Das Neue Spiel – Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust (Rez.)

„Es gibt fast keine Lebensbereiche mehr, die nicht von der Digitalisierung betroffen sind. Der Kontrollverlust wird sie alle betreffen…“ (S. 7) Im herkömmlichen Sinne bedeutet Kontrollverlust den Verlust der bewussten Steuerung bzw. Beherrschung des Denkens und/oder des Handelns. Das ist so bei eigener Beeinträchtigung (etwa durch Drogen- oder Alkoholkonsum, Krankheit), und dann, wenn die erlernten und bis dahin bewährten Strategien in einer veränderten Umgebung nicht mehr greifen.
Digitaler Kontrollverlust bedeutet, daß sich Informationen im Digitalen nicht mehr zurückhalten lassen. Niemand ist mehr Herr seiner eigenen Daten. Das gilt für “alle Formen der Informationskontrolle: Staatsgeheimnisse, Datenschutz, Urheberrecht, Public Relations, sowie die Komplexitätsreduktion durch Institutionen”¹. Große Organisationen haben immer darauf gesetzt Informationen zu zentralisieren, den Zugang dazu mit Regelwerken abzusichern.  So wurden Hierarchien gestützt und Prozessabläufe gesteuert. Auf der anderen Seite ging es darum, eine private Sphäre vor Zugriffen zu schützen.
Das neue Spiel: Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust” von Michael Seemann ist bereits im Oktober 2014 erschienen und wurde durch Crowdfunding finanziert. So ist bereits viel dazu und darüber geschrieben worden. Bücher und Texte sind aber nicht zwangsläufig nach einem dreiviertel Jahr veraltet – und  Das Neue Spiel enthält Gedankengänge, die den digitalen Wandel ganz entscheidend beleuchten. Das Buch besteht aus zwei Teilen, im ersten geht es um die These vom Kontrollverlust, im zweiten um die (möglichen) neuen Spielregeln für die Zeit danach.
Digitale Daten werden nicht versendet wie Dokumente oder bewegliche Güter. Sie werden von einer Stelle an eine andere kopiert – bei jedem einzelnen Vorgang: das Internet ist eine gigantische Kopiermaschine. Zu Beginn des Jahrtausends wurde dies etwa der Musikindustrie zum Verhängnis, deren Geschäftsgrundlage durch Filesharing bedroht wurde. Die Verteidigung der Kontrolle mittels technischem Kopierschutz und juristischer Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen griff nicht. Schließlich fand der Vertrieb ein Dach auf Verkaufsplattformen wie iTunes, neuerdings auch in Musikflatrates wie Spotify. Ein frühes Beispiel disruptiven digitalen Wandels.

Daten werden erspäht
Aufzeichnungssysteme verdaten auch die physische Welt – Bild: suze / photocase.de

Angetrieben wird der Kontrollverlust von mehreren Entwicklungen:die steigende Masse an Daten durch die Allgegenwart von Aufzeichnungssystemen” (Kameras, GPS- Tracker, Verbindungsdaten, Bewegungsmelder etc.); die steigende Agilität von Daten durch größere und günstigere Speicher und Bandbreiten – und schließlich erlauben die sich ständig verbessernden und mit mehr Rechenkraft ausgestatteten Analysemethoden immer neue Einblicke in bereits existierende Datenbestände (vgl. S. 22/23). Letzteres bezeichnen wir als Big Data.

Ist der erste Teil des Buches eine Analyse des Umbruchs Digitaler Kontrollverlust, kann man den zweiten als ein Manifest verstehen, das Regeln für das folgende, das Neue Spiel formuliert. Zehn Regeln, denen jeweils eine These vorangestellt ist. Zwei Begriffe sind hervorzuheben: Die Plattform als Infrastruktur für Interaktion und Koordination, und die Query als Instrument der Datenabfrage: entscheidend ist nicht die aufgezeichnete Information, sondern deren Abfrage. Ging es im Alten Spiel darum, wer Informationen speichert, besitzt und kontrolliert, zählt im Neuen die Fragestellung. Macht hat, wer die Plattform kontrolliert  (Regel 6) – und Zugriffe ermöglicht. Das erfordert die Neutralität der Plattform.
Auf jeden Fall ist “Das Neue Spiel” ein originelles Buch – in dem Sinne, das Entwicklungen neu benannt und interpretiert werden. Diskussionen zu Wirtschaft und Gesellschaft können daran anschließen,  somit ist es für längere Zeit aktuell. Nicht zuletzt auch ein leidenschaftliches Pladoyer für offene Daten und Zivilgesellschaft. Auslöser von Buch und Theorie des Kontrollverlustes war u.a. die flächendeckende Überwachung durch den NSA (und andere Geheimdienste) und der Fall Edward Snowden. Die Überwachung ist Teil des Spiels und man wird lernen müssen, damit zu leben – und auch weitgehend ohne den rechtlichen Schutz (in etwa die Positionen von Post Privacy):
“Wenn der Datenschutz seine Vorstellungen von “Personenbezug” durchsetzt, erweitert er seine Kompetenzen auf beinahe Alles. Dann wird er entweder totalitär oder wird an dieser Stelle schlicht und ergreifend ebenso armselig scheitern²….”

Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. 256 S. Orange Press, Freiburg 2014, gebunden 20,-€ /28 ‚- SF
E-Book 5,- bei iRights-Media

¹: http://www.ctrl-verlust.net/glossar/kontrollverlust ² :http://www.ctrl-verlust.net/grechenfrage-big-data/

Netzwerk- vs Plattformgesellschaft

Netzwerke
Netzwerke sind der Lieblingsbegriff der digitalen Moderne

Das Netzwerk ist der Lieblingsbegriff der digitalen Moderne – in der technischen Infrastruktur wie in der sozialen Organisation. Es steht für eine dezentrale Perspektive von Wirtschaft und Gesellschaft. Gutes Netzwerken gilt als Voraussetzung für Erfolg. Blickt man ein paar Jahrzehnte zurück, war der Netzwerkgedanke in den Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre das herrschaftsfreie Gegenmodell (zumindest strebte man das an) zu einer hierarchisch organisierten Wirtschaft. Netzwerkgesellschaft war auch der Titel des ersten Bandes der Trilogie  “Das Informationszeitalter” (1996; dt. 2001) des in Berkeley lehrenden spanischen Soziologen Manuel Castells. Castells analysierte die CatellsInformationsgesellschaft als Nachfolgerin der Industriegesellschaft, die (zumindest in ihrer klassischen Form) hierarchisch-bürokratisch organisiert ist.
Seit Erscheinen liegen mittlerweile etwa anderthalb Jahrzehnte zurück, die Themen sind aktuell geblieben. Netzwerkgesellschaft bedeutet eine neue soziale Morphologie, die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert Prozesse der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur (vgl. S. 527). Netzwerke sind “personalisierte Gemeinschaften“, das neue Muster der Soziabilität ist durch einen vernetzten Individualismus geprägt (vgl. Castells 2005, S. 141).
Technologische Innovation ist kein isoliertes Ereignis, technologische Systeme entstehen gesellschaftlich – und sind von der Kultur geprägt, die sie hervorgebracht hat. Innovation findet dort statt, wo die wissenschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen  gegeben sind.
Zahlreiche Kräfte wirken ein: Bedürfnisse der Wirtschaft nach flexiblem Management, die Globalisierung von Produktion, Kapital und Handel, zivilgesellschaftlicher Wille zu individueller Freiheit und offener Kommunikation,  unternehmerisches Streben nach Gewinn, der staatliche Wunsch nach Kontrolle. Zugang und Ausschluß zu den Netzwerken wird zu einem immer entscheidenderen Faktor – und irgendwann zum Problem derer, die nicht daran teilhaben. Die Frage nach der faktischen Kontrolle des Zugangs wird zu einer entscheidenden Frage.

Plattformen treten uns im Netz in verschiedener Form entgegen: in den großen Social Media Plattformen, wie Facebook, youtube, Twitter, instagram, LinkedIn etc., ebay und amazon marketplace als Handelsplattformen für jedermann. Seit neuerem in der sich bildenden Sharing Economy: airbnb (Übernachtungen) und Uber (Fahrservice) als derzeit bekannteste Beispiele, dazu aber auch Kreditvermittlung von privat zu privat, wie auxmoney, Car Sharing, Transportdienste nach dem Muster von Uber und manches andere.
Plattformen sind Verteilerstellen – die Bedeutung ist im Englischen viel weiter gefasst, so ist platform auch der Bahnsteig – sie standardisieren Zugänge und machen erst viele Möglichkeiten von Netzwerken nutzbar und ermöglichen neue. In der Diskussion dazu wird aber immer wieder ein Unbehagen erkennbar, dahinter stehen stille Befürchtungen neuer Machtstrukturen, nach einer faktischen Kontrolle der Zugänge. Im  Einfluß und Gewinn bringenden Teil der Netz- Ökonomie dominieren wenige Unternehmen. Das Potential einer Sharing Economy ist noch unerschlossen. Tempogeber bleiben die Cluster der amerikanischen Westküste. Zu allen Zeiten haben aber neue Möglichkeiten auch neue Geschäftsfelder eröffnet. Als Ausblick bleibt die Macht der Ströme gewinnt Vorrang gegenüber den Strömen der Macht” (Castells, 2001, S. 527).

weiterführend: Manuel Castells: Die Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie “Das Informationszeitalter”, Opladen 2001 (Orig. 1996); Manuel Castells: Die Internet-Galaxie: Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, 2005 (Orig.: The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business, and Society, 2001), 300 S. Wiesbaden 2005;  Sebastian Giessmann: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netzwerke, 512 S., Berlin 2014;   Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg 2014



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