Informalisierung und Formalisierung

Zivilisation ist kein einmal erreichter Zustand, sondern im ständigen Wandel begriffen, der Zivilisationsprozess ein nie abgeschlossener, evolutionärer Prozess. Ungesteuert, aber doch von erkennbaren Faktoren beeinflusst und angetrieben.
Seit den späten 60er Jahren wurde in den Niederlanden die Zivilisationstheorie von Norbert Elias breit rezipiert, ausgehend  vom  Lehrstuhl von Johan Goudsblom. Gleichzeitig war es die Zeit spürbarer gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche, in denen die Niederlande, insbes. Amsterdam, eine Art Vorreiter waren.
Naheliegend, Elias’ Zivilisationstheorie darauf anzuwenden. Offensichtlich war allerdings, dass sich ein Prozeß der Disziplinierung der Individuen, der zunehmenden Unterwerfung des Verhaltens unter straffere Regulierungen nicht in dieser Form fortsetzte. Stattdessen zeigten sich neue Ideale: Selbststeuerung, Variationsspielraum und die flexible Anwendung von Verhaltensregeln.

Rückwirkend werden die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der 60er und 70er Jahre meist als Voraussetzung der modernen Welt so wie sie heute ist verstanden. Lange galt das Jahr #68 als Kulminationspunkt, als Synonym für eine zeithistorische Wende. Eine Wende, die fast alle westlichen (und einige andere) Gesellschaften erfasste, vornehmlich getragen von  jüngeren Generationen und einigen intellektuellen Protagonisten. Keine einheitliche Bewegung, wurde sie aber doch als übergreifender Aufbruch erlebt. Es gab politische Radikalisierung und eine Vielzahl von Subkulturen, generell war es ein Aufbegehren gegen starre gesellschaftliche Regeln, Hierarchien und eine rigide Sexualmoral. In (West-) Deutschland kam die Aufarbeitung der Nazi- Vergangenheit hinzu.
Gesellschaftliche Liberalisierung ist ein Vermächtnis des Aufbruchs.  Lockerungsrevolte heisst es etwa bei D. Diedrichsen.

Cas Wouters, Soziologe der Informalisering

Cas Wouters, Soziologe aus dem Umfeld der Amsterdamer Elias/ Goudsblom- Schule  hat seit den 70er Jahren an einer Aktualisierung der Zivilisationstheorie gearbeitet. Zum einen by the book incl. umfangreicher Quellenrecherchen in Dokumenten, dem Muster von Elias folgend auch in Manierenbüchern  von 1890 an* (in NL, GB, D, USA). Kernstück der Analysen ist der Wandel von Emotionsregulierung – von strikten Konventionen hin zu einer Emanzipation der Emotionen. Es geht um Umgang mit Sexualität, Trauer und anderen starken Gefühlen, um Machtdifferenzen. Trauer bspw. unterlag lange Zeit verpflichtenden Regeln des Verhaltens und deren äusserer Darstellung, u.a. in der Kleidung – heute ist Trauer weitgehend individualisiert. Sichtbar ist die Suche nach neuen Ausdrucksformen und Ritualen.
Säkularisierung ist eine Begleiterscheinung, in den Niederlanden z.B. brachen die Konfessionen als einst tragende Säulen (verzuiling) der Gesellschaft weitgehend weg.

Auf dieser Basis von Quellenforschung und Beobachtungen geht die  Informalisierungsthese als eine Modifizierung der  Zivilisationstheorie auf Wouters zurück – seit den 80er und 90er Jahren (vgl.  Van Minnen en Sterven) immer wieder präzisiert. Informalisierung bedeutet nicht einfach Permissivität, den Wegfall von Zwängen, sondern setzt neue Anforderungen an Selbststeuerung.
Für die 80er Jahre konstatierte Wouters gegenläufige Prozesse einer Re– Formalisierung, einen auch anderswo oft beschriebenen Rollback. Die Renovatio des Kapitalismus seitdem war nicht allein eine Gegenreaktion, viel öfter eine Übernahme von Entwicklungen, die sich gesellschaftlich bereits verbreitet hatten. Formalisierung und Informalisierung werden so als zwei Phasen von Zivilisationsprozessen verstanden, die in einer Art Spirale miteinander verflochten sind. Der Neue Kapitalismus, wie ihn Boltansky/ Chiaretto (1999)  beschrieben, übernahm die sog. Künstlerkritik an fehlender Authentizität, Kreativität bedeutete nun eine ökonomische Ressource. Werbung und Marketing übernahmen Prinzipien von Gegen- und Popkulturen – The Conquest of Cool.  Bis dahin, bzw. aus der zeitlichen Distanz, bleiben die Trends erkennbar und übersichtlich und stimmen weitgehend mit der Informalisierungsthese überein.

Frage ist, wieweit das Modell von Informalisierung/ Formalisierung zum Verständnis aktueller Gesellschaften beiträgt. Ohne die in der Informalisierungsthese beschriebenen Prozesse wären die Entwicklungen der Folgejahrzehnte kaum vorstellbar. Ohne die Schübe von Informalisierung wären viele Innovationen zumindest ganz anders verlaufen.
Wo stehen wir jetzt? Auch der Aufbruch der digitalen Moderne ist mittlerweile ca. ein  Vierteljahrhundert alt. Grenzen zwischen vertrauten Umgebungen, in denen Gemeinschaft empfunden und gelebt wird und weitgehend formalisierten Räumen der Gesellschaft sind oft verwischt. Muster von #Consozialität treten immer wieder als gemeinschaftsstiftend auf: “what we share“ – ähnliche Interessen,  ähnlich erlebte Erfahrungen – das sind die Bedingungen unter denen informell verhandelt wird.
Fast alle Bereiche der Lebenswelt sind mittlerweile auf ökonomische Verwertbarkeit ausgemessen (vgl.. u.a. Sharing Economy). Dabei haben sich eine ganze Reihe kultureller Muster und Bedeutungen verschoben: eine manchmal an einem sehr formellen Code haftende Wokeness – wird von anderen als  herrschende Ideologie diffamiert,  ein ressentimentbehafteter, sich lautstark als rebellisch gebender Populismus trat auf. Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute ist damit eine schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung gemeint.
Die Nachfolger der Strömungen, die im vergangenen Jahrhundert Informalisierung angetrieben hatten, sind oft stilbildend: eine Ästhetik des authentischen Erlebens findet sich oft,  bis in die Spitzengastronomie. Formale Repräsentativität, plakativer Luxus sind auf dem Rückzug, gelten eher als  BlingBling für Oligarchen.

Gesellschaftlicher Wandel – oder spricht man besser von Erneuerung? – geschieht selten nach Plan und festen Regeln. Neue Räume, neue Möglichkeiten sind zunächst unregulierter (Frei-) Raum. Einige Entwicklungen haben wir im Social Web erlebt (vgl. #die Macht der Plattformen).
Was eine an die Elias’sche Zivilisationstheorie angelehnte Betrachtungsweise interessant macht, ist, Prozesse auf mehreren Ebenen in eine Perspektive zu rücken: die Weiterentwicklung der Lebenswelt, die Ausformung des Habitus und der Technogenese, die von ihrer Gesellschaft geprägte technische Infrastruktur.

Cas Wouters: Informalisierung. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhúndert. Hagener Studientexte zur Soziologie, 1999. -* Cas Wouters:  Informalisering. Manieren en emoties sinds 1890. 2008 Have Civilising Processes Changed Direction? Informalisation, Functional Democratisation, and Globalisation. In: Historical Social Research 45 (2,) 3/20: 293-334. Civilisation and Informalisation: Connecting Long-Term Social and Psychic Processes: Connecting Long-Term Social and Psychic Processes Van Minnen en Sterven  Sex and Manners. — Vgl. auch Zivilisation und Habitus in der Digitalen Consumer Culture



Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter (Rezension)

Die Gesellschaft des Zorns – Rechtspopulismus im globalen Zeitalter von Cornelia Koppetsch (TU Darmstadt) erschien in diesem Frühjahr, war schnell vergriffen und wurde im Juli als Sachbuch des Monats ausgezeichnet.  Das macht deutlich, wie aktuell das Thema und wie gross der Bedarf nach Erklärungen ist.
Kernthese der Autorin ist, dass Rechtspopulismus einen emotionalen Reflex auf den Epochenbruch zur Globalen Moderne darstellt. Die Reaktion zeigt sich in den Forderungen nach Re-Nationalisierung, Re- Souveränisierung und Re-Vergemeinschaftung (24/25). Re-Nationalisierung stellt sich gegen supranationale Organisationen und Vereinbarungen – my country fírstRe- Souveränisierung fordert eine Wiederherstellung der moralischen Werte und der Vorrechte einer sich als bedroht fühlenden Mehrheit; Re-Vergemeinschaftung ist als Reaktion auf individualistische Markt- und Selbstverwirklichungskulturen zu verstehen und  bezieht sich auf das Volk als Gemeinschaft exklusiver Zugehörigkeit. Solidaritätsbeziehungen sollen in diesem Rahmen verbleiben, der Sozialstaat war immer an den Nationalstaat gebunden.
Eine gesellschaftliche Spaltungslinie verläuft zwischen den transnational/kosmopolitisch Ausgerichteten und den davon Abgekoppelten, die an den nationalen Strukturen der Industriemoderne  ausgerichtet bleiben. Beide Hälften folgen ganz anderen Erzählungen von Gesellschaft/Narrativen.

Diagonale Spaltungslinie: Wählermilieus von Modernisierungsbefürwortern und -skeptikern. Graphik erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster. Quelle: s.u.

Populäre Erklärungsmuster zum Rechtspopulismus sind die Hypothese von den ökonomischen Globalisierungsverlierern und die kulturelle Backlash- These. Zwar liegt der AfD- Anteil im Sinus- Milieu ‘prekär‘ bei 28%, die Wähler von AfD & ihrer internationalen Entsprechungen kommen hingegen aus allen Schichten. Drei Viertel der AfD- Wählerschaft sind Angestellte, Beamte und Selbstständige, ein Drittel der Sympathisierenden zählen gar zu den reichsten 20% der Bevölkerung (99). Nach der Backlash- These ist die Ablehnung kosmopolitischer und postmaterialistischer Werte entscheidend (101), die Umkehrung des sich seit den 70er Jahren verbreitenden Wertewandels.
Bleibt man im Bild der Sinus- Milieus rekrutiert sich die Anhängerschaft v.a. aus konservativer Oberschicht, traditioneller Mittelschicht und prekärem Milieu. Dabei spielen jeweils eigene Motivationen eine bes. Rolle: die Verteidigung sozialer Privilegien, ein kultureller Allgemeinvertretungs-anspruch, zuletzt Verteilungskonflikte. Nicht in den Milieus erkennbar sind besondere Gruppen, wie Evangelikale, Burschenschaften und offen, oft strategisch handelnde Rechtsradikale.
Übergreifende Klammer und Mobilisierungsthemen sind v.a. Islam und Migration (135). Ebenso, aber in geringerem Maße, die Ablehnung von Gender- Themen und Homo-Ehe.

In den acht Kapiteln geht es nicht um Rechtspopulismus als isoliertes Phänomen, sondern um dessen thematische Einbindung in die Kontexte gesellschaftlicher Transformationen: Die Neu- Figuration des politischen Raumes incl. der Transformation der Parteienlandschaft; die Transnationalisierung der Sozialräume, wie Märkte, Unternehmen, Bildungs- und Kultureinrichtungen, persönliche Netzwerke etc., und ebenso die  Wandlungsprozesse im Umgang mit Emotionen und Identität. Neo- Gemeinschaften und die politischen und kulturellen Dimensionen von Heimat werden ausgiebig behandelt.
Wie so oft beginnt die Gesellschaftsdiagnose mit dem Niedergang des korporatistischen Modells der Volksparteien und der mit ihnen verbundenen Organisationen. Durchgesetzt hat sich ein doppelter Liberalismus mit den beiden Säulen des  wirtschaftsradikalen, deregulierten Wettbewerbs und der kulturliberalen Säule von Vielfalt, Toleranz und Selbstbestimmung, Leitbegriff Diversity. Dieser doppelte Liberalismus ist mittlerweile Konsens über ein breites politisches und gesellschaftliches Spektrum.

Theoriegeleitete Empathie
(31, 33) so bezeichnet Koppetsch ihre Methodik – bedeutet zum einen kontrolliertes Fremdverstehen, die Bereitschaft zur Befremdung der eigenen Sichtweise (etwa durch konträre Gesellschaftserzählungen/Narrative), zum anderen eine Erweiterung der Perspektive, um den jeweiligen Realitätsgehalt zu überprüfen – Gesellschaft soll über den Container hinaus gedacht werden. Ausdrücklich setzt sie sich von einer Haltung ab, die AfD- Wähler auf eine Rolle als Symptomträger autoritärer und rassistischer  Haltungen reduziert (32).
Koppetsch verbindet Beobachtungen und Einschätzungen zum Rechtspopulismus mit den soziologischen Debatten zur Zweiten Moderne (Ulrich Beck), und v.a. mit der Distinktionstheorie  von Pierre Bourdieu und mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, einschliesslich der  Fortschreibung der Linien des Zivilisationsprozesses durch die  Informalisierungsthese von  Cas Wouters.  Sehr ausführlich wird u. a. die hybride Kultur der Neubürgerlichkeit und deren Verhaltenscodes beschrieben (hybrid weil sie auf klassische bürgerliche Kultur, wie auch Gegenkultur zurückgeht).  Immer wieder hat man den Eindruck, es ginge im Buch genauso um die Herausbildung des kosmopolitischen Habitus. Es lohnt sich übrigens, diese Entwicklung als eigenes Thema zu behandeln – eines der folgenden Themen im Blog.

Rechtspopulismus hat ein anderes Modell von Gesellschaft. Nicht eine plurale, diverse, auf Ausgleich bedachte Gesellschaft, sondern eine kulturell weitgehend homogen gedachte Gemeinschaft von Nation, Religionsgemeinschaft oder ethnischer Gruppe (49, 168). Volkswille soll unmittelbar in politische Praxis umgesetzt werden. Immer wieder inszenieren sich Rechtspopulisten als Regelbrecher gegenüber dem Mainstream/Establishment. Erstaunlich, denn diese Begriffe bezeichneten vor nicht allzu langer Zeit eine konservative Machtstruktur. Wird hier ein Machtverlust beklagt? Gleicht man die Zielvorstellungen mit den Scenarios der Zukunftsinitiative  D2030  ab, gelangt zum Scenario Alte Grenzen – Vorwärts in die Vergangenheit.
Rechtspopulismus ist eine global auftretende Reaktion auf die globale Moderne, nicht einheitlich, sondern in jeweils eigenen, aber oft ähnlichen Ausprägungen. Parallele Entwicklungen zeigen sich im Islamismus. Dort sollen -oft archaische – Regeln der Religion über allgemeinen liberalen Werten, ja sogar den Menschenrechten stehen.

Es lassen sich noch etliche Einzelthemen, die im Buch behandelt werden erwähnen oder auch ergänzen. So etwa die Rolle von Social Media, De-Zivilisierung  und eine Vulgarisierung politischer Kommunikation. Es bleibt auch ein 20% Anteil (der Gesamtbevölkerung) mit dem Syndrom  gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, eine Zahl aus den Leipziger Autoritarismus- Studien, die seit langem konstant bleibt (97). Was Die Gesellschaft des Zorns auszeichnet, ist die detailreiche und tiefenscharfe Darstellung von Rechtspopulismus im Kontext  gesellschaftlicher Transformationen.
Der Titel des Buches selber geht auf Peter Sloterdijk (2008) zurück.  Zornunternehmer bedeutet, dass populistische Rechtsparteien Narrative erarbeiten, in denen individuelle Zornpotentiale in den Dienst ihrer Ziele gestellt werden können – ein gefühlte Bündnis der Betrogenen (30, 154).

Ein paar Anmerkungen: So bestechend die Konvergenz beider Liberalismen ist, und so deutlich sie häufig im Habitus erkennbar ist – sind denn tatsächlich dieselben weltoffenen Kosmopoliten auch die Träger von Werten wie Vielfalt und Toleranz? Gemeint ist eine Schicht, die auch ökonomisch in der Lage ist, sich abzugrenzen. Auch wenn Werte sich in Entscheidungseliten verbreitet haben bzw. dort eingefordert werden, macht es diese nicht gleich zu deren Trägern.
Und kann man die Obsession Feindbild Islam tatsächlich mit dem klassischen Antisemitismus vergleichen (62)?

Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.    Transcript Verlag, Bielefeld 2019.  283 S. ISBN: 978-3-8376-48138-6.
Graphik zur  Verteilung der Wahlberechtigten:  Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017  . Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider. Bertelsmann- Stiftung. S. 15



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