Tendenzen 2024 – Landnahmen, Hypes, Konflikte & Konsens

2024 by Adobe Firefly

Die Saison der Jahresrückblicke ist fast vorüber. Zu 2023 wurde das meiste gesagt: Die Krisen wie im Jahr zuvor – von denen eine – Corona –  immerhin überwunden scheint. Zu dem einen Krieg kam ein zweiter,  Klima- und andere Umweltkrisen, wie das Artensterben,  gehen weiter voran.

Der Hype zu KI setzt sich fort, mit der  Verbreitung ihrer Funktionen wächst der Einfluss der beteiligten Konzerne.  Digitale Infrastrukturen strukturieren die gesellschaftliche Kommunikation incl. der Konflikte und Konsense. Dazu – etwas lose miteinander verbunden – Tendenzen für 2024.

In der digitalen Welt  sprach man v.a. von Hypes:  Der Hype zu KI/ Chat GPT überlagerte und verdrängte die Vorgänger  Blockchain bzw. Web3 und Metaverse.
Allen drei Hypes gemeinsam war bzw. ist die Perspektive einer neuen Infrastruktur und damit der Entwurf einer neuen Zukunft – Futures Appropriation ist der Begriff, der eine solche Aneignung von Zukunft ausdrückt, immer wieder  erkennbar am Halbsatz  …  ist die Zukunft.
Web3 mit Blockchain, NFTs und Tokens wurde als folgerichtig nächste Stufe des Internet propagiert, als eine dezentrale Erneuerung. Ist seit längerem als anarchokapitalistische Zockerbude abgehakt.
Der Hype zum Metaverse ist eher gesundgeschrumpft. Das zu Meta umetikettierte Social- Media Imperium (Facebook, instagram, WhatsApp) hat sich mit Verlusten zurückgezogen. Metaverse beinhaltete immer – wenn auch oft unausgesprochen – die Vorstellung einer parallelen Welt, einer durchgängigen virtuellen Erfahrung, ein begehbares Internet. Dezentrales, interoperables, beständiges, mit allen Sinnen wahrnehmbares digitales Ökosystem mit unbegrenzter Nutzerkapazität* – so lautete die Definition eines Social Metaverse.
Davon ist keine Rede mehr, stattdessen von immersiven Medien bzw. dem von Apple propagierten Spatial Computing. Letzteres meint die Interaktion mittels physischer Signale wie Gesten, Stimme, Blickrichtungen, die als Eingaben für interaktive digitale Mediensysteme funktionieren.
Der einmal verbreitete Begriff Metaverse lebt weiter, so im Industriellen Metaverse, das derzeit von Siemens propagiert wird: Zielgerichtete Anwendungsfälle in Unternehmen, die auf reale Herausforderungen und Geschäftsanforderungen ausgerichtet sind (vgl).
Immersive Medien bleiben auf nützliche und einige besondere Anwendungen beschränkt: Trainings, Simulationen von geplanten Projekten, in Architektur, Verkehr, im medizinischen Bereich, bei Produktpräsentationen bis hin zu Einrichtungsentwürfen, hinzu kommen besondere Unterhaltungsangebote  und ganz sicher  Games.
Die Vorstellung einer parallelen Welt zählt – genauso wie die einer nicht- menschlichen Intelligenz – zu den immer wiederkehrenden, archetypischen Erzählungen. Die Möglichkeit der technischen Verwirklichung hat eine besondere Anziehungskraft, bewirkt ebensolche Aufmerksamkeit und setzt Gestaltungsphantasien frei. 

Der Hype zu KI/ Chat GPT hat breitere Wurzeln geschlagen. Manchen Quellen nach war der Erfolg nicht erwartet worden. Nutzung und Verbreitung wurden aber schnell  so umfangreich, dass der Client und das Interesse daran kaum wieder verschwinden werden. Das ganze Jahr über konnte man fast Woche für Woche Veranstaltungen dazu besuchen – ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr und in welcher Breite generative KI Menschen beschäftigt.
Mit der Volksausgabe Chat GPT konnte jeder herumexperimentieren, so hat generative KI in vielen Lebensbereichen und Professionen Fuss gefasst, als (versuchte) Automation, wie als eine Art thinking companion, Denkbegleiter: bei Schülern und Studenten, in Anwaltskanzleien, in der Finanz- und der Werbewirtschaft u.v.m.  – und sie wird als wichtigste Neuerung seit iPhone und Social Media erlebt.
Vor wenigen Tagen (10.01.24) öffnete der Chat GPT Store. So werden allseits Parallelen zum iPhone gezogen. Ein Schritt zur Plattformisierung? Angeboten werden allerdings ziemlich einfach zu erstellende Clients.  Ein wirkliches Geschäftsmodell scheint damit noch nicht verbunden.
Ihre Kraft bezieht generative KI aus den Ressourcen, mit denen sie gefüttert wird. Genug davon ist urheberrechtlich geschützt. Ein Stoff für Konflikte mit den Eignern von Urheberrechten. Die grösseren davon, werden ihre Interessen bewahren können- zu vielversprechend sind die Geschäfte. Was man beobachten wird, ist die sog. (digitale) Landnahme der KI, in welchen  Funktionen sie sich weiter verbreitet – und wer den letztendlichen Nutzen daraus zieht.

Big Tech Is Bad. Big A.I. Will Be Worse – so lautete ein Essay in der New York Times im Juni 23.   Ganz wie Big Tech – oder noch mehr – konzentriert sich eine zentrale Infrastruktur in den  Händen weniger Konzerne – in diesem Falle Microsoft und Google.
Plattformen sind zweiseitige Märkte: Zuerst behandeln sie  ihre Nutzer sehr gut; dann instrumentalisieren sie ihre Nutzer, um die Dinge für ihre Geschäftskunden besser zu machen; schließlich instrumentalisieren sie diese Geschäftskunden, um den gesamten Profit für sich selbst zu behalten. Dann sterben sie. So sieht es in etwa der kanadische Autor Cory Doctorow¹. Eine Gesetzmässigkeit? Haben Social Media ein Verfallsdatum? Doctorow bedient sich dabei des drastischen Ausdrucks Enshittification – was sich etwa mit Beschissenwerdung übersetzen lässt. 
Dieser Prozess lässt sich derzeit bei Twitter/ X, aber auch anderswo beobachten. Haben Unternehmen zuviel an Macht werden sie zu herrschaftlichen Institutionen. 

Social Media waren lange Zeit ein überraschend stabiles System, dass sich um eine Handvoll zentraler Plattformen und Dienste dreht. Twitter nahm dabei einen besonderen Platz ein: In seinen Anfängen bedeutete Twitter ein enorm spürbares Empowerment seiner Nutzer – richtig eingesetzt, ermöglichte es vorher ungeahnte Reichweiten. Nicht nur in der Weite, auch in der Schnelligkeit und der Möglichkeit der gezielten (@)Adressierung und der thematischen #Bündelung. Ein Twitteraccount mit vielen Followern bedeutete medialen Einfluss – ein Status, der erarbeitet werden musste.
In den besten Momenten war es eine globale Öffentlichkeit – Ereignisse liessen sich in Echtzeit mitverfolgen. Zumindest im deutschsprachigen Raum war Twitter vorwiegend Ort der politischen Kommunikation. Journalisten, Politiker – Meinungsinfluencer gaben den Ton an. Eine Geldmaschine war Twitter nie, trotz aller medialen Aufmerksamkeit blieb es eine Plattform in der Nische.

Was folgt? Neben Twitter/X stehen drei Plattformen im Blickfeld: Bluesky hat wohl die Anmutung des alten Twitter, viele Funktionen fehlen aber noch. Mastodon stammt aus der Open Source Bewegung- manchen Nutzern zu nerdig, kann damit das sog. Fediverse an Einfluss gewinnen?  Threads, der Kurznachrichtendienst von Meta  Imperiums konnte mit der Kopplung an Instagram gleich mit der grössten Nutzerzahl starten. Von vielen Nutzern werden seine Möglichkeiten begrüsst – auf mich macht es den Eindruck eines ergänzenden Feldes der von Meta anvisierten Influencer- und Creatorökonomie.

Verschärfen sich gesellschaftliche Konflikte? In den ersten beiden Wochen 2024 konnte man den Eindruck gewinnen.
Dem gegenüber stehen zentrale Ergebnisse aus  TriggerpunkteKonsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.  Der manche überraschende und beruhigende Befund ist, dass in großen Fragen, wie Ungleichheit, Diversity,  Klimakrise, Migration ein zumindest vermittelbarer Konsens herrscht. An den Rändern arbeiten aber Kräfte an der Verschärfung und Polarisierung von Konflikten. Fazit der Autoren: Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder ja.
Eine Conclusio
: Mit Social Media hat sich die Lautstärke und die Affektivität politischer Konflikte verändert. Gesellschaftliche Diskurse sind weniger strukturiert. Veröffentlichungen, Zirkulation und Rezeption folgen einer anderen Logik.
Neue Infrastrukturen haben oft unerwartete Nebenwirkungen. Über die  Triggerpunkte bin ich auch auf eine bislang wenig beachtete Studie² gestossen, mit u.a. folgender Aussage:  In Autokratien und werdenden Demokratien können sie (Social Media) zu einer Zunahme der politischen Partizipation führen, während es in etablierten Demokratien wahrscheinlicher ist, dass politisches Vertrauen verloren geht und die Polarisierung verschärft wird.

vgl,:  ¹Cory Doctorow: Pluralistic: Tiktok’s Enshittifications.: Here is how platforms die: first, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die.  —Und:  The Internet Con.  How to Seize the Meansof Computation. Verso. London & New York, 2023.  79 S. 
* so Carsten Rossi vom BVDW (Bundesverband Digitale Wirtschaft) – Johannes Franzen: Die Beschissenwerdung des Internets. Wie Plattformen langsam verrotten. Kultur und Kontroverse 4/23. David Karpf: ChatGPT’s FarmVille Moment. The immediate future of generative AI looks a little bit like Facebook’s past. The Atlantic. 12.01.2024. Damon Beres: Chat GPT is Turning the Internet into Plumbing. What does life online look like filtered through a bot. The Atlantic. 13.12.2023.  Daron Acemoglu & Simon Johnson:  Big Tech Is Bad. Big A.I. Will Be Worse. In: New York Times (9.06.23). Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Suhrkamp Verlag 10/2023  Matthias Quent: Deutschland kippt nach rechts In: Republik.ch 13.12.23.  Michael Seemann: Künstliche Intelligenz, Large Language Models, ChatGPT und die Arbeitswelt der Zukunft. Hans- Böckler- Stiftung 9/23 download. — ² Philipp Lorenz- Spreen et al:  Modelling opinion dynamics under the impact of influencer and media strategies. In Nature. Human Behaviour 7/1 (2023)



Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (Rez.)

Triggerpunkte sind maximal verspannte Punkte, Muskelverhärtungen, von denen andauerndes  Schmerzempfinden anderswo in Körper ausgehen kann. Im Röntgenbild sind sie nicht zu sehen, aber gut zu ertasten und zu behandeln, so dass Schmerzen schnell gelindert werden können. Triggerpunkttherapie ist eine Methode der Physiotherapie*.
Emotionale Trigger rufen vergangene, oft traumatische Erfahrungen wieder zurück:  Wut, Angst, Traurigkeit, Schmerz – seelische Verletzungen aus der Vergangenheit werden durch Auslöser – Trigger – plötzlich wieder präsent.
Triggerwarnungen haben sich in Social Media verbreitet. Einstellungen für sensible Inhalte heisst es etwa bei instagram und TikTok – sie warnen vor Auslösern, gemeint sind meist Gewalt, Drogen, sexuelle Darstellungen.
Umgangssprachlich ist getriggert– sein ein mittlerweile weit verbreiteter Anglizismus. Ein plötzlicher Auslöser heftiger emotionaler Reaktionen – meist negativer, in manchen Verwendungen aber auch positiver Art – wenn etwas ganz besonders anspricht, emotional nicht in Ruhe lässt. Getriggert tritt an Bedeutungsstellen etwa von es nervt oder es macht mich an.

Triggerpunkte der Gesellschaft sind die neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschiessen, an denen Konsens, Akzeptanz oder auch Indifferenz in deutlichen Dissens oder gar Gegnerschaft umschlagen (245/46). Bestimmte Debatten werden mit grossem Erregungsüberschuss geführt,  ein emotionalisiertes Geht gar nicht setzt eine Schranke. Kleine Themen mit grossem Erregungspotential sind etwa Gender*sternchen, Lastenfahrräder, Bürgergeld, kriminelle Clans, aber auch das Tempolimit, Kreuzfahrten oder SUVs. Reizpunkte einer Gesellschaft werden deutlich.

Triggerpunkte. Konsens und Konflikte in der Gegenwartsgesellschaft –  von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (HU Berlin) ist zunächst eine Antwort auf und zugleich Entkräftung von Polarisierungsthesen zum Auseinanderdriften der Gesellschaft und der dazu gehörenden Formel von der Spaltung der Gesellschaft. Selber verstehen die Autoren ihre Studie als eine politische Soziologie der sozialen Ungleichheit (38/39).
Es geht um Revisionen verbreiteter Thesen, so denen zur Spaltung und Polarisierung der deutschen Gesellschaft in zwei entgegengesetzte Lager- etwa nach US- amerikanischen Muster. Damit verbunden ist die These, dass in den westlichen Demokratien klassenbasierte von identitätsbasierten Konflikten abgelöst worden seien – eine oft verbreitete Entgegensetzung von Klassen- und Identitätspolitik (32/33).
Gewinner und Verlierer in einem Transformationsprozess werden immer wieder klischeehaft gegenübergestellt: auf der einen Seite Träger des Wandels als linksliberal, universalistisch, kosmopolitisch – abwertend als  abgehobene Eliten – auf der anderen Seite kommunitaristisch, nationalstaatlich orientierte Traditionalisten mit einem Mangel an Toleranz – mit einem Schwerpunkt in der ostdeutschen Provinz.
Auch wenn es manchmal Beispiele gibt, die dem entsprechen, eine gleichzeitig materielle, kulturelle und politische Spaltung in neue Grossgruppen mit sich auseinander entwickelnden Werten und Interessen (12) ist nicht erkennbar.  Nebenbei: materiellen Verlierern wird damit auch noch eine kulturelle, fast verhärmte Rückständigkeit unterstellt.

Solche verbreiteten Gegenwartsbilder – und einige mehr – stehen im Hintergrund. Die Krisenhaftigkeit mancher Entwicklungen wird nicht abgestritten, der grundlegende Tenor der Studie ist nuancierter – was bei der umfangreichen empirischen Basis zu erwarten ist. In dieser empirischen Breite liegt dann auch die Bedeutung des Buches zur Gegenwartsdiagnose.
Neben einer bundesweiten Umfrage mit 2.530 Teilnehmern, zählen Fokusgruppen aus Berlin und Essen, dazu spezielle Krisisgruppen d.h. nach konträren Wertorientierungen ausgewählte Gruppen, die aufeinander prallen – (man könnte Krawall- Fokusgruppen sagen) – zu dieser Basis.

Vier Themenfelder und ihr Konfliktpotential stehen im Vordergrund: Vermögensungleichheit, Migration, Diversität/ sexuelle Selbstbestimmung, Klimakrise.  Die Themen sind sog. Arenen zugeordnet – gemeint sind damit die sozialen Räume der Öffentlichkeit, in denen sich Einstellungen und Loyalitäten herausbilden. Bezeichnet werden sie alle –  nicht unmittelbar verständlich – als Arenen der Ungleichheiten: zunächst die Ungleichheit, die im allg. als solche bezeichnet wird, die Vermögensungleichheit; das Thema Migration fällt in die Innen- Aussen Ungleichheit; Sexuelle Selbstbestimmung/ Diversität in Wie- Sie Ungleichheit; das Klimathema in Heute- Morgen Ungleichheit (vgl. 407 ff).  

Taxonomie der Trigger (276) – nach Klick in voller Ansicht

Vier typische Trigger schälen sich heraus, die die Affekte auslösen:  Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstösse, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen.  – Menschen fühlen sich getriggert, wenn immer spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie verletzt werden (248). Rote Linien werden erreicht, wenn stillschweigende Grunderwartungen gebrochen werden. Entscheidend ist, ob man sich selber als Manövriermasse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse – oder als deren Mit- Gestalter*Innen erlebt (271).

Die Beschreibung und Interpretation der der empirischen Ergebnisse nimmt einen weiten Teil der 420 Seiten (+111 S. Anmerkungen) ein – das bedeutet zahllose Details – und Argumentationsmaterial.
Ein paar davon  seien erwähnt: Trotz wachsender Vermögensungleichheit  taucht diese kaum in der  politischen Diskussion  auf. Ungleichheit wird weitgehend als positiver Anreiz gesehen, der zu wertvollen Anstrengungen anstachelt (85). (Einkommens-) Ungleichheit wird im Leistungsprinzip hochgehalten.  Jeder ist für sein Fortkommen selbst verantwortlich. Die stärkste Zustimmung findet diese Sichtweise übrigens in einkommensschwächeren Schichten. Tief verankert sind eine  Erwartung von Gleichbehandlung, verbunden mit der Akzeptanz eines neolíberalen Erfolgsmythos. Egalitär- meritokratische Moralökonomie, die ein fundamentales Gleichbehandlungsgebot mit Verdientheitsunterscheidungen paart – so heisst es in ausgeprägt soziologischer Sprache (87).

Es  tauchen auch immer wieder  Beobachtungen auf, die Ansätze für neue Überlegungen bieten: So etwa, dass sich Konflikte zwischen Klassen oder zumindest Statusgruppen auf einen verschärften  Wettbewerb von Individuen verlagern (117).

Triggerpunkte. Konsens und Konflikte in der Gegenwartsgesellschaft hat seit dem Erscheinen im Oktober 23 die grosse Runde durch Feuilletons, Podcasts, Video- und Rezensionsportale gemacht. In der FAZ gab es gleich zwei Rezensionen (14.10 u. 21.11.).  Wahrscheinlich ist es schon jetzt die meistbeachtete  Gesellschaftsanalyse der letzten Jahre, zumindest seit Reckwitz Gesellschaft der Singularitäten 2017, oder bis hin zur Risikogesellschaft von Ulrich Beck 1986. Dank des detaillierten empirischen Fundaments wird sie in den kommenden Jahren wohl immer wieder zur Argumentation herangezogen werden.
Das Buch wurde weitgehend mit Beruhigung aufgenommen: Die gespaltene Gesellschaft gibt es nicht – so oder ähnlich lauteten mehrere Überschriften. Stattdessen eine Mehrheit der Gesellschaft, in der in vielen Fragen weitgehender Konsens herrscht, in der sich Liberalisierungsprozesse verbreitet haben. Konfrontation und Polarisierung wird von den Rändern aus betrieben. Die Autoren fassen selber in einer Mikro- Quintessenz zusammen: Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder ja (380).
Die Trigger, die Aufreger kennt man sowohl aus der öffentlichen Diskussion, wie aus dem eigenem Erleben bis ins private Umfeld. Triggerpunkte ist alsTitel  eingängig, hat das Potential vielfacher Verwendung – als Schlagwort in Diskussionen bis in die Alltagssprache, bestens geeignet um Zumutungen einzuleiten und zu kommentieren – im Sinne von etwa und was sind so Ihre Triggerpunkte?  
Manchmal erscheinen Trigger als ritualisierte, mindestens
memefizierte¹ Abfolgen. Wenn auf Reizworte die immer selben Reaktionen erfolgen. Mit Social Media hat sich die Lautstärke und die Affektivität politischer Konflikte  (334) verändert. Gesellschaftliche Diskurse sind weniger strukturiert. Veröffentlichungen, Zirkulation und Rezeption folgen einer anderen Logik.
Beachtenswert ist ein Verweis auf eine andere Studie zur Auswirkung von Social Media auf Gesellschaften: In Autokratien und werdenden Demokratien können sie (Social Media) zu einer Zunahme der politischen Partizipation führen, während es in etablierten Demokratien wahrscheinlicher ist, dass politisches Vertrauen verloren geht und die Polarisierung verschärft wird (335)².
Schliesslich beschreiben die Autoren Polarisierungsunternehmer*innen, die sich über den Ausbau von Triggern und politischer Frontenbildung bis hin zur Entzivilisierung von Diskursen profilieren (375 ff). Zugenommen haben explizit rechte Einstellungen nicht, aber sie werden erfolgreicher mobilisiert. Was sich in anderen westlichen Ländern oft schon eher verbreitete, konstatieren Beobachter³ mittlerweile auch hierzulande: einen klaren Rechtsruck in den öffentlichen Diskussion. So etwa wird woke geradezu zu einem rechten Kampfbegriff frisiert.
Soziale Konflikte sind nie einfach nur da, sie werden auch gesellschaftlich hergestellt: entfacht, angeheizt, getriggert.

Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Suhrkamp Verlag 10/2023 *  Getriggert? Ein Psychologe erklärt, warum Trigger nicht bloß ein Meme sind  Spiegel online, 19.03.2019 -* s. Therapiezentrum-Waldheim.      ¹ – memefiziert- von Meme: ein Phänomen aus Social Media – ²vgl. Philipp Lorenz- Spreen et al: A systematic review of worldwide causal and correlational evidence on digital media and democracy. In Nature. Human Behaviour 7/1 (2023) ³ Matthias Quent: Deutschland kippt nach rechts In: Republik.ch 13.12.23.



Status und Kultur im Digitalen Zeitalter (Rezension)

Status kann man sich nicht nehmen, man bekommt ihn zugewiesen. Fremde müssen wissen, warum man etwas Besonderes ist, damit sie einen besonders gut behandeln. Es muss also etwas geben, das anderen Menschen hohen Status signalisiert – so Autor David Marx in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung*.

Status ist eine Grösse sozialer Wertschätzung und bezeichnet  die Position   innerhalb einer sozialen Hierarchie, die sich nach Respekt   und wahrgenommener Wichtigkeit skaliert (6). Statuspositionen sind immer kontextuell – darauf basierend, wie wir an bestimmten Orten eingeschätzt und behandelt  werden –  und diese Statusposition bestimmt sehr oft die Qualität unseres täglichen Lebens. Das gilt nicht nur für die Anforderungen, sich in den zeitgenössischen Gesellschaften zu behaupten, sondern es sind menschliche Universalien, die durch die Geschichte hindurch in allen sozialen Formationen bestehen.  Die Ausdrucksformen von Status – die (Status-) Symbole, wandeln sich aber fortwährend.
Der Subtitle How Our Desire for Social Rank Creates Taste, Identity, Art, Fashion, and Constant Change stellt das Streben nach Status und sozialem Rang als wesentlichen Antrieb von kulturellem Wandel und Innovation voran. Statusstreben ist kein Spiel, sondern eine Art sozialer Grammatik, die sowohl individuellem Handeln wie sozialer Organisation zugrunde liegt. Wir alle konkurrieren um Status – und bedienen uns kultureller Muster, um ihn zu gewinnen und zu erhalten. s.a. ⁴
Ein Thema wie Status kommt an Bourdieu nicht vorbei. Bei Bourdieu war Geschmack ein sozialer Indikator, der Grenzen zwischen sozialen Gruppen markierte – und den Status von Eliten sicherte. Empirische Basis waren detaillierte soziologische Forschungen im französischen Bildungsbürgertum  in den 60er Jahren. Die Konzepte des  sozialen und kulturellen Kapitals, der Distinktion und des Habitus sind heute allgemeingültige soziologische Standards. Die inhaltliche Basis ist mittlerweile eine historische Momentaufnahme.

An Status and Culture interessieren v.a. die Veränderungen in den letzten Jahrzehnten, im Übergang von analog zu digital: Wie haben sich die Bedingungen von Erwerb, der Ausdruck, die Darstellung von Status mit der Digitalisierung verlagert bzw. verändert?
Marx greift die Bourdieu’schen Kapitalbegriffe auf,  in der kapitalistischen Gesellschaft garantiert  economic capital – cash, wealth, and property – den offensichtlichsten und wirksamsten Beitrag zu High status.  Geld verschafft viele weitere Möglichkeiten, im Status aufzusteigen – soziale Position und social benefits sind unentwirrbar miteinander verbunden – das gilt weiterhin. Genannt werden einige neue Varianten: etwa bodily capital – die Investition in Schönheit und Fitness – educational und occupational capital – der Statuseffekt von Ausbildung und Beschäftigung. Generelles Merkmal Sozialen Kapitals ist, in den jeweils dominierenden Statusgruppen als gleichrangig behandelt zu werden.
Menschen streben nicht unbedingt den höchsten Platz auf der Statusleiter an, erstrebenswert ist oft eine komfortable soziale Position. Höherer Status bringt erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit mit sich – die eine entsprechende Performance erfordert. Statusabsteiger hingegen entwickeln oft Ressentiments, individuell oder als Gruppe.

Inhaltliche Basis von Status and Culture ist ein grosser Streifzug durch die  American (Popular) Culture der letzten Jahrzehnte. Auch dort waren Geschmackswelten zunächst deutliche Marker sozialer Positionen, kurzgefasst: der klassischen Hochkultur zugeneigte Eliten, Mittelschichten mit intellektuellen Neigungen und eine etwas schmalzige Massenkultur.
Die folgenden Verschiebungen sind weitgehend bekannt: Der Link zwischen der Creative-class und der Counterculture (135 ff),  the Conquest/ Vereinnahmung of Cool durch die Werbewirtschaft, die Verbreitung von  Hip Consumerism etc. Sicherlich geht auch die aktuelle Kritik an kultureller Vereinnahmung auf die Übernahme von subkulturellem Kapital schwarzer Gemeinschaften durch weisse Mittel- und Oberschichten – etwa seit der Jazz- Ära – zurück. Alle diese Trends waren längst vor der Digitalisierung im Gange.

The Internet Age (Chapter 10; 223 ff) – steht für die ganze Epoche mit all ihren technologischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Umbrüchen. Von den späten 90er Jahren an, als es sich in der Breite  durchsetzte  – bis hin zur globalen Ubiquität, die es mit dem Smartphone und High Speed für mobile Geräte erreicht – und mittlerweile auch  visuell in  den Alltag vordringt:  Fifteen years ago, the internet was an escape from the real world. Now, the real world is an escape from the internet³
Marx konstatiert die Ausbreitung einerViralen Kultur, der es an Tiefe und Gewicht fehlt und die wenig neue Sensibilitäten und Stile schafft.  Der Status von Influencer & Creators ist flüchtig. Eine andere Entwicklung ist der wachsende Status der Informationswirtschaft sagen wir der  Digitalen Leute –  die Kompetenzen, die gebraucht werden, in diesen Branchen erfolgreich zu sein, werden immer mehr als  als gerechtfertigtes Kriterium für einen höheren Status angesehen. 
Social Media sind geradezu obsessiv mit der Quantifizierung von Rankings und Ratings, mit Likes, Repostings, Followern. Der Versuch den Status im Klout Score messbar zu machen wurde allerdings 2018 eingestellt.

Zwei etwas seltsam klingende, erklärungsbedürftige Begriffe ziehen sich  durch den Text: Omnivorism (anderswo auch Omnivorousness) und Poptimism – ersterer meint einen – ‘alles verschlingenden’ – Kulturkonsum, der sich nicht mehr nach elitärer Hoch- und Popularkultur aufteilt, Poptimism ist ein Kofferwort aus Pop und Optimismus, das sich in der Musikkritik verbreitet hatte – und etwa Justin Bieber, Britney Spears oder Lana del Rey den gleichen Rang gewährt wie Indie und Art Rock.

Status bleibt eine integrale menschliche Erfahrung – und ist dazu einer der verbreitetesten soziologischen Begriffe – wir werden ihn nicht los:  Unser Auftreten, unsere Fähigkeiten, unsere Kreditwürdigkeit werden fortwährend bewertet, in jeder sozialen Struktur  – gleich  welcher technischen Integration: – auch in einem Metaverse wird es Statusunterschiede geben (272).
Status and Culture erschliesst das Konzept Status in einer neuen Breite, gewährt Einsichten zu neuen Beobachtungen zeitgeistiger Trends. Im Abschluss steht die Aufforderung zu einer reflektierten Gesellschaft, die sich der Hintergründe und Ursachen bewusst ist. In der Fülle der Bezüge verschwindet aber immer wieder eine stringente Führung der Argumentation – und es gibt vieles, was sich lohnt, noch einmal näher zu betrachten.
Die zeithistorische Dimension von Status and Culture stimmt weitgehend mit anderen Modellen überein: mit der Theorie von Informalisierung und Formalisierung, mit der Beobachtung der Individualisierung der Massenkultur.  Das Modell der Valorisierung von Konsum bei A. Reckwitz kann mit dem Hip Consumerism zumindest in eine Reihe gestellt werden. Auf jeden Fall setzt Status and Culture zahllose Bezüge zur Digitalen Gegenwartsgesellschaft – die sich weiterhin beobachten lassen.

Es ist ein sehr (US-) amerikanisches Buch  – es badet geradezu in American Popular Culture –  deren weltweite Gültigkeit kaum etwas so sehr repräsentiert wie die Sneakers der Taliban²  (228, vgl NYT). Die beobachtete Welt ist das American Status System⁵, die Consumer Culture in ihrer US- amerikanischen Ausprägung, mit Blick in zahllose Details, wie etwa die Cup Cakes aus Sex and the City, die Simpsons oder das Sauerteigbrot und das Craft Beer der Digitalen Leute. 
Abgesehen von dem erwähnten Interview in der SZ gibt es keine  prominenten Reaktionen in deutschsprachigen Medien -eine Übersetzung ist auch nicht zu erwarten. Autor David Marx lebt in Tokyo. 

David Marx: Status and Culture: How Our Desire for Social Rank Creates Taste, Identity, Art, Fashion, and Constant Change- Viking Press, New York , 09/2022  *”Protz-Konsum ist für Akademiker ein Tabu” – Jannis Brühl – Interview mit David Marx – Süddeutsche Zeitung, 11.10.23 – Christoph Maeder: Status – ein vielschichtiger Begriff mit soziologischen Implikationen –  ** aus: Sorokin, Pitirim A. Social and Cultural Dynamics. Vol. 1, Fluctuation of Forms of Art. New York: Bedminster, 1962. – ²Die Cheetah Sneakers der Taliban werden zwar in Pakistan hergestellt – Style und Popularisierung entstammen aber der American Popular Culture. ³ —  Seitenangaben beziehen sich auf die kindle Ausgabe ⁴ s.a. Status and culture are so intertwined that we can’t understand how culture works without understanding status. And the best way to understand the status structures of society is to observe how they manifest in cultural patterns (XVII). ⁵vgl: Fussell, Paul. Class: A Guide through the American Status System. New York: Touchstone, 1983.



Die Landnahme der generativen KI

Foto: Emiliano Vittoriosi unsplash.com

Seit der Bereitstellung von Chat GPT ist generative KI/ AI der Hype des Jahres. GPT steht für Generative Pre-trained Transformer. Generative KI erkennt Muster aus den Daten, mit denen sie trainiert wurde und kann ausser Text auch Bild ( so  Midjourney – seit 16.08 auch Adobe), Code, Ton etc. ausgeben, grundsätzlich sind ganze Videosequenzen möglich. Die Ausgabe ist so gut, wie sie mit Inhalten versorgt und trainiert wurde.

Das erste Erlebnis ist meist verblüffend: Generative KI kann brauchbare Texte, in sich stimmige Ergebnisse ausgeben (Chat GPT berechnet Wahrscheinlichkeiten, so kann es auch plausibel klingende, aber falsche oder unsinnige Antworten ausgeben). Es braucht dazu keine Programmierkenntnisse,  der Chatbot als Benutzeroberfläche, die Bedienung über die Tastatur, die Dialogform machen den Zugang einfach. Kein anderes Tool im Netz hat sich jemals zuvor so schnell verbreitet, kaum eine Software wurde in solcher Breite auf ihre Möglichkeiten und ihre Anwendbarkeit getestet – sicherlich im Interesse der Anbieter und Investoren.

Chat GPT ist die Volksausgabe der KI: Gebrauchstexte jeder Art, E- Mails, Produktbeschreibungen und Marketingkampagnen werden bereits damit erstellt, Schüler lassen sich Hausaufgaben schreiben, Juristen durchforsten Gesetzestexte und Gerichtsurteile. Bewerbungsschreiben haben sich seitdem grundlegend verändert.  Kaum eine Agentur, die nicht über ihre Erfahrungen bloggt und postet. Welche Arbeitsgänge sich damit sinnvoll automatisieren lassen wird fortwährend ausprobiert.
Das ist noch der Anfang – generative KI ist so in viele Bereiche des Alltags- und Berufslebens eingedrungen und wird dort verbleiben. Grundsätzlicher Tenor ist bislang der eines nützlichen Assistenten, der Arbeitsschritte vereinfacht, oder des Sparring Partners bei der Ideenfindung. Manchmal kann man die Nutzung mit der einer erweiterten Google- Suche oder der Recherche in der Wikipedia vergleichen: Chat GPT erschliesst das im Netz vorhandene Wissen (mit Sperrdatum Sept. 2021).

Mit dem Begriff der Künstlichen Intelligenz hadere ich immer wieder. Der Vergleich bzw. Leistungsabgleich mit nicht- künstlicher, menschlicher, Intelligenz drängt sich immer wieder auf – eine Konkurrenz zum menschlichen Denken, Angst vor Kontrollverlust steht im Hintergrund. KI als Begriff wurde seit  seiner Einführung immer wieder kritisiert, hat sich aber dennoch verbreitet. KI Systeme folgen lediglich programmierten Algoritmen.  Beschreibungen wie “aus Daten lernende Systeme” sind wohl zu sperrig.

Die grossen Digitalkonzerne expandierten entlang sozialer Graphen Bild:mburpee/flickr.com

Digital Landgrab, deutsch Digitale Landnahme¹  kam als Begriff seit etwa 2010 auf. Bezeichnet wurde damit der Ausbau von Reichweiten im Digitalen Neuland  des Social Web,   die schnellst mögliche Besetzung strukturierender Funktionen. Auch in der Diskussion zum Überwachungskapitalismus  kommt der Begriff  immer wieder vor.
In der Soziologie gibt es das um Klaus Dörre und Carolin Amlinger entworfene Theorem der Landnahme des Finanzkapitalismus.  Näher an digitaler Landnahme liegt die Landnahme im Informationsraum (Boes et al. 2/2015). 

Eine Ableitung ist Graphnahme – was zunächst unverständlich klingt, dann aber eine bestimmte Dynamik auf den Punkt bringt:  es  bedeutet die Einnahme von Einflusszonen und Geschäftsfeldern entlang sozialer Graphen.  Bei der Expansion von Facebook stand der Social Graph im Zentrum: Soziale Graphen stellen Beziehungen zwischen einzelnen Entitäten dar – the global mapping of everybody and how they  are related ², das Ziel von Facebook war und ist, diesen Social Graph weiter auszuweiten, so dass er möglichst viele Menschen und Objekte umfasst. Michael Seemann hat mit diesem Modell in Die Macht der Plattformen die Expansion der  Plattformunternehmen beschrieben.
Facebook (incl. instagram und What’s App) expandierte über den Graphen der sozialen Verbindungen, Google über den Graphen der Interessen, Amazon über den Consumption Graph, Apple und Google teilen sich den Mobilfunkgraph (Seemann 2021, 159). Die Dominanz  der Plattformunternehmen beruht auf dem Wissen über die Verbindungen – ein entscheidender Machtfaktor.

Die Landnahme des Roboters im Wohnzimmer – erzeugt mit Adobe Firefly

Lässt sich das Bild einer Digitalen Landnahme sinnvoll auf den Durchbruch generativer KI anwenden?
Bisher wurde mit Digitaler Landnahme die Einnahme von Funktionen und Geschäftsfeldern beschrieben:   Airbnb  und Uber waren weitere Beispiele für  die Landnahme in bereits bestehenden Geschäftsfeldern. Gegenüber Uber gab es mehr Widerstände, die Landnahme von Airbnb hatte u.a. auch urbanistische  Auswirkungen.
Welche Funktionen, welche Geschäftsfelder generative KI einnimmt, ist ein Prozess, der gerade erst begonnen  hat. Die Technologie verbreitet sich von unterschiedlichen  Branchen aus. In der Kommunikations- und Marketingbranche spricht man mehr davon, wahrscheinlich verbreitet sie sich ebenso sehr in Bildung, Rechtswesen, Versicherungen und Finanzdienstleistungen. Die Landnahme ist im Gange.
Chat GPT ist noch in der Einführungsphase. Ein Geschenk der Hersteller an die Nutzer? Wohl genauso wenig, wie es die Google- Suche war. Sollen ebenso wie damals, Felder besetzt werden, bevor jemand anderer zuvorkommt? Es gibt Potential für Plattformen und Spezifizierungen die ebenso entlang von Graphen  ihren Einflussbereich ausbauen können.

Bessere Ergebnisse brauchen bessere und präzisere Eingaben bzw.  Anweisungen an den Chatbot. Prompt Engineering ist die überlegte Eingabe  möglichst exakter Anweisungen – eine Aufgabe menschlicher Intelligenz – ohne die richtige Fragestellung keine guten Ergebnisse.

Kritik bzw. Einwände leiten sich zumeist von der Verwendung des Trainingsmaterials ab: Generative KI stützt sich millionenfach auf Texte, Bilder, Code – auf den ganzen Schatz des Wissens, des Stils und der Bedeutungen, der ins Internet gelangt ist oder dort erzeugt wurde.  All das wurde bis dahin von Journalisten, Schriftstellern, Bloggern, von Illustratoren, Codern etc verfasst, fotografiert, gecodet, arrangiert, oft urheberrechtlich geschützt. Ist es kulturelle Aneignung, geistiger Diebstahl, diese Quellen ohne Zustimmung der Urheber als Trainingsmaterial zu nutzen? Ein Arsenal der Stilvorlagen?  Mit einigen Quellen haben die Betreiber mittlerweile Verträge abgeschlossen, so mit der Nachrichtenagentur AP (s. SZ, 23.07.).
Generative KI transportiert zudem die in Ursprungstexten enthaltenen Meinungen und Einstellungen, von der sie im Standard eine Art Median erzeugt. Rassistische Diskriminierung oder geschlechtsspezifische Verzerrungen werden genannt und sollen vermieden werden. Und: die Erwartung einer  Schwemme von KI- erzeugtem Spam. 

Schliesslich die Gefahr, dass immer mehr Entscheidungen an Maschinen und Algoritmen delegiert werden, somit ausserhalb demokratischer Kontrolle.  Je komplexer die Gesellschaft wird, desto attraktiver könnte es werden, Planungen und Evaluation an Maschinen zu delegieren (vgl. Th. Fuchs, 2022). 

¹Landnahme als soziologisches Konzept:  Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr (7/2015) Landnahme im Informationsraum. Neukonstituierung gesellschaftlicher Arbeit in der „digitalen Gesellschaft”.  10(1). Jaron Lanier: There is No AI. The New Yorker 20.04.2023. There are ways of controlling the new technology—but first we have to stop mythologizing it James Bridle: The Stupidity pf AI. The Guardian 16.03.23  Matthew Hudson: Can we stop Runaway A.I. ?  The New Yorker. 16.05.2023 – Micah Sifray: The AI Land Grab Begins. The Connector. 16.05.2023 Thomas Fuchs: Human and Artificial Intelligence: A Critical Comparison(6/2022) Jürgen Geuter (tante@tante.cc) : Bullshit, der (e)skaliert. Golem 16.03.23.  Afri- Cola: afri und die künstliche Intelligenz . Brühl/ Janisch/ Kreye: Einfach nur hungrig. Künstliche Intelligenz und Urheberrecht. Süddeutsche Zeitung 23.07.2023.  — vgl. auch : ChatGPT: Wie künstliche Intelligenz den Anwaltsberuf revolu­tioniert (7/23). Zum Urheberrecht: F. Reinholz und K. Berlage: KI und Copyright – wie hält es ChatGPT mit dem Urheberrecht? (3/23)

 



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