen u.v.m. Tourismusmarketing ist zumeist in die Erzählungen von Erlebnissen eingebunden.  Eng mit Tourismus verbunden sind die Werbemärkte zu Sport- und Freizeitaktivitäten wie Segeln, Tauchen, Klettern, bedingt Radfahren etc. – Tribes, die eine Begeisterung teilen; überall haben sich Influencer etabliert, die ihre oft gut geführte Personenmarke monetarisieren.
Nicht jede Branche, nicht alle Marken erhalten dieselbe Aufmerksamkeit. Es sind diejenigen, über die schon immer gerne und ausführlich gesprochen wurde. Etwa Wein mit seinen vielfältigen kulturellen Bezügen und einer gesprächsfreudigen Klientel. In einigen Branchen sind Produzenten, Handel und Konsumenten Teil einer gemeinsamen Öffentlichkeit, in der ausgiebig diskutiert wird, manchmal durch gemeinsame Werte zusammengehalten, so Nachhaltigkeit bei fairer Mode und anderswo. Und manche Unternehmen haben es gar nicht nötig Influencer und Sponsored Content zu bezahlen – über Apple- Produkte spricht man sowieso. Allesamt spannende Felder für eine Netnographie.

P.O.S.E. Modell von 2014 – (wird nach Klick in neuem Fenster in voller Größe angezeigt)

Nach dem P.O.S.E Modell ist Sponsored Content bezahlte Werbung – Paid Media – die im Umlauf der geteilten Inhalte – Shared Media – verbreitet wird.  Generell ist der Raum der Shared Media zum Verteilungszentrum von Medieninhalten(Content) geworden, und genauso zum  Konkurrenzraum um Aufmerksamkeit.

Influencer- Marketing ist zu einem eigenen Geschäftszweig geworden. Wieviel Werbung verträgt eine Online- Präsenz, eine Community, eine Plattform – ohne das Klientel zu verprellen?Instagram etwa wuchs als Foto- Sharing Plattform, macht mittlerweile oft den Eindruck einer Impuls- Shopping Plattform – im Stream der Bilder von Freunden und Prominenten tauchen immer öfter gesponserte Inhalte mit Link zum Online- Shop auf.

Werbung und Marketing gehen dahin, wo (potentielle) Kunden sind. Ein paar Jahrzehnte stand das TV im Vordergrund – mit oft aufwändigen Spots für ein Massenpublikum, dazu eine eingespielte Balance zwischen Presse und bezahlter Werbung. Öffentlichkeit ist kleinteiliger geworden – singualisierte Märkte und Teilöffentlichkeiten.  Es geht auch um eine neue Balance.

 

Gretzel, U. (2017). Social Media Activism in Tourism. Journal of Hospitality and Tourism, 15(2), 1-14. Mariah L. Wellman, Ryan Stoldt, Melissa Tully & Brian Ekdale (2020) Ethics of Authenticity: Social Media Influencers and the Production of Sponsored Content, Journal of Media Ethics, 35:2, 68-82 * MarketingProfs.com (2016). Build Social Relationships with Influencer Marketing. Accessed online (August 26, 2016). ** Wirtschaftslexikon Gabler  Stefan Schicker: Corporate Influencer Strategien brauchen ein rechtliches Fundament, 9/20 vgl. auch Blogparade zu Personenmarken.



Overtourism – eine (kleine) Netnographie

Overtourismus ist Buzzword und war in den letzten Jahren immer wieder Nachrichtenthema – man verbindet damit Bilder gigantischer Kreuzfahrtschiffe vor zerbrechlichen Altstadtkulissen, Proteste in Barcelona, Schlange stehen beim Aufstieg nach Machu Picchu und zum Gipfel des Mount Everest, Bierbikes in Innenstädten oder > 15.000 Airbnbs allein in Lissabon.
Overtourismus ist eine Antithese zu nachhaltigem Reisen. “An excessive number of tourist visits to a popular destination or attraction, resulting in damage to the local environment and historical sites and in poorer quality of life for residents(Oxford English Dictionary) kann als Definition dienen.  Es  beinhaltet die Überlastung natürlicher wie kultureller und sozialer Ressourcen. Für Bewohner bedeutet Overtourismus eine Disruption, die Übernahme der Infrastruktur, in Folge oft des Immobilienmarktes durch touristische Bewirtschaftung (manchmal auch Touristifizierung genannt), in Naturgebieten die Störung des oft fragilen ökologischen Gleichgewichts.
Wie wird über Overtourismus im Netz gesprochen, wie umfangreich ist die Diskussion zum Thema, welche Aspekte und welche Standpunkte  treten hervor – und welche Öffentlichkeit wird angesprochen?

Verteilung der Quellen im ausgewählten Zeitraum (erscheint nach Klick in voller Auflösung) Quelle: Radarly, linkfluence

Ein Werkzeug dazu ist Radarly die Monitoring- bzw. Listening Software von linkfluence. Ausgewählt wurde ein Zeitraum von einem Monat zum Begriff #overtourism, ohne sprachliche Einschränkung  – das heisst v.a. auf Englisch. Die Graphik rechts gibt einen Überblick zur Verteilung. Deutschsprachige Quellen mit dieser Schreibweise kamen v.a. aus der Schweiz. Ergänzt wurden die mehr oder weniger eingedeutschten Varianten Overtourismus und Übertourismus, dazu eine Suche bei youtube nach denselben Stichworten. Im wesentlichen sind es Textbeiträge aus Blogs und redaktionellen Medien, auch der Grossteil der Nennungen bei Twitter und Facebook sind Verweise zu längeren Textbeiträgen – (oft sind diese Beiträge etwas älter als der gewählte Zeitraum). Zum einen sind es Sites,  die sich an eine breitere Öffentlichkeit wenden (z.B. National Geographic, CNN, Süddeutsche, NYT),  zum anderen Reiseblogs als Teil einer Travel- Community. In den deutschsprachigen Reiseblogs wird Overtourismus weniger thematisiert, es gibt allerdings eine Liste der Unfluencerungeschminkte Reiseblogs, die davor warnen, wenn denn ein Ort zu touristisch wird.
In den kurzen Formen der Social Media Kommunikation kommt #overtourism überraschend selten vor, das gilt etwa auch für das deutschsprachige TripAdvisor.

Einige Destinationen werden immer wieder genannt: europäische Altstädte, wie Venedig, Dubrovnik, Prag, Amsterdam (vgl. die Entwicklung von Airbnb in Amsterdam 09-19), Barcelona, die Ägäis- Insel Santorini, Plätze an der norwegischen Fjordküste, im deutschsprachigen Raum das österreichische Hallstatt und oft auch Berlin. Ausserhalb Europas klassische Sehnsuchtsorte der Ferne: Bali, Inseln und Strände in Thailand, Angkor Vat, Machu Picchù in Peru, Galapagos, die Osterinsel, Uluru/Ayers Rock in Australien, neu dabei ist Neuseeland; in den USA einige Nationalparks, Big Sur und Lake Tahoe. Dazu manche Orte, die bisher für Zivilisationsferne schlechthin standen, wie Island und der Mount Everest.
Die Reihe lässt sich ausweiten. Die Anziehung von Reisezielen beruht nicht allein auf besonderen Attraktionen, sondern auf ihrem Vibe – den Bildern und Geschichten, die sie bekannt gemacht haben und weiter verbreitet werden. Alle diese Orte haben eine Geschichte, im historischen Sinne oder dem einer Story – das macht sie unverwechselbar, singulär. Städtereisen stellen singuläre Erlebniswerte hervor: Kunstevents, Kulinarik, Nachtleben, Shopping. Berlin steht etwa für the Right to Party: …”the German capital subsists on the debaucherous reputation of clubs like the notorious Berghain” (insider.com). Brooklyn wird als the hippest of hip neighborhoods vermarktet.
Drehorte erfolgreicher Filme und Serien (z.B. Game of Thrones in Dubrovnik und Island) sind ein weiterer Magnet – und auch der begehrte  Unesco- zertifizierte Titel Weltkultur- bzw. -naturerbe treibt Besucherzahlen in die Höhe, setzt eine Roadmap. Oft stehen sie auf einer persönlichen bucket- list von Orten, die man einmal im Leben gesehen haben sollte. Ganz aktuell (5.12.) wurde im Business Insider  eine Liste von 22 destinations that were ruined by tourists over the past decade veröffentlicht. Overtourism wird dort beklagt, wo er die besondere Aura, ein kulturelles Biotop zerstört (s. auch Overtourism.map unten).

Kreuzfahrtschiff in Venedig

Kreuzfahrtschiffe stehen ganz oben in der Kritik. Zum einen wegen der übermässigen Belastung von Umwelt, Klima und Gesundheit mit Abgasen und Abwässern. Ein einziges Kreuzfahrtschiff stösst am Tag so viel CO2 aus wie fast 84.000 Autos, so viel Stickoxide wie etwa 421.00 Autos, so viel Feinstaub wie etwa über 1 Million Autos und so viel Schwefeldioxid wie gut 376 Millionen Autos (vgl. Nabu).
Vor wenigen Jahren und für viele immer noch Traumschiff, sind  die gigantischen Schiffe für andere nur noch Monster der Meere. Städte auf dem Meer, die bei einem Landgang >5.000 Passagiere in die aufgesuchten Stadtzentren entlassen. Kreuzfahrtouristen reisen all inclusive und  lassen nur einen geringen Teil ihrer Ausgaben vor Ort.

Instagramability: hotspot Trolltunga überm Fjord. Bild: hpmoellers / photocase.de

Bücher, Filme (+TV-Serien), Fotos haben schon immer die Lust am Reisen beflügelt.  Iconische Bilder, die früher von der Touristikwerbung  bereitgestellt wurden, werden heute über Social Media und ganz besonders instagram global verbreitet. Instagramability bedeutet die wirksame Inszenierung auf der Plattform- promotional power – oft sind es ganz spezifische Orte, die bereits einem geringeren Ansturm kaum gewachsen sind. Nicht nur instagram, auch andere Plattformen sind voll von iconischen Bildern von Stränden, Stadtsilhouetten und anderen Attraktionen. Reisen werden dokumentiert.
Von Beginn an waren Social Media mit Tourismus bzw. Reisen verbunden. Auch entlegene Orte wurden damit in einen übergreifenden Kommunikationsraum einbezogen. Der Einfluss auf das Reiseverhalten ist doppelseitig. Zum einen verbreiten sich darüber Trends, verstärken sie den Hype und damit Druck auf singuläre Reiseziele, zum anderen bieten sie die umfangreichsten Möglichkeiten zu Information und Planung – gerade auch während der Reise. Sie ermöglichen auch kleineren Akteuren auf dem touristischen Markt die gezielte Kommunikation mit ihrem Klientel – Tribes.  Social Media einen neuen Rahmen der Öffentlichkeit für alle Stakeholder (vgl. Gretzel: The Role of Social Media in Creating and Addressing Overtourism, 2019) 

Golden Age of Budget Tourism heisst es in einem britischen Blog (6/19). Reisen war niemals so einfach, günstig und gefahrlos, so zugänglich für  breite Schichten. Offene Grenzen (für Touristen), die Möglichkeit der Verständigung auf Englisch, evtl. Spanisch. Billige Flüge, günstige Bus- und Zugverbindungen und ein Angebot an Unterkünften jeder Art und jeder Preiskategorie – alles bequem online, oft per App zu buchen. Der Aufwand etwa auf die Kanaren zu reisen, ist nicht grösser als die friesischen Inseln zu erreichen. Kaum ein Ort der Erde, der nicht auf sein touristisches Potential abgeklopft ist.
Fernreisen und Wochenendtrips zählen zum Lebensstil der  Mittelschichten. Ein halbes Jahr Südamerika, Südostasien oder Australien nach Schulabschuss ist keine Seltenheit. Und es sind weltweit mehr geworden, denen dies möglich ist.  1,4 Mrd.  Ankünfte von Touristen weltweit nennt die World Tourism Organization für 2018,  Tendenz steigend um weitere 4 – 6%  pro Jahr.  und international. Wachstum bringt insbesondere der asiatische Markt.

Kritik am Massentourismus gibt es solange es ihn gibt. Massentourismus folgt der Logik der Massenproduktion und ist möglichst effizient organisiert. Massentourismus lenkt die Besucherströme in meist eigens dazu geschaffene Umgebungen abseits gewachsener Strukturen. Der Standort ist oft nur Kulisse, Architektur und Angebot meist austauschbar, örtliche Kultur bestenfalls Folklore – Fake.  Auffallend ist aber, dass in der Diskussion zu #overtourism, abgesehen von Mallorca (+ Ibiza) und evtl. Mykonos kaum klassische Zentren des Massentourismus genannt werden. Orte, die ausschliesslich touristischen Zwecken dienen, kommen in der Kritik nicht vor: There is no overtourism in Las Vegas. Im Falle Mallorca geht es auch eher um die vollständige Inanspruchnahme der Lebenswelt von ca. 880.000 Einwohnern durch touristische Verwertung.
Individualtourismus verstand sich oft als Gegenbewegung zum Massentourismus. Backpacker und Bildungsreisende suchen v.a. authentische Erfahrungen:  Act like the locals. Individualtouristen werden meist lieber Reisende bzw. Traveller genannt und wollen ihre Erfahrungen und Bilder davon selber machen.
Overtourism wird meist mit Mainstream verbunden: Popularisiert von early adopter Travelern, meiden dieselben Kreise allzu populär gewordene Ziele und ziehen weiter, zum next place to be. Spricht man mit Bourdieu geht es um kulturelles Kapital, um Coolness. Öfters wird Overtourism asiatischen Touristen, der neuen Grösse im Tourismus, zugeschoben. Manchmal mit einem rassistischen Unterton:   Es tut mir leid es so formulieren zu müssen aber die Massen von Asiaten, die als große Gruppen über Busse und Schiffe zu den Orten gebracht und dann von ihren Reiseführern durch die Attraktionen gepeitscht werden sind ein(!) großes Problem (anonymer O- Ton). Stimmt das? Einige Studien sehen das Reiseverhalten von Asiaten nicht grundsätzlich verschieden, als das von Europäern und Nordamerikanern.

In der englischsprachigen digitalen Öffentlichkeit ist Overtourism seit längerem ein geläufiger Terminus. Die Diskussion im Deutschen folgt zumeist noch den spektakulären Erscheinungen. Im Alpenraum geht es dazu um eine weitere Erschliessung von Skigebieten.
Was wird empfohlen? Lokal kann wohl einiges eingedämmt werden, manche singuläre Attraktion wird nicht mehr so einfach erreichbar sein. Manchmal heisst es simpel “ein paar Strassen” weiter oder nicht in der Hochsaison, Ausweichziele werden genannt, etwa Valencia statt Barcelona, Linz statt Wien. Das ändert nichts am Druck, der auf attraktiven Zielen lastet. Ähnlich wie Gentrification den Druck auf attraktive Wohngebiete bezeichnet.  Die Abgrenzung von Massen- und Individualtourismus ist immer weniger zeitgemäss. Infrastrukturen werden von allen genutzt, entscheidend sind billige Flüge und schnelles Internet. Tourismus verteilt sich nach kleinteiligen digitalen Mustern. Dabei entstehen neue Lebensstile, wie neomadische Tribes. Die Diskussion zum Tourismus berührt die zu Mobilität und Migration.

Unten die Overtourism map, auf der Orte von Berichten zu Overtourism zusammengetragen sind. Die Auswahl beruht u.a. auf Fallstudien einer Studie des Europäischen Parlamentes. So ist die deutsche Vertretung ausgerechnet die Nordseeinsel Juist.

Vgl. u.a.: Ulrike Gretzel: The role of Social Media in creating and adressing overtourism. In: Overtourism: Issues, realities and solutions (De Gruyter Studies in Tourism, Band 1), München 2019.  250 S.  Karlheinz Wöhler: Overtourism . In: Bauwelt 13., 2019  S. 22 – 25.; ‘Overtourism’? Understanding and Managing Urban Tourism Growth beyond Perceptions. Executive Summary. www.unwto.org; Zukunft des Tourismus #NEO19x



Netnography 3.Ed. (Review)

Vor einigen Wochen erschien bei Sage Publ. die 3. Ed. zu Netnographie als Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research. Vorausgegangen waren 2010 Netnography. Doing Ethnographic Research Online und  2015 Netnography. Redifined.
Netnographie wurde seit den 90er Jahren von Autor Robert Kozinets im entstehenden  und sich stetig verändernden Feld der Online-Öffentlichkeiten entwickelt. Mit dem ersten Buch 2010 wurden methodisch-programmatische Standards zusammengefasst, mit dem Anspruch in allen sozialwissenschaftlichen und verwandten Fächern zu gelten. 2015 folgte die Anpassung an Social  Media. Grundsätzlich ist Netnographie weniger eine singuläre Forschungsmethode, als ein Forschungsprogramm, das eine Vielzahl einzelner Forschungstechniken einbezieht und sie pragmatisch anwendet.
Definiert wird das Forschungsfeld Social Media als applications, websites, and other online technologies that enable their users to engage in a variety of different content creation, circulation, annotation, and association activities. Netnography is a way to study social media that maintains the complexities of its experimential and cultural qualities. (4)
Die aktuelle 3. Edition erscheint mit neuem Cover und hundert Seiten mehr  – der Untertitel setzt selbstbewusst den Anspruch als Standard qualitativer Forschung in Social Media, eine Art Handbuch.  Kozinets versteht diese 3. Ed. als near total reboot (5). Aus 11 Kapiteln wurden 15, manche überschneiden sich mit denen aus der 2. Ed., andere wurden ergänzt bzw. neu zusammengefasst. Wie gehabt gibt es zu jedem Kapitel abschliessend eine Chapter Summary + eine Übersicht der Key Readings, dazu vorausgehend ein Chapter Overview. Neu ist u.a ein Kapitel Social Media History, deutliches Zeichen, dass Social Media längst nicht mehr so neu sind.

Social Media 2019/20 sind ein ganz anderes Feld als das Internet der 90er und frühen 2000er Jahre. Virtual Communities waren damals der vorherrschende Begriff: sich um gemeinsame Interessen und Leidenschaften bildende Vergemeinschaftungen – oft Fankulturen, wie zu Star Trek, Straight Edge, oder auch Genussmitteln wie Kaffee oder CraftBeer, Selbsthilfegruppen, Special interest groups etc.  Fühlte sich damals alles eher subkulturell an, sind die Pfade im Netz von heute gepflastert: They paved communities, put up a server farm (124). Aus Mitgliedern wurden User, aus Peers Follower. Kommerzielle Strukturen, wie Werbung, Direkt- und Content Marketing, Messungen und Ausdeutungen des User- Verhaltens haben Rückwirkungen. Soziale und kommerzielle Beziehungen überschneiden sich. Grenzen zwischen Massenmedien bis hin zur Gelegenheitskommunikation verwischen oft.

What we share; Bild: greycoast / photocase.de

Einige Kapitel näher betrachtet: In Socialities: All the Ways we Connect(4) geht es um Konzepte von Sozialität bzw. sozialer Strukturierung, von denen einige in diesem Blog bereits erläutert und thematisiert wurden:  Consociality, Networked Individualism (bzw. Vernetzter Individualismus– vgl. auch die 12 Principles dazu), Technogenese.
Technogenese meint das Prinzip einer Co-Evolution von Technik und Gesellschaft, geht zurück auf den franz. Medientheoretiker Bernard Stigler, mit sehr deutlichen Anklängen an die in Norbert Elias Zivilisationstheorie wesentlichen Begriffe Sozio- und Psychogenese. 
Consociality  hat meines Erachtens ein besonderes Potential:  What we share als ein Prinzip der Vergemeinschaftung. Aus dieser Perspektive erscheinen Social Media weniger als Umgebung fixe Institutionen denn als momentäre Konstruktionen, die Individuen miteinander verbinden – man könnte auch sagen matchen. Online- Plattformen, die Matches vermitteln (das ist nicht Dating)  haben einen  hohen Grad an Consociality.

Figure 5.2 The six procedural movements of Netnography (139) — erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Das anschliessende Kapitel (5) Introducing Practises and Data Operations führt in die Planung konkreter Forschungsprojekte ein. Alleinstellungsmerkmale, die zusammen den Ansatz Netnographie von anderen Methoden unterscheiden:  kulturelle Ausrichtung, Data aus Social Media, immersives Engagement (eine Art reflexiver persönlicher Beteiligung) und “netnographische Praxis” (deutlich gemacht an sich verschiebenden Begriffen zu “trad. Ethnographie” (136) – im weiteren die in der Graphik rechts gezeigten Handlungsschritte.

Kapitel  6 gilt der Forschungsethik: Ethics: Prozeduren and Flowcharts, Updates and Rules. Sind Interaktionen privat oder öffentlich?  Dazu u.a.  eine umfassende  Übersicht  (179) zu Handlungsschritten und deren Bedarf an Informed Consent (Einwilligung nach erfolgter Aufklärung)
Chap. 8 – Investigating: Five Steps to Social Media Data Collection ist eine Art Leitfaden. Wer nach Anwendungsbeispielen sucht, wird an vielen Stellen fündig.

Netnography 3 Ed. macht deutlich, dass Netnographie kein Buzzword ist, sondern ein vom Autor ambitioniert  vorangetriebener Ansatz, der die stetige Veränderung des Feldes berücksichtigt.
Netnography 3 Ed. ist v.a. ein umfangreiches, sehr systematisches Handbuch zu qualitativer Online- Forschung: anregend zur Konzeption,  praktisch zum Nachschlagen, viel Stoff zum Durcharbeiten, allein die jeweilige Aufstellung der Key Readings mit theoretischen Bezügen, wie auch praktischen Beispielen, ist eine Fundgrube. Qualitative Online- Forschung bedeutet ein Verständnis jenseits der Big Data Ausdeutungen – für nicht- kommerzielle Projekte, wie für kommerzielle Auftragsforschung. Social Media nach der obigen Definition ist zwar zu einem weiten Teil in den Händen eines Oligopols,  aber doch in stetigem Wandel – in den Formaten, wie in den Plattformen. Live- Streaming  ist ein starker Trend  und schafft neue Öffentlichkeiten.

Netnography entstammt der angloamerikan. Kulturanthropologie, in der ethnographische Forschung seit jeher einen herausragenden Platz hat. Ein echtes Pendant von Gewicht gibt es nicht im deutschen Sprachraum: Europäische Ethnologie (ehemals Volkskunde) ist eher ein Orchideenfach, in der Soziologie zählt der theoretische Entwurf, in der Marketingforschung die KPI, die Marktforschung ist auftragsbezogen. Lebensweltforschung, Konsumsoziologie stehen in der zweiten Reihe, es dominiert die Einordnung in Sinus- Milieus. Cultural Studies waren v.a.  in den 90er und 0er Jahren auch im deutschen Sprachraum verbreitet.

Kozinets, Robert V.: Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research.. Third Edition 2020, SAGE Publications Ltd; ISBN: 978-1-5264-4470-7, 447 S., £ 25

 

 



SideMenu