Digitale, algorithmische, plebejische Öffentlichkeit …

Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk ploppen die Diskussionen zum Wandel digitaler Öffentlichkeit und der Plattformen immer wieder neu auf. Ganz besonders auf der re:publica24 und in ihrer Folge. Der Verlust von Twitter wurde geradezu betrauert. Hat die digitale Öffentlichkeit aufgehört eine vernetzte Öffentlichkeit zu sein? Findet eine vernetzte Öffentlichkeit einen anderen Ort, wird sie überdeckt durch die algorithmische Zuweisung gesponserter Inhalte? Oder entsteht etwas ganz neues?

Für einen beachtlichen Teil der Nutzer ist  X/Twitter nach dem Besitz-/ Machtwechsel nicht mehr akzeptabel, sie haben das Netzwerk verlassen. Andere bleiben mit einem pragmatischen Verweis auf die Reichweite.
Ist es angemessen, Elon Musk einen Faschisten zu nennen? – wo er doch Rechtsradikalen eine Basis ermöglicht – oder ist es generell die absurde Geld- und Machtfülle einzelner Oligarchen, die eine Gefahr für zivilgesellschaftliche Öffentlichkeiten bedeutet?
Digitale Öffentlichkeit war immer als eine Überwindung des Sender-Empfänger Modells begrüsst worden. Die grossen Visionen der sich herausbildenden Netzöffentlichkeit des Web 2.0 waren der freie Zugang zu Information, d.h. die Demokratisierung des Wissens und damit verbunden eine partizipatorische Kultur, die gesellschaftliche Energien freisetzt, Zukunft zu gestalten.
Das Freie Netz hatte sich damals zwar gegenüber den geschlossenen Systemen wie AOL durchgesetzt,  wurde aber bald wieder von einem neuen Vermarktungssystem eingefangen: Die Sammlung von Verhaltensdaten wurde zur neuen Geschäftsgrundlage. Ein Geschäftsmodell, das wahrscheinlich erst  im nachhinein entdeckt wurde. Das Freie Netz behielt einige Freiräume – die Gewinne wurden vom weiter wachsenden BigTech abgeschöpft.

Der Kanzler auf der re:publica 2022

Von allen Grossveranstaltungen hat die Re:publica – Das Festival für die digitale Gesellschaft – in Berlin am meisten den Gedanken der digitalen Öffentlichkeit hochgehalten. Bereits im Namen spiegelt sich der Anspruch ein Ort zu sein, an dem die Themen der digitalen Öffentlichkeit zur Sprache kommen.
Ein Format, wie es sich in dieser Breite und Grössenordnung wohl nur in Berlin entfalten konnte. Dort war/ist eine grosse Szene von AktivistInnen mit Verbindungen in Kultur, Wissenschaft und Politik gewachsen.
Der Begriff Öffentlichkeit ist zwar nicht final definiert, die Verwendung orientiert sich aber meist an der von Habermas beschriebenen bürgerlichen  (im Sinne von Citoyen)  – heute sagt man meist – zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Michael Seemann, Autor von Die Macht der Plattformen, verwies auf eine Art Co-Evolution zwischen re:publica und Twitter – was man wohl auf die Nutzung im deutschsprachigen Raum eingrenzen kann.
Twitter war zu Beginn der Social Media Ära eine Art Initialzündung, konstitutiv für Vernetzungen mit neuen Möglichkeiten: personell über die @- Verbindung,  thematisch gebündelt  über #Hashtags. Es stand für ein Szene- Building, ein Empowerment für AktivistInnen, die oft zu Meinungsinfluencern wurden.

In seinen besten Momenten war Twitter am nächsten an einer globalen Öffentlichkeit, in der sich Nachrichten und Meinungen am schnellsten verbreiteten. Manche Ereignisse liessen sich in Echtzeit verfolgen. Twitter wurde von Journalisten, Politikern, Aktivisten etc. genutzt – von Menschen und Institutionen, die Informationen verbreiten.  Twitter war aber auch die Basis von Donald Trumps öffentlichem Auftreten.
Eine einfache Erklärung der Verbreitung bietet die Affordanztheorie mit dem  Angebotscharakter: Objekte, in diesem Falle Plattformen,  legen einen bestimmten Gebrauch nahe. Technik gibt nicht die Struktur vor, aber sie ermöglicht sie bzw. macht sie wahrscheinlich.
Entscheidend ist hier, dass die Inhalte dauerhaft für ein möglichst weitgefasstes und relevantes Publikum sichtbar sind, sie auf einfache Weise aufgefunden und sie miteinander geteilt werden können.

Jede Gesellschaft bringt ihre eigene Medialität hervor – das geht zurück bis in rein mündliche  Stammesgesellschaften und setzt sich fort bis in die digitale – was auch immer – Moderne (vgl. Metamoderne). Ist die Herausbildung einer digitalen Öffentlichkeit eine überwiegend kulturelle Entwicklung – die technische Entwicklung und Medienangebote letztendlich definiert?  Ein Prozess, vergleichbar mit dem der Technogenese.
Es sind mehrere Akteure:  Anbieter, Entwickler und Investoren medialer Angebote. Nutzer im einzelnen, aber auch als einer Gemeinschaft, die den Wert einer Öffentlichkeit erkennt und sich dementsprechend verhält. Investoren (nicht in jedem Falle identisch mit Anbietern) interessieren letztlich die Gewinne.

Was vordem Twitter war, verteilt sich nun auf mehrere Plattformen:  X mit der immer noch bei weitem grössten Reichweite, Bluesky kommt im look & feel dem alten Twitter am nächsten, Mastodon hat zumindest seine Gemeinde erweitert – und Threads ist in das Meta/ Facebook Imperium integriert.  Es gibt Gründe anzunehmen, dass alle vier nebeneinander bestehen bleiben – und ihre eigenständigen Merkmale weiter ausbilden.
Übernehmen  die Plattformen selber die Verteilung von Informationen kommt es zu algorithmischen Öffentlichkeiten – eine neue Art gesteuerter Massenmedien mit weitreichendem  Machtzuwachs der Betreiber.
Die grundlegenden Möglichkeiten vernetzter Öffentlichkeit sind, anders als vor 15, 20 Jahren, nichts neues mehr. Ein freies Internet, eine digitale Öffentlichkeit  muss immer wieder neu aufgebaut/ erstritten werden. Letztlich sind es die digitalen Öffentlichkeiten selber, die sich den Raum – einen Common Meeting Ground – schaffen.

Neben der bürgerlichen kommt bei Habermas eine weitere Form der Öffentlichkeit vor: die plebijische Öffentlichkeit*. Klingt von einem Grossintellektuellen zunächst arrogant. Der Begriff stammt von Beschreibungen der vorindustriellen Unterschichten in Europa. Als charakteristisch wird  eine fehlende Trennung  von Öffentlichkeit und Privatsphäre, eine Ausrichtung auf Sensationen  genannt. Zumindest erinnert das Konzept an Formen von Öffentlichkeit, wie wir sie aus Reality- TV Formaten und von Social Media Kanälen, in denen endlose Streams um Aufmerksamkeit ringen, kennen. Und es sind diese Kanäle, auf denen (rechts-) populistische Parteien besonders erfolgreich agieren.

Inwieweit sich eine Art immersive Öffentlichkeit – ein Socialverse  in Zukunft herausbilden kann, ist Spekulation. Es wäre etwa das, was zu Zeiten des Metaverse Hype 2022  diskutiert wurde: It is the sum total of all publicly accessible virtual worlds, real-time 3D content and related media that are connected on an open global network, controlled by none and accessible to all **. 

vgl.u.a. : Michael Seemann: Krasse Links 18. 2.06.2024: Dominik Kalus: Twitter ist zu einer Nazi-Propaganda-Waffe geworden.  BR 17.06.2024. re:publica 2024: Verloren auf Plattformen... Markus Reuter: Wer Musk hofiert, hofiert Rechtsradikale. Netzpolitik.org 22.03.2024. Gunnar Sohn: Über ein Leben mit und ohne Twitter. 3.06.2024. * Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ausgabe stw 1990, S. 16. ** Tony Parisi: The Seven Rules of the Metaverse. 10/2021



Was Populisten wollen (Rezension)

Populismus ist ein Gespenst, das umgeht in Europa – und darüber hinaus noch mehr. Bei der US- Präsidentschaftswahl im Herbst 2024 steht die Zukunft der Demokratie auf dem Spiel – davon sind mehr als drei Viertel der US- Amerikaner überzeugt (30).
Stimmenanteile von Rechtspopulisten sind fast überall weit über 20 bis 25% hinaus-geschossen. Selbst in oft als musterhaft geltenden  liberalen Demokratien wie Schweden und den Niederlanden sind sie mittlerweile an der Macht beteiligt. In anderen Ländern droht Systemübernahme.
In Deutschland hatten sich rechtspopulistische Strömungen lange Zeit immer wieder selbst zerlegt. Mit der AfD haben sie sich gebündelt und zunehmend radikalisiert. Deutschland kippt nach rechts ist mehr als ein Schlagwort.

Marcel Lewandowsky,  Politikwissenschaftler an der Uni Mainz, steigt mit der Frage Was Populisten unter Demokratie verstehen ins Thema ein. Fünf weitere Kapitel bauen nachfolgend darauf auf: Über das, was Populisten für das Volk halten, wie sie sich inszenieren, wie sie sich auf die Demokratie auswirken und das System verändern, wer sie wählt und schliesslich, wie Pluralisten ihnen begegnen sollten.

Durch das Buch zieht sich eine Grundthese, die zumindest von ihrem Ausgangspunkt her überzeugt: Ein Konzept, das alle Populisten eint. Sie präsentieren sich als Vertreter des wahren Volkes, als die wahren Demokraten, die sich gegen eine korrupte Elite erheben, damit das Volk sein Schicksal bestimmen kann.
Das Volk habe dem € nie zugestimmt – war z.B.  die Losung der frühen AfD, zu einer Zeit, als sie noch längst nicht im Vorbehalt des Rechtsextremismus stand.
Die Legitimation von Populisten gründet darauf, die im Volk verbreiteten Vorstellungen von Normalität, Anstand, Moral (62) zu teilen.  Der gemeinsame Wille zeige sich im gesunden Menschenverstand, in der Moral der einfachen Leute, der schweigenden Mehrheit. Politiker müssen mit dem  Volkes eins sein- nur so können politische Entscheidungen erwachsen, die auf dem Willen des Volkes beruhen. Und was dieser Volkswille ist – legen letztlich populistische Politiker aus.

Populismus existiert nicht als einheitliche Bewegung und ist auch nicht grundsätzlich an Ideologien gebunden. Linkspopulisten, so etwa Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, stellen den ökonomischen Eliten der Banken und Konzerne ein entmachtetes Volk gegenüber (130). Allerdings stellt sich Linkspopulismus nicht grundsätzlich gegen Menschengruppen. Inwieweit sich Querfronten bilden können, ist eine jeweils einzeln auftretende Frage – so ist auch noch offen, wie sich das neugegründete Bündnis Sarah Wagenknecht einordnen lässt.

Demokratie steht auf zwei Säulen: das Volk ist der Souverain, das über sein eigenes Schicksal bestimmt – ein Grundsatz, den Populisten teilen. Wenn dem allein so wäre, wäre mit der Demokratie schnell Schluss, wenn eine Mehrheit dies wünschte. Es ist die liberale Säule, die mit ihren Checks & Balances incl. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit individuelle Freiheitsrechte garantiert. Rechts- Populisten vertreten eine illiberale Demokratie – das Ungarn des Viktor Orban dient gelegentlich als Modell.

Das Populismus- Dreieck von M. Lewandowsky* – nach Klick in voller Auflösung

Definitionskriterien für Rechts-populismus sind primär eine Anti-Eliten-Haltung, eine nationalistische und fremden-feindliche Politik und die Ausgrenzung von Minderheiten¹. Der nebenstehende Screenshot zeigt das Populismusdreieck* des Autors. Gezeigt werden die wesentlichen Elemente des (Rechts-) populismus: das wahre Volk/ Volkszentrierung (li) die Exklusion (re) der nicht- dazugehörenden Aussenseiter und (o.) den Anti- Elitarismus gegen die da oben. Als nicht- dazugehörende Aussenseiter sind vorrangig Migranten gemeint – die Ausgrenzung kann aber ausgedehnt werden, so auf queere Menschen, oder andere, die nicht in das Modell passen.

Der Begriff der Eliten ist soziologisch ziemlich  klar beschrieben (vgl. Wer sind die neuen Eliten). Im populistischen Weltbild dient Eliten als Gegenmodell zum wahren Volk, fast eine Art Chiffre für alles, was dem Willen des wahren Volkes entgegensteht.
Populisten sehen sich gern in einem Abwehrkampf gegen einen medialen Mainstream (148), der von Staatsfunk (ÖRR) und Systemmedien dominiert wird. Es geht um den Besitz der Wahrheit. Das Schlagwort Lügenpresse – mit einer langen Geschichte – wurde hervorgeholt, Feindbilder des kulturellen Gegners aufgebaut. Wokeness, Gendern werden als eine Art bevormundende Projekte der Eliten, als Bedrohung der Demokratie überzeichnet – soweit erfolgreich, dass  diese Konzepte häufiger aus den initiierten Anti- Kampagnen als aus ihrer eigenen Perspektive öffentlich genannt werden. Anti- Woke ist in einigen Kreisen anschlussfähig – im Sinne das wahre Volk gegen die Neue Linke (106). Auch das Grünen- Bashing, oft personalisiert, hat hier seinen  Ursprung.

Populismus kann keine Zukunft** – Fragen ökologischer, sozialer und ökonomischer Transformation interessieren nicht. Umwelt- und Klimapolitik gelten als Ideologie.
Unzufriedenheiten aus unterschiedlichen Anlässen, Ablehnung liberaler Demokratie, massiv im Falle der Corona- Massnahmen, werden kanalisiert und in die gemeinsame Erzählung von der Gefährdung von Volkssouverainität und Identität eingespeist (vgl. 163).

Social Media – als eine der Arenen öffentlicher Meinung – sind für Rechtspopulisten besonders attraktiv (135 ff) – und oft agieren sie erfolgreich.  Verwiesen wird auf den TikTok Account der AfD. Digitale Plattformen  ermöglichen die direkte Kommunikation der Führung mit ihren Anhängern, lässt eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten spüren, es entsteht ein digitaler Scheinkonsens in Kommunikationsblasen, die das eigene Weltbild bestätigen.

(Rechts-) Populismus allein ist noch nicht rechtsextrem. Rechter Populismus bietet dem rechten Extremismus eine Plattform, beide sind aber nicht unbedingt miteinander kompatibel (110). Wo verläuft die Grenze? Sie bleibt unscharf. Eine Faustregel: Ersterem haftet etwas Clowneskes, letzterem etwas Dämonisches an.
Figuren wie Björn Höcke fallen jedenfalls nicht mehr in den Rechtspopulismus. Sie steigen in dessen Strukturen auf. Mit zunächst neutral klingenden Begriffen wie Ethnopluralismus werden Konzepte eingeführt, die definitiv mit liberalen Auffassungen von Gesellschaft brechen.
Das Unbehagen, dass hinter manchen harmlosen bis polternden Erscheinungen Netzwerke stehen, die die liberale Demokratie umkrempeln wollen – und dabei strategisch vorgehen, bleibt.

Das Buch liest sich flüssig, rollt das Phänomen Populismus von einer These der Vorstellung des wahren Volkes aus ab. Die Entwicklungen in den USA und in Deutschland werden zwar am häufigsten berücksichtigt, aber auch die in anderen Ländern, wie Frankreich, Brasilien, Ungarn, Österreich, Grossbritannien u.v.m herangezogen.
Im sechsten und letzten Kapitel geht es darum, wie  Pluralisten ihnen begegnen sollten. Manche Konservative, wie z. B. Friedrich Merz übernehmen Themen, erklären die Grünen zum Hauptgegner. Solche Strategien spielen  eher Populisten in die Hände. Dagegen steht eine demokratische Polarisierung, die Unterschiede (zwischen demokratischen Parteien) herausarbeitet, ohne den Gegner zu brandmarken (244).

Einige Verweise, die im Buch nicht vorkommen, möchte ich ergänzen: In Triggerpunkte (Steffen Mau et al., 2023), der aktuell wohl empirisch detailliertesten Gesellschaftsanalyse, beschreiben die Autoren Polarisierungs-unternehmer_Innen (375ff), die den Ausbau von Triggern/ potentiellen Konfliktpunkten, vagabundierenden Unzufriedenheiten zu  politischer Frontenbildung betreiben, bis hin zu einer Dezivilisierung betreiben. Eine wesentliche Strategie rechtspopulistischer Führung.
Damit übereinstimmend sprach Cornelia Koppetsch in Gesellschaft des Zorns (2019) von Zornunternehmern, die Narrative erarbeiten, in denen Zornpotentiale in den Dienst ihrer Ziele gestellt werden können. Das Buch erschien vor  Corona – und gerade in der Pandemie gelang es solchen Zornunternehmern diese Potentiale zu  instrumentalisieren.
Koppetschs Buch wurde zunächst gefeiert, dann wegen  Plagiatsvorwürfen vom Markt genommen. Dennoch enthält es eine ganze Reihe treffender Beschreibungen und Analysen.
Weiter erwähnenswert zum Thema ist Radical Right Populism in Germany: AfD, Pegida, and the Identitarian Movement von Ralf Havertz (2021), leider über den Verlag (Routledge) etwas schwierig zu beziehen.

 

Marcel Lewandowsky: Was Populisten wollen. Wie sie die Gesellschaft herausfordern- und wie man ihnen begegnen sollte, 273 S.  5/24; *Screenshot (14.00) aus  Populismus? Populismen! Für eine wehrhafte Demokratie in Europa. FES-Ringvorlesung zur Zukunft Europas an der Universität Bonn. 29.01.2024 (yt) + Anmerkungen 5/24   ¹nach Damir Skenderovic, NZZ 28.02.24  **von: Zukunft passiert. Institut für  Trend- und Zukunftsforschung;:  Ralf Havertz. (2021) Radical Right Populism in Germany: AfD, Pegida, and the Identitarian Movement (Routledge Studies in Fascism and the Far Right).
Matthias Quent: Deutschland kippt nach rechts. Republik.ch 12/23.   – Mitten unter uns? – Populismus wird mehrheitsfähig. Aktuelle Befragungen des SINUS-Instituts zu politischen Einstellungen in Deutschland und Österreich und weitergehende Analysen. 



Pop-Journalismus und Zeitgeschichte: Diedrich Diederichsen: Das 21. Jahrhundert

Das 21. Jahrhundert – ein anmassender Titel, wenn nicht einmal  1/4 davon geschehen ist? Oder reichen die Wurzeln zurück in ein verfrühtes 21.Jh, beginnend im New York der 1960er? (11)  – So wie man auch von einem langen 19. Jh. spricht. Die ausgewählten Texte stammen jedenfalls alle aus der Zeit nach der Jahrtausendwende.

Diedrich Diederichsen, leading German cultural critic, Universalgelehrter der Popkultur ist der wohl einflussreichste  deutschsprachige Deuter von Pop – seit den Zeiten von Sounds und Spex und mittlerweile eine Person der Zeitgeschichte.
Ein Wackerstein von Buch, eine Compilation mit den Essays, Rezensionen, Manuskripten und Kommentaren des DDiederichsen, die von der Jahrtausendwende an geschrieben wurden. 1112 Seiten, 173 einzelne Beiträge, ca. 2,4  Millionen Zeichen. Kürzer die Artikel aus den Zeitungen, länger die aus den Sammelbänden, Katalogtexten und Periodica, erschienen in taz, Zeit, Sueddeutscher, Theater heute, Springerin, Jungle World usf.

Textsammlungen sind nicht zum linearen Lesen gedacht. Hier wurden die  ausgewählten Beiträge in 15 Kapitel thematisch gegliedert, etwa zu Die  Deutschen und die anderen,  zur Ästhetischen Theorie, das umfangreichste ist Kapitel IV  mit 33 Portraits von Künstler_innen.

Ein anderer Zugang verläuft über das (Personen-) Register, das als proto- digitale Suchstruktur Verbindungen auffinden lässt: Wer kommt wo in welchem Zusammenhang vor? Es sind die Grössen, nicht nur des Pop,  auch von Film, Theater und Bildender Kunst: David Bowie, Miles Davis und John Coltrane, Bob Dylan, Lady Gaga, Madonna & Britney Spears, die Einstürzenden Neubauten, Christoph Schlingensief, Luis Buñuel, Jean- Luc Godard und Rainer  Werner Fassbinder,  Vertreter von Punk und HipHop; als eine Art Urzelle des 21. Jh. erscheint die queere Avantgarde aus dem New York der 60er um Andy Warhol incl Factory + Velvet UndergroundTaylor Swift wird erst in einem nachfolgenden Interview bedacht – als Therapieangebot*.
Und es gibt die Theoretiker, an deren Entwürfen populäre und weniger populäre Kultur immer wieder abgeglichen wird: Michel Foucault, die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie, Walter Benjamin; John Fiske, Begründer der Cultural Studies kommt nur 1x vor.

DD bei der Buchvorstellung im historischen Sta Clara Keller in Köln am 25.04.24

DDiedrichsen hatte einen Stil geprägt, über Pop zu schreiben, mit dem  ein beachtlicher Teil der heute Schreibenden aufgewachsen ist.  Plattenkritik war eine Übung,  emotionale und atmosphärische erlebte Wahrheiten aus Pop- Musik in Sprache zu übertragen. Eine Sprache, die Bezüge aus dem weiten Bogen von Alltagserlebnissen, Stimmungsumschwüngen und dem intellektuellen Überbau verbindet. Pop- Musik war lange Zeit prägendes Medium mehrerer Generationen – wenn sie gut ist– kann sie kurz, schnell, aufbrechend und aufwiegelnd sein (498) – musikalisches Handwerk ist nachrangig, es zählt die Pose, die Performance.  Sie bietet kleine Fluchten, lässt ihre Fans sich faul, hedonistisch oder ausschweifend benehmen (498) – wurde oft als subversiv erlebt, als Gegengift zu einer Disziplinargesellschaft, Subversion und Normativität. 
Das Glück in der frühen Pop-Musik: 8 Meilen über der Schule schweben – ein Beitrag ist so genannt, gemeint ist es etwas anders, aber so lässt sich die Wirkung auf Teenager vorstellen.
Eine Art Leitfunktion hatte Pop- Musik bis etwa um die Jahrtausendwende  inne. Die Essays im Sammelband lassen sich als breitere Kultur- und Zeitgeschichte sehen. Ohne Pop wären sie nicht, aber es geht genauso oft um die benachbarten Künste: die bildenden, Theater, Film – später auch  Serien. Pop- Musik hatte Diederichsen bereits 2014 abgehandelt (mehr dazu: Aufbruch, Pose und Diskurs – Über Pop- Musik – Rezension, 2014). 

Gleich einer der ersten Texte (28-44) fällt ins Auge, in dem ein zentraler Begriff und ein mittlerweile zeithistorisch wirkendes Konzept zusammenkommen:  Der Mainstream und seine Masken: Die Kultur der neuen Mitte – (aus:  Theater heute, 2000).
Mainstream
stand immer für den kommerziell verwertbaren Gegenpol des authentischen Erlebens, meinte ursprünglich die Spielarten des Jazz, die eben nicht als Bebop, Freejazz etc. eigene Wege gingen: Wann immer eine neue Entwicklung, künstlerischer oder sozial-kommunitärer Art, vom Mainstream adaptiert und auf seinen Märkten verramscht wurde, sprach man nun von einer Mainstream-Version derselben Sache, für die man eine Underground-Version als sauber erhalten wollte (29). 
So gibt es Mainstream- Versionen von Punk und Techno, die sich dann für Fan- Meilen und Betriebsfeste eignen. Alternativ-Kulturen  und Mainstream-Alternativ-Kultur et cetera.  Mainstream hat dazu die weitere Funktion, einen Kanon des Bestehenden abzusichern, einen gesicherten Bestand des kulturellen Konsens.
Neue Mitte klingt uns heute historisch – man denkt an die Zeit des Kanzlers Schröder und an die Entdeckung einer Hauptstadtöffentlichkeit zwischen Hackeschen Höfen und als aufregend empfundenen Orten freier Kreativitätsentwicklung.

Aus dem Zeitrahmen der Texte findet sich eine Fülle zeitgeschichtlicher Einzelheiten, wie die WM- Party von 2006, Fuck Parade und Netz-Aktivismus, die Piratenpartei, Querfronten, Joschka Fischer und Sarah Wagenknecht. Der Auftritt der Deutschen Bank,  Popliteratur um Benjamin Stuckrad- Barre und volkskulturelle Details wie das Ar**tattoo. All das wird uns in ähnlicher Form erklärt.

Zusammengehalten werden die >1000 Seiten Materialien durch die Grundidee, dass gesellschaftlicher Fortschritt und künstlerischer Fortschritt zusammengehören (39) – und den unverkennbaren Sprach- und Argumentationsstil: Subjektive Wahrnehmungen, die in einem fortlaufenden Diskurs reflektiert werden – so könnte man das Muster der Texte nennen – das macht sie gut lesbar und nachvollziehbar, oft hat man das Gefühl, an beliebiger Stelle neu  aufschlagen und weiterzulesen zu können.
Woke wird die Grundhaltung  erst seit kurzem genannt – und das meist von einer gegnerischen Seite. Für die Vorstellung von gesellschaftlichem und künstlerischem Fortschritt war und ist sie wohl auch selbstverständlich.
DD ist in seiner Weise unique – am ehesten kann man ihn mit Sascha Lobo vergleichen:  Als Bescheidwisser aus einer Szene, die selber zwar nicht kapitalkräftig ist, aber über eine enorme Deutungsmacht (kulturelles Kapital im Bourdieuschen Sinne) verfügt, die definieren kann, was cool ist und was nicht. Von dieser als eine Stimme akzeptiert: DD als  Chefredakteur der Spex, Lobo als finaler Speaker auf der re publica – die Rollen wurden per Akklamation verliehen.
Dennoch sind in den Texten ganz unterschiedliche Phasen zu erkennen, wie der Autor voranstellt. Wie weit man die Inhalte auf die aktuell dominierenden Themen, wie KI, Klimawandel und die beiden Kriege bezieht, ist dann jedem selber überlassen.

Noch mal zum Pop: Man sollte nicht vergessen, dass es Napster war, die File- Sharing Börse von mp3- Dateien, das den Start zur Plattformökonomie gab – passend zur Jahrtausendwende im Jahre 1999 (vgl. Die Macht der Plattformen).   Antrieb war der Drang zur Verfügbarkeit aller gewünschten Songs als Dateien. Netzkultur und die Welt der Plattformen ist durchtränkt vom Erbe des Pop: digitale Sozialformate haben gegenkulturelle beerbt und ihren Sinn nicht selten ins Gegenteil gedreht, obwohl die vielbeklagte Blase als Generalschlüssel zu einer Theorie digitaler Öffentlichkeit die Effekte simplifiziert (18).
>1000 Seiten sind viel – es bedeutet auch, dass es noch jede Menge Themen gibt, in denen es lohnt, daran anzuknüpfen.

 

Diederich Diedrichsen: :Das 21. Jahrhundert. Essays. 4/2024. 1112 S. * “So kommt man ja nicht weiter” – Interview in der Zeit vom 16.03.204

 



Grünes Wachstum – ein neues sozio- ökonomisches Regime?

So sieht Adobe Firefly “Grünes Wachstum”

Verkaufte Zukunft von Jens Beckert hat einige Diskussionen aufgeworfen  – das Buch selber, in kleinem Kreise auch meine Rezension.

Fasst man Verkaufte Zukunft kurz zusammen, geht  es um einen pessimistischen Realismus, der mit dem Glauben daran  aufräumt, dass die Eindämmung der Klimakrise entlang der auf Konferenzen beschlossenen Klimaziele verläuft.
Die angemessene Reaktion auf den Klimawandel wäre eine Vollbremsung, die schnelle Reduzierung der verschiedenen Belastungen unter die vereinbarten  Grenzen. Ein Lösungsweg, der an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hemmnissen und Konsequenzen scheitert.
Die weiterführende Frage ist die, wie sich denn die von Beckert genannten Hemmnisse, bzw. deren Zusammenwirken überwinden lassen.

Ganz aktuell (5/24) hat Beckert ein Plädoyer für eine realistische Klimapolitik* veröffentlicht – grösstenteils identisch mit dem Schlusskapitel des Buches Wie Weiter (177 – 200).
Man kann es als eine Relativierung des Pessimistischen Realismus sehen – vielleicht ist dieser auch Voraussetzung, um eine realistische Zuversicht zu entwickeln.  Ist der Tenor des Buches  in seinem  längsten Teil – der Logik der kapitalistischen Moderne nach – fundamental pessimistisch –  wendet er sich zum Abschluss bzw. in der Nach- Publikation zu einer Motivation zum Bewusstseins- und Handlungswandel. Ohne geht es eben nicht weiter.

An mehreren Stellen hatte sich Beckert wohl anerkennend ( … Beispiele, die zeigen, wie soziales Leben in einer nicht auf ständiges Wachstum und Steigerung des Konsums angelegten Gesellschaft aussehen könnte, 137),  aber dennoch eher bedauernd über Entwürfe, wie Gemeinwohlökonomie, Slow Cities, Transition Towns geäussert.  In ihrer Grössenordnung liegen sie weit unter den Investitionen in fossile Energien.

Klimakrise ist keine Krise des Ja oder Nein, sondern eine des Mehr oder Weniger – je weniger Anstrengungen, desto mehr Klimakrise. Man kann  nicht einfach weitermachen, sich mit den Folgen abfinden und dann daran anpassen. Mehr Emissionen bzw. Belastungen bedeuten auch wieder mehr und weitreichendere Folgen.
Letztlich geht es nicht nur ums Klima,  sondern um die Gesamtheit  natürlicher Lebensgrundlagen bzw. der biologischen Lebenswelten des Planeten. Zu sehr sind sie in der Ganzheit von menschlichen Aktivitäten beeinträchtigt. Die Grenzen der physischen Landnahme sind längst erreicht, eine Ausdehnung in den Weltraum, ist SF- Spekulation.

Eher nebenbei führt Beckert ein Konzept der Regimes zur Steuerung wirtschaftlicher Ordnung ein. Der Ansatz stammt ursprünglich aus dem Kontext der Regulationstheorie.
In der Entwicklung des Kapitalismus zeigt sich eine Abfolge solcher Regimes. Sie definieren den Rahmen des Entscheidungshandelns.  Diese Grossen Narrative drücken sich in vielen Details der Gesellschaft aus: in  Investitionsströmen, technologischen Innovationen, in den gesellschaftspolitischen Leitlinien, wie etwa der Vorstellung von Wohlstand durch Wachstum und Fortschritt.
Verständlich wird das Konzept beim Einblick in die zurückliegenden Stufen: Fordismus ist geläufig als das Regime der Standardisierung, der Massenproduktion und Verbreitung des Massenkonsums. Gesellschaftlich brachte er breite Beteiligungen am Wohlstand, aber auch einen starken Anpassungsdruck. Im Rückblick wird diese Epoche immer wieder Objekt nostalgischer Idealisierung: Wirtschaftswunder, Trentes glorieuses, Great America (again).
Das folgende marktliberale Regime stellte den Markt als Ordnungsprinzip voran. Wahrscheinlich trifft Der neue Geist des Kapitalismus (Boltanski/ Chiapello 1999)** die Integration von Markt- und gesellschaftlich/ kultureller Liberalität am treffendsten. Unter dem Dach des marktliberalen Regimes fand so die Entdeckung der Kreativität als Wirtschaftsfaktor statt. Prinzipien wie z.B.  durch eigene Anstrengung kann sozialer Aufstieg gelingen – fanden verbreitete Akzeptanz. Souveräne Konsumentscheidungen gehören zum Kern des marktliberalen Freiheitsbegriffes (116).
Ökologische Folgen des Wirtschaftswachstums wurden zwar zunehmend thematisiert,  waren aber in beiden Regimes nicht vorrangig. 
Periodisierungen von Gesellschaft
gibt es zu Genüge – man denke an Abschnitte der Moderne, incl. Post- und Metamoderne, verschiedenen Stufen von Industrialisierung und kulturellem Wandel –  dazwischen lassen sich aber Parallelen entdecken.

Bedeutet Grünes Wachstum ein neues Regime zur Steuerung wirtschaftlicher Ordnung? Ein erneuerter Kapitalismus bedeutet hier, dass  Investitionsströme, technologische Innovationen, Konsumverhalten in Richtung Klimaneutralität  gelenkt werden.
Unternehmen als grösste Organisationskörper moderner kapitalistischer Gesellschaften² machen das nicht von alleine. Die Geschäftschancen entstehen erst durch das Zutun des Staates, nur wenn dieser langfristig stabile Rahmenbedingungen schafft, kann der Motor privater Investitionen ins Laufen kommen (s. 144).  Die Veränderung wirtschaftlichen Handelns kann daher nur in der Umgestaltung von unternehmerischen Anreizstrukturen bestehen, in  finanziellen Anstößen wie durch regulative Vorgaben.
Das ist eine Seite der – eher – optimistischen Perspektiven. Die andere ist eine mehr zivilisatorische des Bewusstsein- und Handlungswandels.

Das sind Veränderungen, die im wesentlichen von der Zivilgesellschaft ausgehen, von unten nach oben. Es geht um Verbreiterung von Bildung und Engagement. Beckert führt auf, dass Maßnahmen zur Klimaanpassung besonders dann Unterstützung finden, wenn sie als soziale Norm wahrgenommen werden, Menschen sie als zielführend erkennen und sie für sich selbst Möglichkeiten sehen, sich daran zu beteiligen (194).
Wege zur Schaffung neuer zivilisatorischer Standards. Oder auch Neue Narrative – Sprache ist das Betriebssystem unseres Bewusstseins, von daher rühren Narrative an Handlungsentscheidungen. Es geht darum, wie eine demokratische soziale Ordnung unter Bedingungen einer unzuverlässiger werdenden Natur und der unvermeidlichen Umverteilung vorhandener Ressourcen weiter entwickelt wird.

Es gibt sicher viele Ansätze zu einem Bewusstsein- und Handlungswandel . Verweisen möchte ich auf Die Neuerfindung des Unternehmertums von Reinhard Pfriem, wo es um den Anteil der Unternehmen geht.
Mit den Thesen von Philipp Staab in Anpassung – Leitmotiv der nächsten Gesellschaft  konnte ich mich nicht wirklich anfreunden. Der Begriff der Anpassung ist zunächst immer  relational – Anpassung ohne An was? hat wenig Aussagekraft. Anpassung kann sowohl ein sich einfügen in bestehende Strukturen bedeuten, wie auch den Rahmen der Möglichkeiten zu erkennen. Im positiven Sinne kann Anpassung bedeuten, Strategien zum Erhalt von Handlungsfähigkeit und der Sicherung erwünschter Zustände in einer Nachmoderne zu entwickeln.

Chat GPTs Image Generator hat ein etwas weniger idylliisches  Bild vom Grünen Wachstum

Soweit eine Ergänzung zu der vorhergehenden Rezension. Ein wenig überschneiden sich beide Texte.
Was ein pessimistischer Realismus an Zuversicht zulässt: Die bestehende wirtschaftliche Handlungslogik hemmt Veränderungen. Die Verbreitung Neuer Narrative kann sie anstossen, evtl. eine nachhaltige kulturelle Dynamik auslösen.  Es gibt Gegenströme – und es gibt eine noch unklare Rolle des Neuen Internet mit AI/KI und Spacial Computing/ Metaverse,

 

Jens Beckert: Verkaufte Zukunft – Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht.  Suhrkamp Verlag, März 2024. 200S.  + Anmerkungen — * Jens Beckert: Zwischen Utopie und Resignation. Plädoyer für eine realistische Klimapolitik In: Blätter für Deutsche und Internationale Politik, Mai 2024. — ¹das Konzept der sozio- ökonomischen Regimes geht zurück auf den Aufsatz Expectations, Narratives, and Socioeconomic Regimes von Robert Boyer, erschienen in dem 2018 von Beckert et al. herausgegebenen Sammelband Uncertain Futures.  Vgl auch:  Robert Boyer: Economie politique des capitalismes: Théorie de la régulation et des crises 2015.   **Luc Boltanski & Ève Chiapello: Der Neue Geist des Kapitalismus . 1999. ²vgl. Reinhard Pfriem: Die Neuerfindung des Unternehmertums – Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution (2021)

 



Klaus Janowitz (klausmjan)

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