Öffentlichkeit als geteilte Aufmerksamkeit – (zur Diskussion)

Welche Faktoren bestimmen heute das Zustandekommen von öffentlicher Meinung? Sind es immer noch die klassischen Massenmedien – oder welchen Anteil haben die personalisierten Teil- Öffentlichkeiten der sozialen Medien? Unter dem Titel “Öffentlichkeit als geteilte Aufmerksamkeit – wie sich öffentliche Meinung(en) in der digitalen Welt neu konstruieren” haben wir (das sind Live- Streaming Pionier Gunnar Sohn  und ich) eine Session auf dem Media Camp NRW in Oberhausen am kommenden Samstag vorgeschlagen. Wir wollen die Diskussion dazu anschieben bzw. wieder beleben.

Das Thema ist nicht neu, aber in den Hintergrund gerückt. Über das demokratische Potential des Social Web wird mittlerweile seltener gesprochen, mehr über die Macht der Intermediäre – der Datenkraken, über Filterblasen und Echokammern, über Datenskandale, den Datenkapitalismus und  Destabilisierungskampagnen. Unübertroffen ist das Social Web in der Bündelung von Aufmerksamkeit nach #Themen und #Interessen – der Schaffung von Consozialität, der Verbindung von Menschen nach gemeinsamen Interessen und auch Meinungen.
Vor 15 Jahren, im Dezember 2003, veranstaltete die Bundeszentrale für politische Bildung einen Kongress mit viel Prominenz (u.a. Frank Schirrmacher, Dirk Bäcker, Sabine Christiansen) zum Thema Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0.  Mobiles Internet und Social Media gab es damals höchstens in rudimentärer Form, den klassischen Massenmedien war aber bereits eine neue Form von Öffentlichkeit an die Seite getreten. Eine These dieser Tagung sollte man heute zurückholen: Die sog. Zivilgesellschaft wird zur Fünften Macht im Staate. Sie wird die Hauptgewinnerin der digitalen Revolution sein (Volker Grassmuck). Inwieweit hat sich dies seitdem bestätigt?

Strukturwandel der Öffentlichkeit ist ein zentraler Begriff der Veränderung der Bedingungen und Formen öffentlicher Kommunikation und knüpft direkt an eines der wesentlichen Theoriegebäude zum Thema an, an das von Habermas.
Es ist das Modell der an eine sozialstaatlich verfasste Industriegesellschaft gebundenen Massenmedien mit dem Anspruch einer Durchdringung der gesamten Gesellschaft. Aufmerksamkeit war selbstverständlich und gerne bezeichneten sich die Massenmedien als Vierte Gewalt, Garant der Demokratie.
Ein ganz anderer Zugang zur Herausbildung öffentlicher Meinung waren die Thesen zur Schweigespirale von Noelle- Neumann in den 70er Jahren, mit Bedeutung v.a. in der Demoskopie. Demnach orientieren sich viele Menschen an der Einschätzung des Meinungsklimas. Widerspricht die eigene Meinung der als vorherrschend betrachteten Meinung, so hält man sich zurück. Implizit wird hier von Meinungsführerschaften ausgegangen, die das Meinungsklima bestimmen.
Im Dezember erschien in der FAZ*  ein Beitrag mit zwei sehr interessanten Ergebnissen (s. G. Sohn): Die Verteilung der Bedeutung von Sozialen Netzwerken, Öff- rechtl. TV und Lokalpresse bei der Information über Politik und aktuelle Ereignisse nach Altersgruppen wie zu erwarten absteigend nach Altersgruppen, manche Einschätzungen bestätigend eine höhere Affinität zu Sozialen Netzwerken bei Anhängern der AfD . … mehr dazu bei G. Sohn …
Es wäre verwunderlich, wenn eine Strömung die Möglichkeiten nicht nutzen würde, die Social Media bieten. Selektive Nutzung von Medien gibt es solange es Medien gibt. Das Social Web als neues Verbreitungsmedien bedeutet neue Möglichkeiten der Verknüpfung von Kommunikation, die man vorher noch nicht kannte – und eine immer grösser werdende Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Das führt manchmal zum schnellen Verschleiß von Themen, zu Buzzwords.  Wer in der Schnelligkeit nicht mithalten kann, zelebriert eben Entschleunigung als Vorteil.

Das Monopol der Nachrichtenübermittlung haben die klassischen Massenmedien verloren. Nachrichten von historischem Ausmass (wo warst Du am 11. Sept.?, Trump- Wahl, Brexit) verbreiten sich ohnehin als Selbstläufer, andere nach Ausrichtung der Aufmerksamkeit.  Wer TV- Nachrichten einschaltet, eine Zeitung aufschlägt will professionell aufbereitete Hintergründe erfahren – und vielleicht liebt man auch das Format. Die meisten Regionalzeitungen drucken allerdings ohnehin Agenturmeldungen oder übernehmen gleich einen Mantelteil.

Sieht man  Öffentliche Meinung als eine mentale Dimension des Zusammenhaltes von Gesellschaften ( F. Tönnies) an, dann  ist die Frage ihrer Bildung zentral.

*FAZ  20.12.2018: Die Meinungsblase der AfD-Anhänger, Thomas Petersen, Allensbach Institut; Angaben gründen sich auf Umfrage vom 1. bis 12. Dezember 2018, 1295 Befragte, gerundete Angaben. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/soziale-netzwerke-die-meinungsblase-der-afd-anhaenger-15950157.html?premium



Öffentliche Meinung in der Digitalen Welt – Zur Diskussion

Res publica – die öffentliche Sache. Bildquelle: rarrarorro/photocase.de

Die Vorstellung von Öffentlichkeit ist oft von Bildern begleitet – von der Agora und der res publica, vom Caféhaus, dem Salon, dem Boulevard und der Piazza. Orte einer gleichzeitig visuellen  wie diskursiven Kultur. Blickkontakt, das Sehen und Gesehenwerden, fordern Stil und Habitus, im Diskurs entwickelt sich eine – öffentliche – Meinung zu dem, was schön ist, was richtig und angemessen. Öffentliche Meinung ist seit dem 18. Jh. ein Begriff. Eine bürgerliche Öffentlichkeit in der Bildung Voraussetzung war und nicht von zentraler Herrschaft und Religion bestimmt. Soweit zum Ursprung.  Wir brauchen solche Orte, die eben nicht in erster Linie funktional sind. Sie werden immer wieder zitiert und – mehr oder weniger gelungen – inszeniert.

In der modernen Gesellschaft wurde Öffentlichkeit zur Medienöffentlichkeit. Das Berufsbild von Journalisten mit einer Verpflichtung zu Objektivität und der Prüfung von Tatsachen hat sich daran herausgebildet. Es gibt zwar Vorgänger, das Zeitalter der Massenmedien begann aber erst dann, als sie auch die Massen erreichten. Und es waren lange Zeit nach “Stand” und Bildung getrennte Öffentlichkeiten.  Erstes wirkliches Massenmedium war das Radio, später das Fernsehen, dazu die sich stärker differenzierende Presselandschaft. Schließlich wird das Wissen und die Meinung von der Welt ganz überwiegend über Massenmedien vermittelt. Medienmacht konzentriert sich bei wenigen Akteuren,  den öffentlich- rechtlichen Anstalten und Medienhäusern mit zwar unterschiedlichen Ausrichtungen, aber ähnlichen  wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Verflechtungen.
Neben die dominierenden Massenmedien, die oft als Meinungskartell verstanden wurden, treten später sich selbst so verstehende Gegenöffentlichkeiten.  Mit einer Reichweite wenig mehr als der eigenen Szene, aber mit dem Anspruch wesentliche, in der veröffentlichten Meinung nicht vertretene Sichtweisen zu verbreiten, haben sie zur Entwicklung von Zivilgesellschaft beigetragen.  Medienmacht wurde aber auch durchgesetzt: Noch die Bundespost der 80er Jahre verteidigte ihr Fernmeldemonopol mit strafrechtlichen Mitteln gegenüber Freien Radios.

Öffentliche Meinung

Von Ferdinand Tönnies stammt die Beschreibung der Öffentlichen Meinung als einer mentalen Dimension des Zusammenhaltes.
In den Diskussionen der letzten Jahrzehnte hatten v.a. drei theoretische Modelle Bedeutung:  Das von Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962, 1990) als ein normsetzendes Idealmodell, das Offenheit des Zugangs für alle gesellschaftlichen Gruppen einfordert. Öffentliche Meinung ist hier das Produkt der Diskussion, der Aushandlungsprozesse. Nach Luhmann (Die Realität der Massenmedien, 1998) strukturieren Massenmedien  die Aufmerksamkeit, sie geben der öffentlichen Meinung ihre Form. Wie die Wirtschaft sind sie ein in sich geschlossenes System.  Die Realität, die sie täglich verbreiten, erzeugen sie selber. Während die Öffentlichkeit als der Spiegel der Gesamtgesellschaft angesehen wird, stellt die öffentliche Meinung einen Spiegel für Politik dar. Nach Noelle-Neumann (Die Schweigespirale) ist die Bereitschaft, die eigene Meinung auch zu vertreten abhängig vom Meinungsklima. Öffentliche Meinung hat die Funktion zur Integration der Gesellschaft, die durch empirische Sozialforschung/Demoskopie  überprüft werden kann. Die These der Schweigespirale der Anpassung an eine (evtl. vermeintliche) Mehrheitsmeinung wird  mittlerweile obsolet sein, die des doppelten Meinungsklimas – dass tatsächliche und vermeintliche Mehrheitsmeinung auseinanderfallen, nicht.

der Cyberspace bot einen Freiraum

Das Internet bedeutete zunächst einen gewaltigen Freiraum der Publizität. Erstmals war der Zugang zu Medienöffentlichkeit nicht von Gatekeepern oder durch allzu großen finanziellen Aufwand beschränkt.  Der Cyberspace  bot allen Gegen- und Subkulturen (Tribes), Nerds  und Jungakademikern eine Heimstatt, neue Kommunikationsstrukturen konnten ausgelotet werden. In der entstehenden Netzkultur (bzw. Netzszene) entwickelte sich ein Anspruch als Öffentliche Meinung eben dieser sozialen Umgebung aufzutreten. Das Web 2.0, Blogs, die Piratenpartei, Konferenzen wie die re:publica und Barcamps sind bzw. waren allesamt Erscheinungen einer sich formierenden Netz- Sozialität.

Die neue Digitale Medienöffentlichkeit entstand mit der Verbreitung des Social Web als eines “formatierten” Internet. Erst damit wurde es massentauglich, erreichte die gesellschaftliche Breite. Die Struktur ist von Intermediären, den Zuträgern zu Information und Meinung, Inhalten und Angeboten, bestimmt. Das sind in erster Linie Google als Suchmaschine, Facebook als Social Network, youtube, im Handel haben Preisfinder Bedeutung. Die Timeline, das Suchergebnis sind Ausgangspunkt der Mediennutzung.  Im Marketing spricht man von Touchpoint und Customer Journey – parallele Begriffe dazu zu entwickeln, böte sich an.
Meinungsmacht der Intermediäre ist nicht dadurch gegeben, dass sie offensive Meinungen vertreten. Sie folgen geschäftlichen Interessen, sowie einem ausgeprägtem Behaviorismus. Einfluß erfolgt durch Gewichtungen und insbesondere Strukturmacht. Relevanz von Inhalten wird durch den Intermediären eigene Algorithmen strukturiert, Nutzerdaten sind Handelsware auf dem Werbemarkt.
So treffen im Social Web sehr unterschiedliche Strukturen aufeinander: In personalisierten Öffentlichkeiten konkurrieren private Kommunikation, redaktionelle Medienangebote und Angebote der Unterhaltungswirtschaft um Aufmerksamkeit. Redaktionelle Medien sind zu einem großen Teil bekannte Medienmarken, die Meinungsführerschaft/ Deutungshoheit beanspruchen, auf dem Pressemarkt aber an verkaufter Auflage verloren haben. Ausgenommen sind die öffentlich-rechtlichen Medien, deren Finanzierung durch Gebühren gesichert ist.

In personalisierten Öffentlichkeiten werden strittige Themen anders bewertet und gedeutet als in redaktionellen Massenmedien und in politischen Institutionen. Die Dynamik sozialer Netzwerken ist weniger von tradierten Hierarchien und Rollenmustern geprägt, sondern von den kurzfristig aufsummierten Handlungen vieler Menschen (Axel Maireder). Ein plurizentrisches Meinungsklima kann sich entwickeln. Ein Auseinander-Driften von Bevölkerungsmeinung und Medientenor kommt immer häufiger vor.  Was bedeutet der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit und was bringt er mit sich?

Öffentliche Meinung war historisch aus einer bürgerlichen Öffentlichkeit gewachsen, später wurde sie von den Massenmedien verkündet.  Im Netz ist sie zunächst volatil. Wahrscheinlich zeigt sich die Öffentliche Meinung am klarsten von der anderen Seite: dann,  wenn etwas nicht gegen sie durchzusetzen ist.

vgl: Frank Lobigs & Christoph Neuberger: Meinungsmacht im Internet und die Digitalstrategien von Internetunternehmen. Schriftenreihe der Landesmedienanstalten 51.; Gunnar Sohn: https://ichsagmal.com/   Konrad Lischka & Christian Stöcker: Digitale Öffentlichkeit – Wie algorithmische Prozesse den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen



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