Hypes und ihre Weiterwirkung

Es geht voran – ein Blick in die Zukunft. Bild: Harsh Shivam. pexels.com

Vor einem Jahr sprach man von Krisen – in diesem Jahr spricht man von Hypes. Gleich mehrere Hypes folgten so bruchlos aufeinander, dass das Phänomen Hype selber zum Thema wird. Die Zyklen technologischer Trends schliessen schnell aneinander, und versprechen eine neue Welt. Welche Weiterwirkung haben sie in unserer Gesellschaft?
Zyklen von Hypes technologischer Neuerungen werden seit längerem thematisiert (Gartner-Zyklen), Der Verlauf spiegelt Muster wieder, ist aber nicht zwangsläufig.
Die Hypes der letzten Jahre gehen darüber hinaus: es sind Hypes, die sich als zwangsläufige Zukunft inszenieren. Sie gehen aus von den grossen Tech- Konzernen bzw. deren Umfeld, die im vergangenen Jahrzehnt im Social Web reich geworden sind.  Sie nehmen eine Stelle von Zukunftsvisionen ein. Der Ausdruck Futures Appropriation drückt eine Aneignung von Zukunft durch sie aus – darunter geht es kaum.
Der folgende Text überschneidet sich mit einem anderen (Hypes: Metaverse – Web3 – ChatGPT – Vom Zweiten zum Dritten Netz?) – steht aber in zeitlicher Distanz von knapp vier Monaten. 

Der Hype um Web3 ist schon fast Geschichte, taucht aber immer wieder als Referenz auf. Manchmal aus Unkenntnis, öfter um Abgrenzung auszudrücken. Über Web3 ist fast alles abschliessend gesagt, was es zu sagen gibt:  Der Rant  Das dritte Web von Jürgen Geuter, (@tante) lässt nichts über.  Vor drei Monaten erschien zudem der Forschungsbericht Expansive and extractive networks of Web3 (2023), der Web3 aus seinem spezifischen Habitat heraus erklärt.
Die Autoren Jathan Sadowski & Kaitlin Beegle beschreiben Web3 als eine Art Fallstudie des Risikokapitalismus aus Silicon Valley: Web3 was not an anomaly in the broader tech industry. It should be understood as a product of that industry, which articulates patterns and dynamics that existed before Web3 and will exist after — The innovations may not survive, but the model continues to thrive
Web3 vermengt Elemente, die man ansonsten kaum zusammenbringt: Eine Rhetorik von Dezentralität, die letztlich zu Konzentration führt, dazu einen enormen Energieverbrauch und eine Spekulationsblase.  Keine Regulierung, keine Institutionen,  kein Staat bzw. möglichst wenig davon, eine “libertäre”, anarchokapitalische  Ideologie mit Anklängen an Ayn Rand, einer Autorin des enthemmten  darwinistischen Kapitalismus. 

Einstieg in eine parallele Welt – auf dem Höhepunkt des Hype – Time Magazine 8/22

Das Metaverse ist vorerst auserzählt – zumindest mit der Perspektive einer medialen Infrastruktur incl. virtueller sozialer Beziehungen und digitalem Eigentum. Mit dem Einstieg in eine parallele Welt ist eine Faszination verbunden – eine uralte, archetypische Erzählung bzw.  Narrativ. Der Begriff selber greift die Dystopie aus dem  Science Fiction Roman Snowcrash auf, in dem Menschen als Avatare ihrer selbst miteinander kommunizieren.
Die Vision des Metaverse wurde immer etwas vorsichtig bis nebulös beschrieben: Ob es das Metaverse jemals geben würde, wurde immer offen gelassen, damit auch die Möglichkeiten der Verwirklichung.
Der Hype scheint in eine Richtung kanalisiert zu sein, in dem es um die Umsetzung einzelner konkreter Anwendungen, wie etwa Architekturmodelle, Simulationen zu Trainingsanwendungen, Konferenzschaltungen geht.  Nüchterne Begriffe wie immersive Medien und Spatial Computing stehen nun im Vordergrund, es geht um nützliche Anwendbarkeit.
Das Zusammenwachsen dieser Anwendungen ist vorerst unwahrscheinlich, dennoch eine – mögliche – langfristige Perspektive. Metaverse- Erfahrungen einer parallelen Welt sind am ehesten im Gaming- Bereich denkbar. Die Datenbrille als das neue Smartphone, das den Zugang zu einer neuen medialen Infrastruktur gewährleistet, bleibt aber in weiter Ferne. Die Mehrheit der Menschen kann sich nicht damit anfreunden, wahrscheinlich erinnert sie zu sehr an eine Prothese.
Der Traum/ die Vorstellung vom Metaverse bleibt aber, wie eine aktuelle Definition von Leslie Shannon (Autorin Interconnected Realities) zeigt: The Metaverse is a partly- or fully-digital experience that brings together people, places, ans/or information in real time in a way that transcends that which is possible in the physical world alone, in order to solve a problem. Gemeint ist eine neue Form der Mensch/ Maschine – Interaktion.
Ausgerechnet in einer Branche, die an sich so sehr mit der Inszenierung des Körpers verbunden ist, lebt der ursprüngliche Entwurf des Metaverse fort –  zumindest  in dem Bereich der Fashionwelt, dessen Wertschöpfung sich von materiellen Kosten losgelöst hat. Metaverse Fashion Week ist ein Laufsteg dematerialisierter Mode – und erstaunlich viele Unternehmen beteiligen sich daran. Mode, die Avatare bekleidet, hat den  Charakter von NFTs – den digitalen Unikaten des Web3.
Digitale und virtuelle Kunst ist zu einem integralen Bestandteil der lokalen visuellen Sprache geworden – nicht nur in der Kunstwelt, sondern auch unter Chinas innovativsten Modedesigner:innen – so zitiert die Vogue (D)  die Chefredakteurin der chinesischen Ausgabe Margaret Zhang, anscheinend  gibt es kulturell bedingte Unterschiede.

Ist der Chat Bot wirklich intelligent? – Foto von Rock’n Roll Monkey Unsplash.com

Die Breitenwirkung des dritten Hype, Chat GPT, ist ungleich grösser. ChatGPTist die Volksausgabe der künstlichen Intelligenz. Der Hype ist zwar ebenso von Investoren initiiert, wird aber in einer ganz anderen Dimension von Anwendern getragen. Millionen experimentieren damit, testen den Gebrauch, die Zusammenführung von Inhalten und überhaupt alle Möglichkeiten,  die der ChatBot bietet.
Misst man eine Technologie daran, wie erfolgreich sie Probleme löst, dann löst Chat GPT bislang eine Reihe von Alltagsproblemen:  Schüler und Studenten erledigen damit Hausaufgaben, Anschreiben von Bewerbungen werden damit erstellt, Werbemails, wahrscheinlich oft genug juristischer Texte – allesamt weitgehend standardisierte Textformate.  Seit dem Start von Chat GPT  im letzten Winter ist das Ausmass der Verbreitung kaum mehr zu überblicken.
Man kann es auch positiver formulieren: Chat GPT erschliesst das Wissen und die Formen aus den Datenbeständen des Web und gibt sie als Text, Bild, Code aus und bietet nutzbare Lösungen. Manchmal ersetzt es die Suchmaschine oder Wikipedia. Komplexere Ergebnisse erfordern komplexere  Handlungsanweisungen. Prompt Engineering ist die Kunst, sie so zu formulieren, dass  die Software  die bestmöglichen erwünschten Ergebnisse zeigt. Ein sehr anschauliches Beispiel – ohne jede Rücksicht auf Urheberrechte – gibt es in einem Spot von Afri- Cola – die Ideen stammen von kreativen Köpfen, die Umsetzung von der KI/ AI.
Auch KI hat eine archetypische Hintergrunderzählung: die Schaffung einer aussermenschlichen Intelligenz war und ist immer ein Motiv, nicht nur in  Science Fiction, sie ist viel älter. Dahinter steht die Furcht, das Erschaffene könne den Schöpfer übertreffen und seiner Kontrolle entkommen – die menschlich gestaltete Zivilisation von ihrem Produkt übernommen werden.
Dagegen steht der Einwand, dass Chat GPT und generell das, was als KI/ AI bezeichnet wird, überhaupt nicht intelligent ist. Ein Einwand, ebenso alt, wie die Technologie selber – und der sich immer wieder an dem Begriff KI/AI entzündet.
Und es gibt das Problem der missachteten Urheberrechte, schliesslich greifen die Crawler der Chat Bots auf alle zugänglichen Texte und Bilder als Trainingsdaten zu. Wie gut die KI ist, hängt davon ab, wieviel Texte (und Bilder) sie verschlungen hat- um Urheberrechte schert sie sich nicht. Allerdings ist der Umfang der Geschäfte so gross, dass man erwarten kann, dass es zu Einigungen kommt.

Techniken setzen nur dann durch, wenn sie ganz offensichtlich einen Nerv der Gesellschaft treffen (Armin Nassehi) bzw., wenn sie ein Problem lösen. Das scheint der Fall zu sein …
Rechenleistungen sind nicht energieneutral – egal, ob Bitcoins geschürft, parallele Welten gerendert werden oder ein Chat Bot Daten durchpflügt und Ausgaben kreiert.

Für diesen Text wurde ChatGPT nicht benutzt, aber folgende Quellen: Sadowski, J., & Beegle, K. (2023). Expansive and extractive networks of Web3. Big Data & Society, 10(1). Leslie Shannon: Interconnected Realities: How the Metaverse Will Transform Our Relationship to Technology Forever (2023) Jaron Lanier: There is No AI. The New Yorker 20.04.2023. There are ways of controlling the new technology—but first we have to stop mythologizing it Matthew Hudson: Can we stop Runaway A.I. ?  The New Yorker. 16.05.2023 –  Dirk Songuer: Fieldnotes from the Metaverse  Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Bullshit, der (e)skaliert. Golem 16.03.23.  Michael Schütz: Warum Chat GPT nicht intelligent ist. planung&analyse. 20.6.2023 Thomas Riedel: Ist ChatGPT das neue Metaverse? Absatzwirtschaft 11.07.2023. VOGUE Meta-Ocean“: Erleben Sie die Welt der Mode im Metaverse | Vogue Germany . 10/2022. Afri- Cola: afri und die künstliche Intelligenz . Brühl/ Janisch/ Kreye: Einfach nur hungrig. Künstliche Intelligenz und Urheberrecht. Süddeutsche Zeitung 23.07.2023

 



One more thing … Spatial Computing

One more thing iPhone Momente wurden wachgerufen, als Apple CEO Tim Cook am 5. Juni die Vision Pro auf der Keynote zur WWDC23 (World Wide Developpers Conference) vorstellte. Apple hat es immer verstanden, neue Produkte in Szene zu setzen. Apple steht für das Primat der User Experience/ Nutzungserfahrung: aufeinander abgestimmte Hard- und Software, ausgereiftes Produktdesign. Kein Konzern hat mehr Fans, und diese ganz besonders in der Creative Class; Apple Produkte sind statusbeladene Accessoires, bis hin zum Airpod werden höhere Preise akzeptiert.
Wahrscheinlich hätte sich auch ohne das iPhone das mobile Internet durchgesetzt. Doch die bruchlose Verbindung von Internet, Telephonie, Kamera, Musik und die Anschlussfähigkeit der so vielfältigen Drittangebote setzte Maßstäbe, liess das SmartPhone innerhalb weniger Jahre zum unverzichtbaren Zugang zu einer neuen – global verbreiteten Infrastruktur- werden.
iPhone Moment  bedeutet v.a. eine Erwartungshaltung auf einen Prototypen für den Zugang zu neuen immersiven Welten, für ein Internet nach dem Monitor. Vorerst mit zeitlicher Verzögerung: In den Verkauf kommt Vision Pro erst Anf 2024 – der hohe Preis begrenzt zudem die Verbreitung.

Metaverse blieb ausgespart – stattdessen Spatial Computing –  ein Begriff, der 2003 von Simon Greenwold in seiner Abschlussarbeit am MIT* (download) definiert wurde:  human interaction with a machine in which the machine retains and manipulates referents to real objects and spaces. “Aus technischer Sicht integriert Spatial Computing mittels Software die Benutzeroberfläche des Computers nahtlos in die dreidimensionale physische Welt” – so Valentin Heun 2021. Entscheidend ist dabei, dass physische Signale wie Gesten, Stimme, Blickrichtungen als Eingaben für interaktive digitale Mediensysteme dienen, so wie Klicks, Mouseover oder Tastatureingaben beim Zugang  über Display.

Metaverse setzt Spatial Computing voraus – ohne Interaktion mit physischen Signalen kein Agieren im virtuellen Raum – als Konzepte betonen sie aber ganz andere Möglichkeiten: Spatial Computing erweitert das bestehende Internet um Funktionen;  Metaverse ist qua seiner Definition** ein überwölbendes Konzept einer miteinander verbundenen virtuellen Sphäre – und daran schliessen sich Fragen nach gesellschaftlichen Implikationen und Konsequenzen an: welche Folgen haben Verhalten und Handlungen in einem Metaverse? Was für eine Form von Öffentlichkeit entsteht in einer parallelen immersiven Welt?

Spatial Computing: mehr Bauprojekte als Avatare. Bild: Viktor Forgacs. unsplash.com

Einsatzmöglichkeiten gibt es genug, Apple spricht sehr weitgefasst von Spielen, Kommunikation und den Konsum von Inhalten. Vermutlich stehen Entwickler in den Startlöchern, für visionOS, das Betriebssystem der VisionPro angepasste Anwendungen zu produzieren.  Heute (22.06.) berichtet t3n von der Freigabe eines robusten Sets von Tools für Entwickler:innen.  Hier scheint sich das Modell iPhone zu wiederholen:  Apple stellt Hardware und Betriebssystem – Drittanbieter entwickeln die Anwendungen. Wahrscheinlich  wären etwa Bauprojekte, Trainings, Entwürfe grosser Veranstaltungen, im medizinischen Bereich, im Verkehr, bei Produktpräsentationen bis hin zu Einrichtungsentwürfen u.v.m,…  Ganz heruntergebrochen wird Spatial Computing erst wenig social sein, mehr im BtB- Bereich und wird weniger Beigeschmack von Science Fiction haben, das Thema der miteinander verbundenen Welten, das das Metaverse ausmacht, kommt kaum vor.

Konzerne wie Disney, denen man Erfahrung in Sachen Inszenierung des Fiktiven zuschreibt, haben sich mittlerweile vom Projekt Metaverse  zurückgezogen.  Überraschenderweise findet die ursprüngliche Idee immer wieder Anklang in der Mode- Branche, mit Überschriften wie Digitale Mode ist die Zukunft der Branche  und etwa dem virtuellen Raum Vogue Meta- OceanWas macht virtuelle Mode interessant, Avatar- Fashion? Es geht um Luxus- Marken, bei denen das finanzielle Limit  hoch gesteckt ist – und es geht anscheinend um den asiatischen Markt.  Eine Frage, inwieweit technische Innovationen an ältere kulturelle Muster anknüpfen. Ein Tor, über das ein Metaversum eine breitere Öffentlichkeit erreicht?

Sieht das Internet der Zukunft wie Spatial Computing aus? Ein Zugangswerkzeug, wie die Datenbrille wird so schnell nicht in den Alltag vordringen, bleibt besonderen Abläufen, oder auch Vorführungen vorbehalten.  Das SmartPhone ist viel zu praktisch, als dass es in absehbarer Zeit ersetzt werden würde. Es bündelt derart viele im Alltag verbreitete, nützliche und unterhaltsame Funktionen – es lenkt zwar viel mehr ab, als es sich viele wünschen,  beansprucht aber auch nicht die volle Aufmerksamkeit. Niemand verbindet den Gebrauch mit dem Abtauchen in eine parallele Welt,  es ist ganz von dieser Welt.  Als das iPhone 2007 eingeführt wurde, waren Mobiltelephone, manche mit Internetzugang bereits weit verbreitet. Das Bild des Cyberspace lag damals schon weit zurück.

Der Hype um Metaverse scheint abgebrochen bzw. in eine Richtung gelenkt, die vorerst keine übermässigen gesellschaftlichen Auswirkungen – that will revolutionize everything  hat. Erkennbar gibt es einen Drang zum Hype: narrative Spekulationen zu  technischen Neuerungen, die die Welt – zumindest wesentliche Teilsysteme – verändern. Es gibt viel Geld in den Kassen der GAFAM- Konzerne, dass erfolgversprechende Investition sucht, es gibt eine breite technisch gut ausgebildete Klasse, die in technologischen Zukunftsvisionen als einen Kick erlebt. Metaverse – bzw. die Vision einer nicht- körpergebundenen parallelen Realität – ist dabei ebenso wie KI/AI ein wohl immer wieder kehrendes Motiv. Manches davon wird in den Raum der Nützlichkeit überführt, es bleibt aber auch ein Raum der nahezu archetypischen Spekulation.
Ausgeblendet wird oft der gigantische Bedarf an Rechenleistung und damit dem Energieverbrauch – das gilt für alle Hypes: Web3, Metaverse und auch die grossflächige Nutzung von KI/AI.

s. auch: Simon Greenwold: Spacial ComputingMaghan McDowell: Apple’s AR glasses are here. Fashion is watching– Vogue Business June 5, 2023  – Thomas Riedel: Alle Fakten zum MR-Headset, Apples Spatial Computing Strategie und eine Einordnung in den aktuellen XR-Markt – zum Podcast:   *MIT = Massachussetts Institute of Technology. t3n/ Andreas Floemer (22.06.23): Apple veröffentlicht VisionOS-SDK für Entwicklung von Vision-Pro-Apps.  ** vgl. die Definition von Matthew Ball unter The Metaverse – And How It Will Revolutionize Everything Valentin Heun: Was ist Spatial Computing und wie setzt man es ein?  (Industry of things.de 22.01.21) 



Influencers & Creators. Business, Culture and Practice (Rezension)

Netnographie auf aktuellem Stand, vom Autorinnen- Trio Rossella Gambetti (Universita cattolica, Mailand), Ulrike Gretzel und Robert Kozinets (beide USC, Los Angeles), dem Godfather of Netnography ;-).

Influencers & Creators sind Erscheinungen der fortgeschrittenen Social Media – zwar lassen sich rückwirkend ebensolche schon    früher beschreiben, doch geht es um das Ecosystem, in dem sie sich entwickeln. Ecosystem ist aus der Ökologie übernommen  und meint ein vielfältig miteinander verflochtenes, im besten Falle kooperierendes System – hier die Beteiligten eines digitalen Mediensystems, das rund um Werbung und Marketing gewachsen ist.
Influencer betreiben Marketing, ihr Einsatz ist – wie auch immer erworbenes – soziales Kapital mit dem Kunden generiert werden sollen.  Digital Creators produzieren den oft genannten hochwertigen Content, ob es nun Podcasts, Videos, Texte, Live- Streams, Micro- Kochshows, Snack- Comedy* oder etwa die immersiven Angebote  für ein zukünftiges Metaverse sind.

Influencer Marketing wird seit Beginn des Social Web thematisiert. So gibt es Zuschreibungen, Rollen (und Rollenklischees) davon, was  Influencer tun, wie sie sich verhalten und was sie erreichen sollen, best practice. Das Geschäft beruht darauf, soziale Interaktionen – soziales Kapital – zu monetarisieren, für eigene Ziele oder als Auftragsarbeit. Die Bandbreite ist enorm, gestaffelt in  Prominenz und Reichweite von Nano über Micro, Macro zu Mega– Influencern.  Figuren wie Kim Kardashian und Chiara Ferragni stechen zunächst hervor, erstere als eine Art It- Girl des ungehemmten Konsumismus,  die zweite  als selbstvermarktendes Model, das darauf eine eigene Art von Unternehmen aufgebaut hat. Celebrities verfügen kraft ihrer Prominenz – die sie etwa im TV,  Sport, Popmusik oder auch Gossip erworben haben, über soziales Kapital. Influencer  haben  es ansonsten im Social Web selber aufgebaut.

Influencer und damit verbundene Konzepte (19)

Influencer inszenieren sich in der Regel als real people – mit ihrem realen Namen, mit einem breiten Einblick in die persönliche Sphäre. Authentizität von Person und Umgebung ist entscheidend für die Reputation – personal branding beruht darauf.
Die Rollen von Influencern überschneiden sich mit anderen Rollen, ohne mit ihnen identisch zu sein (s. nebenstehenden Graphik). Microcelebrities sind eine Entsprechung in kleineren Öffentlichkeiten – sie sehen und behandeln ihr Publikum als Fans. Meinungsführer entstammen zumeist den jeweiligen Communities und haben dort  Reputation aufgebaut. Markenbotschafter stehen in einem direkten, formalisierten Auftragsverhältnis. Digital Marketers verstehen sich als Professionals,  vermarkten aber nicht ihre eigene Person.
Glaubwürdigkeit von Influencern beruht auf dem Aufbau von Reputation im anvisierten Feld durch Authentizität und/oder Expertise. Abhängig von  Branchen bzw. Interessenfeldern zeigen sich ganz unterschiedliche Muster und Typologien von Influencern, oft ganz andere Ansätze der Monetarisierung. Fashion & Beauty, aber auch Fitness folgen Schönheitsidealen und entsprechenden Konsummustern. TourismusEssen und Trinken sind Themenfelder mit zahlreichen Nischen.  Dann gibt es Themen, in denen es grundsätzlich ein grosses Engagement gibt, insbes. Sport und damit verbundene Hobbies, wie z.B. Segeln. Das kann in einigen Branchen, in denen es ein starkes gemeinsames Interesse von Kunden, Herstellern und Vermittlern gibt, gut funktionieren.  Vanlife, das Leben als Digital Expat etc. bringen wiederum andere Möglichkeiten von Storytelling und Engagement mit sich.
Eine spezielle Ökonomie wird daraus, wenn Marken sich in Reichweite und Interaktion einkaufen. Dann lässt sich die Rolle des Influencers als “mediated authenticity”vermittelte/kontrollierte Authentizität bezeichnen – was sich auch als eine spezielle Form des Storytelling verstehen lässt.
Influencer sind nicht zwangsläufig  kommerziell ausgerichtet – es gibt genügend Beispiele zu Feldern wie soziale Integration, body positivity etc.

Unterschiede und Ähnlichkeiten von Influencern und Digital Creators. (Figure 1.1., 16)

Digital Creator findet sich mittlerweile häufig als Selbstbezeichnung etwa in instagram und youtube Profilen.  Es sind Urheber der in den Social Media verbreiteten Inhalte – die Kreativschaffenden des Social Web. Sie erstellen die attraktiven Inhalte, den qualitativ hochwertigen Content, der das Netz interessant macht und Besucher anzieht – und sie werden wohl die immersiven Welten des Metaverse ausbauen …

Dreizehn Kapitel decken ein weites Spektrum ab – in einem thematischen Bogen von den makrosozialen Grundlagen bis zur Kampagnenplanung (220).  Man kann das Buch als eine Art Compendium zum Themenfeld auffassen – durchgängig gespickt mit Tabellen, eingerahmten oder farblich hervorgehobenen Info- Boxen, hervorgehobenen Überschriften. Fast jeder in Frage kommende Begriff ist erklärt – vom Neoliberalismus als Überideologie und Superstruktur von Influencer Marketing (47) zu Cancel Culture und zum Return of Invest (ROI) und den key elements of influencer and creator contracts (264 – 267). . Diversity, Equity und Inklusion (135 ff) hat ein eigenes Kapitel, man ist auf der woken Seite. Auch Regulierungen sind nicht ausgeblendet. Am Ende jedes Kapitels steht jeweils eine Summary und Literaturempfehlungen.  Exercises and Questions zum Abschluss weisen auf einen Übungs- bzw. Anleitungscharakter.
Was nirgends im Wortlaut vorkommt, ist Netnographie  – allerdings steht der Begriff bei diesen AutorInnen, die darüber bekannt geworden sind, immer im Hintergrund. Es geht zumeist nicht um die (n)ethnographische Perspektive, sondern anwendungsbezogen um Marketingpraxis. Was mich daran interessiert? Es ist das Konzept eines technokulturellen Ecosystems, mit dem sich unsere Gegenwart und Zukunft beschreiben, verstehen und damit auch gestalten lässt.

Figure 4.1.: Influencer & Creator Ecosystem aus Marketing- Perspektive — (erscheint nach Klick in voller Auflösung) S. 89

So lassen sich das Ecosystem in dem sich Influencer und Digital Creators entfalten, aus zwei Perspektiven betrachten: in der Abb. links als ein ökonomisches Cluster- aber ebenso auch als gesellschaftliche Formationen, die in einer gesellschaftlichen Dynamik stehen.  Nebenbei: die Bedeutung von Pet Influencern ist in der Graphik wohl etwas übertrieben 😉

Influencer Marketing ist mittlerweile zu einer Industrie mit Umsätzen in Milliardenhöhe** angewachsen, international werden 13.8 Mill. $ (2021) angegeben – allerdings ist das Feld oft schwer abzugrenzen.
Gegenüber konventionellen Werbeformaten haben viele Menschen Resistenzen entwickelt. Influencer Marketing rückt nach, verspricht den Werbetreibenden einen direkten, “authentischen” Weg zum Kunden, Berufseinsteigern einen eigenen Weg in die Existenzgründung. So hatte mir Niklas Hartmann 2021 sein Buch Erfolgreich Influencer werden: Mehr Follower, Reichweite und Einkommen.  zugestellt. Eine Anleitung dazu, was man wissen und können muss.
Sind Influencer in diesem Sinne Werbetreibende, sind Digital Creators (im Buch) begrifflich outgesourced. Fotografen, Texter, Moderatoren, Illustratoren auch Moderatoren etc. haben immer Werbekampagnen mitgestaltet und manchmal zeitgeschichtliche und zeitästhetische Werke geschaffen – also an sich nichts neues.  Neue Möglichkeiten werden sich v.a. in den immersiven Umgebungen, genannt Metaverse ergeben – im Buch heisst es  Avatar Economy (334).
Skeptisch machen mich Handlungsweisen, in denen soziale Beziehungen,  ökonomisch  instrumentalisiert werden – es hat immer einen Beigeschmack. So können Influencer nach Followerschaft gebucht werden, der Follower und potentielle Kunde wird ungewollt zur Ware, anstatt zum Dialogpartner.  Zukünftig wird sich das Bild vom Influencer weiter ausdifferenzieren,  viele unterschiedliche Konzepte sind darin vereint: es geht von Ausläufern, manchmal Handlangern der Werbewirtschaft zu eigenständigen Impulsgebern, die ihre eigenen Fähigkeiten, ihren Stil und ihr Wissen einsetzen.

 

Robert V. Kozinets, Ulrike Gretzel, Rossella Gambetti: Influencers & Creators. Business, Culture & Practice. Sage Publ. 2023. 371 S – Mariah Wellman, Ryan Stoldt, Melissa Tully, Brian Ekdale:  Ethics of Authenticity: Social Media Influencers and the Production of Sponsored Content. 3/ 2020. Journal of Media Ethics 35(2):68-82 —  s. auch Influencer und Personenmarken.  Gunn Enli (2015). Mediated authenticity: how the media constructs reality. New York, NY: Peter Lang..—-Niklas Hartmann: Erfolgreich Influencer werden. 300 S., 2021  —  * Snack- Comedy:  gemeint sind Sketche von <1 Min dreizehn  v.a. im Format Reels   ** nach Statista 990 Mio. in der DACH – Region 2019; 



Informalisierung und Formalisierung

Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener, evolutionärer Prozess. Ungesteuert, aber doch von erkennbaren Faktoren beeinflusst und angetrieben.
Seit den späten 60er Jahren wurde in den Niederlanden die Zivilisationstheorie von Norbert Elias breit rezipiert, ausgehend  vom  Lehrstuhl von Johan Goudsblom. Gleichzeitig war es die Zeit spürbarer gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche, in denen die Niederlande, insbes. Amsterdam, eine Art Vorreiter waren.
Naheliegend, Elias’ Zivilisationstheorie darauf anzuwenden. Offensichtlich war allerdings, dass sich ein Prozeß der Disziplinierung der Individuen, der zunehmenden Unterwerfung des Verhaltens unter straffere Regulierungen nicht in dieser Form fortsetzte. Stattdessen zeigten sich neue Ideale: Selbststeuerung, Variationsspielraum und die flexible Anwendung von Verhaltensregeln.

Rückwirkend werden die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der 60er und 70er Jahre meist als Voraussetzung der modernen Welt so wie sie heute ist verstanden. Lange galt das Jahr #68 als Kulminationspunkt, als Synonym für eine zeithistorische Wende. Eine Wende, die fast alle westlichen (und einige andere) Gesellschaften erfasste, vornehmlich getragen von  jüngeren Generationen und einigen intellektuellen Protagonisten. Keine einheitliche Bewegung, wurde sie aber doch als übergreifender Aufbruch erlebt. Es gab politische Radikalisierung und eine Vielzahl von Subkulturen, generell war es ein Aufbegehren gegen starre gesellschaftliche Regeln, Hierarchien und eine rigide Sexualmoral. In (West-) Deutschland kam die Aufarbeitung der Nazi- Vergangenheit hinzu.
Gesellschaftliche Liberalisierung ist ein Vermächtnis des Aufbruchs.  Lockerungsrevolte heisst es etwa bei D. Diedrichsen.

Cas Wouters, Soziologe der Informalisering

Cas Wouters, Soziologe aus dem Umfeld der Amsterdamer Elias/ Goudsblom- Schule  hat seit den 70er Jahren an einer Aktualisierung der Zivilisationstheorie gearbeitet. Zum einen by the book incl. umfangreicher Quellenrecherchen in Dokumenten, dem Muster von Elias folgend auch in Manierenbüchern  von 1890 an* (in NL, GB, D, USA). Kernstück der Analysen ist der Wandel von Emotionsregulierung – von strikten Konventionen hin zu einer Emanzipation der Emotionen. Es geht um Umgang mit Sexualität, Trauer und anderen starken Gefühlen, um Machtdifferenzen. Trauer bspw. unterlag lange Zeit verpflichtenden Regeln des Verhaltens und deren äusserer Darstellung, u.a. in der Kleidung – heute ist Trauer weitgehend individualisiert. Sichtbar ist die Suche nach neuen Ausdrucksformen und Ritualen.
Säkularisierung ist eine Begleiterscheinung, in den Niederlanden z.B. brachen die Konfessionen als einst tragende Säulen (verzuiling) der Gesellschaft weitgehend weg.

Auf dieser Basis von Quellenforschung und Beobachtungen geht die  Informalisierungsthese als eine Modifizierung der  Zivilisationstheorie auf Wouters zurück – seit den 80er und 90er Jahren (vgl.  Van Minnen en Sterven) immer wieder präzisiert. Informalisierung bedeutet nicht einfach Permissivität, den Wegfall von Zwängen, sondern setzt neue Anforderungen an Selbststeuerung.
Für die 80er Jahre konstatierte Wouters gegenläufige Prozesse einer Re– Formalisierung, einen auch anderswo oft beschriebenen Rollback. Die Renovatio des Kapitalismus seitdem war nicht allein eine Gegenreaktion, viel öfter eine Übernahme von Entwicklungen, die sich gesellschaftlich bereits verbreitet hatten. Formalisierung und Informalisierung werden so als zwei Phasen von Zivilisationsprozessen verstanden, die in einer Art Spirale miteinander verflochten sind. Der Neue Kapitalismus, wie ihn Boltansky/ Chiaretto (1999)  beschrieben, übernahm die sog. Künstlerkritik an fehlender Authentizität, Kreativität bedeutete nun eine ökonomische Ressource. Werbung und Marketing übernahmen Prinzipien von Gegen- und Popkulturen – The Conquest of Cool.  Bis dahin, bzw. aus der zeitlichen Distanz, bleiben die Trends erkennbar und übersichtlich und stimmen weitgehend mit der Informalisierungsthese überein.

Frage ist, wieweit das Modell von Informalisierung/ Formalisierung zum Verständnis aktueller Gesellschaften beiträgt. Ohne die in der Informalisierungsthese beschriebenen Prozesse wären die Entwicklungen der Folgejahrzehnte kaum vorstellbar. Ohne die Schübe von Informalisierung wären viele Innovationen zumindest ganz anders verlaufen.
Wo stehen wir jetzt? Auch der Aufbruch der digitalen Moderne ist mittlerweile ca. ein  Vierteljahrhundert alt. Grenzen zwischen vertrauten Umgebungen, in denen Gemeinschaft empfunden und gelebt wird und weitgehend formalisierten Räumen der Gesellschaft sind oft verwischt. Muster von #Consozialität treten immer wieder als gemeinschaftsstiftend auf: “what we share“ – ähnliche Interessen,  ähnlich erlebte Erfahrungen – das sind die Bedingungen unter denen informell verhandelt wird.
Fast alle Bereiche der Lebenswelt sind mittlerweile auf ökonomische Verwertbarkeit ausgemessen (vgl.. u.a. Sharing Economy). Dabei haben sich eine ganze Reihe kultureller Muster und Bedeutungen verschoben: eine manchmal an einem sehr formellen Code haftende Wokeness – wird von anderen als  herrschende Ideologie diffamiert,  ein ressentimentbehafteter, sich lautstark als rebellisch gebender Populismus trat auf. Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute ist damit eine schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung gemeint.
Die Nachfolger der Strömungen, die im vergangenen Jahrhundert Informalisierung angetrieben hatten, sind oft stilbildend: eine Ästhetik des authentischen Erlebens findet sich oft,  bin in die Spitzengastronomie. Formale Repräsentativität, plakativer Luxus sind auf dem Rückzug, gelten eher als  BlingBling für Oligarchen.

Gesellschaftlicher Wandel – oder spricht man besser von Erneuerung? – geschieht selten nach Plan und festen Regeln. Neue Räume, neue Möglichkeiten sind zunächst unregulierter (Frei-) Raum. Einige Entwicklungen haben wir im Social Web erlebt (vgl. #die Macht der Plattformen).
Was eine an die Elias’sche Zivilisationstheorie angelehnte Betrachtungsweise interessant macht, ist, Prozesse auf mehreren Ebenen in eine Perspektive zu rücken: vielleicht die Weiterentwicklung der Lebenswelt, die Ausformung des Habitus und auch der Technogenese, die von ihrer Gesellschaft geprägte technische Infrastruktur. Soweit einige Gedankenstränge zusammengeführt …

Cas Wouters: Informalisierung. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhúndert. Hagener Studientexte zur Soziologie, 1999. -* Cas Wouters:  Informalisering. Manieren en emoties sinds 1890. 2008 Have Civilising Processes Changed Direction? Informalisation, Functional Democratisation, and Globalisation. In: Historical Social Research 45 (2,) 3/20: 293-334. Civilisation and Informalisation: Connecting Long-Term Social and Psychic Processes: Connecting Long-Term Social and Psychic Processes Van Minnen en Sterven  Sex and Manners. — Vgl. auch Zivilisation und Habitus in der Digitalen Consumer Culture



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