Freie Planwirtschaft? (Rez. zu “Die unsichtbare Hand des Plans”)

Planwirtschaft und Kybernetik sind verbrannte Begriffe. Gedanken an realsozialistischen Muff, an Planungs- und Steuerungsphantasien vergangener Jahrzehnte werden geweckt. Auf der Futures Lounge am 1.12. warf Jan Groos, Autor des hörenswerten  Podcast Future Histories, beide Begriffe ein und stiess unverzüglich auf  Abwehr.

Dahinter öffnet sich  eine breite Diskussionslandschaft zu der der Sammelband Die unsichtbare Hand des PlansKoordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus einen  Einstieg bietet. 16 Beiträge in drei Teilen – (1) Planung – Theorie und Geschichte, d.h. historische Planungsdebatten; in (2) geht es um Planung im digitalen Kapitalismus, vorrangig um Plattformen;  (3) bündelt bisherige Diskussionen zu Alternativen zum digitalen Kapitalismus + daran schliessen weitere Publikationen im thematischen Umfeld an (s.u.).
Leitfrage ist Wie eine Alternative zum Digitalen Kapitalismus aussehen könnte, in der der Markt ersetzt wäre durch ein soziales Arrangement, das kybernetische Steuerungsprozesse nutzt um möglichst ressourcenschonend und arbeitssparend zu produzieren? –  weiter:  wie die Ambivalenz digitaler Technologien als politische und nicht technologische  Herausforderung begriffen werden kann? (16)  Im Kern geht es immer wieder um die Frage, inwieweit die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien  Grundlage einer nachhaltigen, demokratischen Wirtschaftsplanung sein können, die mit emanzipativen Grundsätzen vereinbar ist. Eine einleitende Rolle spielt der Essay Digital Socialism (2019) von Evgeny Morozov, der darin eine neue Planungsdebatte fordert.

Wieviel Markt und wieviel Plan ist in der digitalen Ökonomie, in der wenige Technologiekonzerne zentrale Infrastrukturen beherrschen? Sind Planwirtschaft und freier Markt etwa zwei Seiten ein und derselben KI- gestützten Vermessungs-, Verkaufs- und Kontrollmaschinerie (15)? Insbesondere Amazon (und der “traditionelle” Einzelhandelsriese Walmart) wird als Beispiel einer gigantischen Planwirtschaft – in hierarchischer und undemokratischer Form – beschrieben (vgl. Philipps & Rozkorwski). Die flächendeckende Erfassung von Verhaltensdaten und ihre Weiterverarbeitung ist Grundlage einer Vorhersage- Ökonomie, die versucht unsere Bedürfnisse zu antizipieren, Planung ist datengesteuert, algoritmisch organisiert. Und hier wirkt die titelgebende Unsichtbare Hand des Plans (15).

Das chinesische Modell eines staatlich betriebenen Plattformkapitalismus ist zweimal Thema,  es  gibt Rückblicke auf die fast vergessenen dissidenten DDR- Autoren Wolfgang Harich,  Rudolph Bahro und Robert Havemann als Ansätze einer ökosozialistischen Planwirtschaft (76-90), und auf das chilenische Cybersyn– Projekt  der Allende- Zeit (217 ff).  Kybernetik kommt in vier Beiträgen vor, so in einem Rückblick auf eine Reformperiode der DDR – ein historischer Text (Georg Klaus: Kybernetik in der Welt des Menschen, 68ff) ist zudem als Beitrag eingeschoben. Von Amazons algoritmischer Planung geht eine besondere Faszination aus, als einer Art logistisch perfektionierter  kybernetischer Kapitalismus – der sich aber kaum in eine Art Cybersozialismus übertragen lässt, wie der Beitrag von Armin Beverungen (95-109) festhält.

Jan Groos stellt in seinem Beitrag Distribuierter Sozialismus – Ein Anfang den Entwurf einer digitalen – nicht zentralistischen – sozialistischen  Planwirtschaft von Daniel Saros (Valparaiso University, Indiana) vor. Mit erkennbarer Begeisterung kündigt er das Thema im Podcast wie im Buch als tiefgründiges,  fundamental anderes Modell durchdachter, alternativer politischer Ökonomie  an – etwas was wenige Kapitalismuskritiker liefern.  Groos stellt Saros’ Vorschlag in den Grundzügen dar,  ein Modell, das eine zentrale Online- Plattform, Räte, ein Credit-System beinhaltet. Saros zeigt sich allerdings offen für Kritik und verweist auf die Flexibilität des Modells.  Das, was ich bis jetzt darüber weiss, überzeugt mich jedenfalls nicht.  In der weiteren Diskussion fällt die Kritik u.a. an einem impliziten Arbeitszwang, der emanzipativen Erwartungen widerspricht.  Für eine weitere Auseinandersetzung lohnt sich das 2- teilige Interview im Podcast von Jan Groos – wahrscheinlich auch eine Sicht darauf als einer erweiterten Vorstellung von Zukunft.
Dominik Piétron (110-124) bleibt in seinem Beitrag Vergesellschaftung digitaler Infrastrukturen in einem Feld, in dem konkrete Vorschläge viel eher umzusetzen sind. Übrigens einer der lesenswertesten Beiträge. Es geht um Plattformökonomie und die Möglichkeiten öffentlicher Plattformen. Plattformen monopolisieren ganze Märkte – sie entwickeln sich nach nach einer eigenen Logik (111)  und verfügen über enorme Macht in Form algorithmischer Steuerungsmöglichkeiten, werden zu Kuratoren moderner Öffentlichkeit. Michael Seemann hatte das auch in Die Macht der Plattformen unter dem Begriff der Graphname herausgearbeitet.  Piétron hält dagegen die Alternative öffentlicher Plattformen, so als Mobilitäts-, Wohnungs-, Gesundheits- und Energieplattformen. Eine Art   gemeinwohlorientierterFeedback-Infrastrukturen“. Möglichkeiten und Falllstricke darin werden thematisiert. Neben Die sozialistische Kalkulationsdebatte und die Commons (171-183) von Jens Schröter bedeutet dieser Beitrag auch einen Bezug zu den vielfältigen Transformationsdebatten der letzten Jahre.

Die unsichtbare Hand des Plans ist eine Bestandsaufnahme aktueller + ein Rückblick bzw. Bezugnahme auf ältere Diskussionen. Manchmal hat man den Eindruck, dass es auch darum geht, ältere Traditionslinien, u.a. solche aus der DDR, an aktuelle Debatten anzuknüpfen.  In einer Rezension zu einem Sammelband bleiben viele Stränge in und zwischen den Beiträgen unerwähnt -es gibt noch mehr Stränge, die sich durch das Buch ziehen, so das Thema der (Socialist) Calculation Debate – der Frage nach der Wertbemessung in einer nicht- kapitalistischen Ökonomie.
Kein Zweifel, dass Plan und damit auch Planwirtschaft fast überall gegenwärtig ist. Viel eher als an Planwirtschaft sträube ich mich am Begriff der Kybernetik, zu sehr ist er mit dem Bestreben Gesellschaft zu steuern verbunden. Mit Effizienzschwärmereien verbunden bringt er für manche  eine gewisse Attraktivität mit sich.  Lohnt es sich, diesen Begriff zurückzuholen?
Für eine Weiterführung im Themenfeld empfiehlt sich v.a. der  – redaktionell und rhetorisch sehr gut gemachte – Podcast von Jan Gross, den man auch so nehmen sollte, wie er im Beinamen heisst:  Zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft.
Unsere Gesellschaft hat für die Zukunft v.a. zwei Aufgaben zu bewältigen: möglichst vielen Menschen die Voraussetzungen für ein Gutes Leben zu sichern und dies in Einklang mit den natürlichen Ressourcen zu bringen. Digitale Technologien sind dabei so selbstverständlich wie unverzichtbar.

Timo Daum/ Sabine Nuss (Hrsg.):  Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus. Berlin 2021, 268 S. ; Beiträge u.a. von Timo Daum, Dominik Piétron, Jan Groos, –  Über die unsichtbare Hand des Plans – Interview mit Sabine Nuss und Timo Daum   Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft.   —  Distributed Planned Economies in the Age of their Technical Feasibility. In: BEHEMOTH A Journal on Civilisation 2021 Volume 14 Issue No. 2 Simon Sutterlütti/ Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben, Hamburg 2018. Daniel E. Saros: Information Technology and Socialist Construction: The End of Capital and the Transition to Socialism (2014); für alle, die sich näher mit dem Ansatz von Daniel Saros auseinandersetzen wollen: Principles of Political Economy, 2e  (2019; 1375 S.) steht als pdf zum download bereit. s. auch: Leigh Philips & Michal Rozworski: The People’s Republic of Walmart. How the World’s Biggest Corporations are Laying the Foundation for Socialism. London/ New York 2019. Evgeny Morozov: Digital Socialism? The Calculation Debate in the Age of Big Data. In: New Left Review 116/117 2019, S. 33-67

 



Amazon and the Invention of a Global Empire – (Rez. zu Amazon unaufhaltsam )

Der Titel Amazon unaufhaltsam (von Amazon unbound) klingt etwas spröde  übersetzt – passender ist der amerikanische Subtitel Jeff Bezos and the Invention of a Global Empire – wie die Landnahme eines strategisch denkenden Konquistadoren. Passend dazu das Siegerlächeln (oder –grinsen) auf dem Titel. Autor Brad Stone ist Wirtschaftsjournalist bei Bloomberg News, schrieb auch für Newsweek und die New York Times.
Das Buch ist die Geschichte des Aufstiegs, von 2010* bis zur (teilweisen) Übergabe an Andy Jassy im Februar 2021. Dazwischen liegen die Phasen des Wachstums (im Volumen wie der Breite), der Perfektionierung, einzelne Flops (so das Fire Phone), und die immer stärker werdende öffentliche Beachtung. Eine Langzeitreportage zu einem Unternehmen und ein Stück Zeitgeschichte bis zu den Trumpjahren und zur Pandemie. Nicht unkritisch, aber mit Bewunderung.

Das Bild eines Globalen Imperiums passt wohl zu allen fünf GAFAM- Unternehmen. Allen gemeinsam ist eine Strategie der Monopolisierung sozialer Graphen, wie es Michael Seemann in seinem kürzlich (5/21) erschienenen Buch Die Macht der Plattformen herausgearbeitet hat. Amazon startete mit einem sozialen Graphen im Online- Buchhandel, dehnte seine Handelsaktivitäten immer weiter aus  und verfügt nun im weitesten Sinne über den Konsumptionsgraph** – das Netzwerk aller Produkte und ihrer möglichen Käufer. Produkteinführungen wie der Kindle (2007) und später Echo (2015, mit Alexa) waren  v.a. auf die Nutzung eigener Angebote, wie E- Books, Musik- Streamings etc. angelegt. Die Verkaufsplattform Marketplaces erschliesst den Handel über eigene Angebote hinaus.

Von den übrigen vier unterscheidet sich Amazon durch den Handel mit überwiegend physischen Gütern und steht damit mit einem Bein in der  stofflichen Wirtschaft. Google und Facebook bauten ihre Imperien ausschliesslich in der neuen, noch unbewirtschafteten  Welt des Internet auf. Google erschloss diese Welt erst wirklich, Facebook kanalisierte das Social des Web in seine Formate. Apple hat eine lange Geschichte, positionierte sich seit iTunes und als Pionier des SmartPhones neu. Microsoft dominierte in der ersten Phase der Digitalisierung, geriet zeitweise in den Hintergrund.

Der Erfolg von Amazon beruht auf mehreren Faktoren, insbesondere auf dem  Leverage/Hebeleffekt: Die Umwandlung des Einzelhandelsgeschäfts in eine einfach zu bedienende Plattform, die mit minimaler menschlicher Unterstützung Gewinne generiert (197). Einzelne Fragen standen dabei immer im Vordergrund: Wie können die Kosten der Betriebsabläufe bei  gleichzeitiger Umsatzsteigerung gesenkt  werden? Wo können Automation und Algoritmen  menschliche Arbeitskraft reduzieren?
Get big fast war das erste Motto, KI und Machine learning, automatisierte Generierung von Wissen aus Erfahrung, von Beginn an zentrale Disziplinen. Das Wissen über Kunden, was sie interessiert und was sie schliesslich kaufen,  plus die Kontrolle der Wertschöpfungsketten sind entscheidend – und damit trat Amazon in immer mehr  Geschäftsfelder.

Das Image von Amazon ist gespalten: auf der einen Seite das innovative Unternehmen mit absoluter Orientierung am Kundenerlebnis incl. schneller Liefergarantie.  Alles,  von der Waschmaschine bis zu den Gewürzen, Cloud- Services, Streaming und Amazon Studios. Bezos ist gefeierter CEO und Hardcore- Chef, Apostel  des Einsparens, Investor, Innovator, kindlich begeistert für die Raumfahrt  und schliesslich Celebrity.
Kritik fährt Amazon einmal bei der Politik nach Innen ein: eine beinharte Unternehmenskultur  incl.  Stack Ranking – Angestellte unterliegen einem regelmässigen Ranking – unterhalb einer gewissen Position werden sie automatisch gefeuert. Der Vorwurf des achtlosen Umgang mit der Belegschaft (465), der das Personal in Lager und Auslieferung nicht vor der Pandemie schützt.
Man erfährt noch viel zu Amazon: zum Eintritt in den Markt Indien, zum Engagement bei der Washington Post, zu einem  Nachhaltigkeits-management, zu Ungleichbehandlungen während der Pandemie u.v.m.

Im Stil erinnert das Buch an andere, die es zu CEOs der Digitalbranche gibt, so zu Facebook bzw.  Marc Zuckerberg. Steve Jobs und aktuell Elon Musk haben noch mehr Starpotential. Treiber von Innovationen sind nicht Funktionalitäten, sondern charismatische Leader. Bei aller kritischen Distanz geht es immer um den gelebten American Dream.  In derselben Weise könnte man auch über Stars aus Hollywood schreiben. Das Buch ist detailreich recherchiert, mal langatmig, mal unterhaltsam und soweit anekdotisch angereichert, dass man es als Vorlage einer Verfilmung im Genre Business heranziehen könnte.
Das Buch ist übersichtlich in drei Teile und 15 Kapitel gegliedert. Die umfangreichen Quellenangaben und ein ebensolches Register machen es einfach im analog gedruckten Text auch quer zu lesen. Nichts gegen die Übersetzung, aber derlei Titel erlesen sich besser im Original.

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft-  Ariston, München 2021.  540 S. 26,- € – Orig.: Amazon Unbound: Jeff Bezos and the Invention of a Global Empire.   *Vorausgegangen war “The Everything Store: Jeff Bezos and the Age of Amazon”, 2013 vom selben Autor   **Vgl.: Christoph Engemann: In Gesellschaft der Graphen. Warum Datenschutz mehr als das Individuum berücksichtigen muss. FAZ am Sonntag, 12.4,2020. Feuilleton, S. 40; Nachträglich ein Beitrag aus der Wired vom 19.06.2021: Matt Burgess: All the ways Amazon tracks you and how to stop it.


Künstliche Intelligenz – einfach erklärt für alle (Rez.)

Künstliche Intelligenz ist nicht lediglich die nächste Generation von Computern und Software – sie ist ein Quantensprung in der Informationsverarbeitung (57).  Und sie führt zu Umwälzungen in vielen Einsatzkontexten. KI ist eine Querschnittstechnologie, deren Anwendung sich nicht auf einzelne Branchen beschränkt.
Stefan Holtel hat eine Einführung mit dem Titel KI-volution – Künstliche Intelligenz einfach erklärt für alle –  vorgelegt. Er ist nicht nur Informatiker, auch Wissensmanager und  Theaterpädagoge, Yogalehrer, Vater und Trainer für Lego Serious Play –  so steht es in Über den Autor.  Es sind diese  Blickwinkel über den Code hinaus  die das Buch bestimmen – erklärte Absicht ist es KI ohne Expertensprache verständlich zu machen, für alle die Folgen bzw. Konsequenzen zu tragen haben bzw. geniessen können. Wichtig ist, zu verstehen, was uns generell erwartet.
Automation des Entscheidens ist die zentrale Metapher, die KI bildlich verständlich machen soll. Die Formulierung ist nicht neu und wird seit einigen Jahren öfters verwendet – anderswo (Postdigital – wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen, Ramge, 2020) ergänzt mit aus Daten lernenden Systemen –  was zusammen eine grundlegende Vorstellung mit sich bringt.
Holtel nutzt Bilder, Sprachbilder und andere, gut gewählte Metaphern sollen zentrale Wirkmechanismen hervorheben. Einstieg ist ein Bild aus der Musik,  hier eine Spieltechnik des Jazzgitarristen Pat Metheny, der zu automatisierten  Musikmaschinen improvisiert (Orchestrionics). So lotet er mit neuartigen Werkzeugen neue Ausdrucksmöglichkeiten aus.
Ein Sprachbild macht seit einigen Jahren die Runde: Daten sind das neue Öl.  Daten sind ganz sicher keine materielle Ressource, die Parallele findet sich in der zentralen Stellung: Ohne Öl (bzw. zuerst Kohle) hätte es keine industrielle Revolution gegeben – ohne digitale Datenströme wäre KI eine verwaiste Technologie. Wertschöpfung erfolgt beide male in der Verarbeitung bzw. Raffinade – mit Hilfe von KI werden aus Daten Steuerungssysteme generiert, die Produktivitätssprünge ermöglichen.

KI ist schon länger Thema – Kurzweil 1990 (dt. 1993)

Der Begriff artificial intelligence/künstliche Intelligenz, kurz KI, ist seit 1955 in Umlauf und löst(e) immer wieder ganz unterschiedliche Vorstellungen, Verheissungen,  manchmal Bilder von Dystopien aus. Oft hat KI mit Vorstellungen aus Science Fiction die Phantasien angeregt. Ray Kurzweil rief schon in den 90er Jahren das Zeitalter der künstlichen Intelligenz aus, bereits damals wurde das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit gepusht.
Die herausstechenden Möglichkeiten von KI entstehen erst mit den digitalen Datenströmen wie sie im Internet, oder mit der Verbreitung autonomen Fahrens entstehen. Beispielhaft ist etwa der Aufstieg von Amazon zum weltweit führenden Handelsunternehmen: mit jedem Einkauf, jedem Suchvorgang sammelt das Unternehmen die Daten seiner Kunden. Dasselbe gilt für alle in Social Media gewonnenen Verhaltensdaten und ihre Übersetzung in personalisierte Werbung. Bedeutsames Feld ist ausserdem die medizinische Forschung, speziell Onkologie, überall dort, wo das Erkennen von Mustern gefragt ist.

Stufen der Automation des Fahrens 2014 (140) Stufen der Automation des Entscheidens am Beispiel des Fahrens,(140) – erscheint nach Klick in voller Auflösung in neuem Fenster

Fallen beim ersten Durchblättern die vielen Boxen, Listen, Tabellen,Hervorhebungen ins Auge, sind die Texte auch linear gut lesbar und bewusst verständlich und bilderreich geschrieben. Nach und nach geht es durch die wesentlichen Punkte zum Thema: Zu den Entscheidungen, die der Automatisierung von Entscheidungen zu Grunde liegen (128 ff), der Staffelung von Automationen (re. die Übersicht am Beispiel des Fahrens),  auf der Nutzen von Scenario- Technik wird verwiesen, eingebundene/augmentierte KI wird vorgestellt etc.
Zu KI sind ín den letzten Jahren viele Bücher erschienen und es kommen laufend neue hinzu. Dies hier ist ein praktisches Buch: die wesentlichen Grundlagen verständlich zusammengestellt.   KI ist eines der zentralen Themen in den Zukunfts- Diskussionen zur Post-Corona- Zeit.

KI ist eine Summe von Technologien, die in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und zu ganz unterschiedlichen Zwecken genutzt werden kann. Was spricht dagegen, wenn Maschinen Menschen Arbeit abnehmen? Warum ist es ein Problem – Arbeitsplatzvernichtung – wenn KI von Arbeit befreit, gleichzeitig Wert schöpft? Ist es nicht ein Problem von Verteilung? Warum soll die Anwendung von KI bei der Mobilität beim autonomen Fahren enden, von PKWs die genauso aussehen wie herkömmliche, mit demselben Bedarf an Strassen- und Parkraum? 

Ray Kurzweil spricht von Technik als Teil der menschlichen Evolution:  Biology and technology will begin to merge in order to create higher forms of life and intelligence*. Sicher ein eigenes Thema, und doch wieder Science Fiction. Technologie und ihre Nutzung sind aber Teil von gesellschaftlicher Evolution, von Evolution der Zivilisation – Technogenese. Dazu in Kürze mehr. 

Dazu auch ein Videointerview mit dem Autor im Live- Streaming Blog von Gunnar Sohn.

Stefan Holtel: Ki- volution – Künstliche Intelligenz einfach erklärt für alle  2020, 254 S., 20 ,- € ; * nach: Ray Kurzweil: The Six Epochs of Technology Evolution   



Postdigital – wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen … (Rezension)

Wie können intelligente Menschen intelligente Maschinen auf intelligente Weise nutzen? – so das Motto auf der Rückseite.  postdigital  (mit dem langen Untertitel “wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen ohne uns von ihr bevormunden zu lassen”) – ist das dritte Buch von brandeins – Autor Thomas Ramge zum Themenfeld KI in den letzten drei Jahren.  Im Oktober 2017 war Das Digital erschienen, kurz darauf der Reclam- Band Mensch und Maschine.
Postdigital geht zurück auf ästhetische Diskurse zu elektronischer Musik und Medienkunst, wurde bereits 1998 von  Nicholas Negroponte in der Kolumne The Digital Revolution is Over (Wired) im heutigen Sinne verwendet – und bedeutet, dass digitale Technik in ihrer Selbstverständlichkeit nur noch durch ihre Abwesenheit auffällt (155). Ramge verbindet damit eine optimistische Zielvorstellung – in dem Sinne ist Digital das neue Banal – und es kommt darauf an, sie möglichst sinnvoll, nützlich und unauffällig in die Lebenswirklichkeit einzubauen. Digitale Techniken sollen das Leben besser bzw. einfacher machen.

Bis zu dieser Zielvorstellung geht es darum,  wie KI – oder sagt man doch besser “aus Daten lernende Systeme”? – technisch funktioniert und sozial wirkt. Das Wesen von KI ist die Automatisierung von Entscheidungen, die in ganz unterschiedlichen Bereichen (29-32) umgesetzt wird, immer wieder geht es um das Erkennen von Mustern in grossen Mengen an Daten:  automatisiertes Fahren, Dating- Apps gleichen Profile nach möglichen Matchings ab, in Medizin/Public Health z.B. in der Computertomografie, im Finanzsektor, in der Online- Suche führt sie uns personalisierte Werbung zu – aber auch automatisierte Waffen (so etwa bewaffnete Drohnen) basieren darauf.
KI – darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Techniken – wird ebenso zum Machtausbau – kommerziell wie politisch – genutzt:
Zur Monopolisierung von  Daten, um Renditen zu sichern, zur Manipulation von Individuen, bishin zum strategischen politischen Einsatz zur Absicherung autokratischer Regimes. 

Zweimal werden Szenarien als Erzählungen entworfen. Zum einen ein dystopisches Gedankenspiel (80-83) mit Überwachungs- und Scoringprogrammen incl. der  Incentivierung von Wohlverhalten, wie sie irgendwo auf der Welt heute im Einsatz sind – nicht nur in China.
Im optimistischen Szenario geht es um den Alltag mit einem fiktiven persönlichen KI- Assistenten (129 ff). MyAI, so heisst der fiktionale Assistent im kostenpflichtigen Monats- Abo, stellt Nutzer- vor Anbieterinteressen, integriert die vielen kleinen Alltagsentscheidungen in die grundsätzlichen Lebensentscheidungnden – eine Perspektive unterstützter Selbstoptimierung bzw. KI Nudging, incl. medizinischer Notfall- Kontrolle. 
Ausserdem gibt es den Entwurf einer 2030- Perspektive, beruhend auf den Ergebnissen eines Delphi- Panels mit 28 Thesen zu KI zum Jahre 2030 (102-128). Leser können das Expertenpanel nachspielen, die Thesen sind im Anhang abgedruckt. Nebenbei: eine Software die dabei konstellatorisches Denken fördert, gibt es noch nicht.
Die Ambivalenz von KI und der Bedarf an Regelsetzung (so in Sachen Fairness und Nichtdiskriminierung)  wird thematisiert, dabei fällt u.a. das Wort eines KI – TÜV bzw. einer spezifischen Stiftung, die absichern sollten, dass Nutzer- vor Anbieterinteressen gehen.
Eine bisher wenig beachtete Perspektive tritt hervor: Der Gegensatz von lovely und lousy – zwischen den agilen und kooperativen Jobs mit der Chance der Befreiung von starren Hierarchien, oft remote, in der die Früchte von KI Anwendungen genossen werden, und den ausführenden Servicedienstleistern, die sie als Kontrolle spüren.

Manches kehrt wieder, was in den beiden letzten Büchern bereits vorkam  – so zum Polanyi- Paradox oder der Kitty Hawk Moment im minimalistischen Reclam- Bändchen Mensch und Maschine. Jetzt aber in grosser Schrift und fettem Druck. Die neueste Auflage wurde um ein Update zur Corona- Krise ergänzt. Mit der Krise tauchen neue sinnvolle Einsatzmöglichkeiten auf. Wie nutzen wir den Datenreichtum zu ihrer Bewältigung?

Das  Buch ist flüssig und durchaus kurzweilig geschrieben, oft anekdotisch angereichert, es knüpft an aktuelle Diskurse an und nutzt einige male das Stilmittel der fiktionalen Erzählung. Es liest sich wie ein guter  Artikel in einem Magazin,  longread.  Am besten auf einer längeren Zugfahrt ….  dank des Schriftbildes bequem lesbar für alle Altersgruppen.
Gespannt bin ich auf das nächste Buch, das im Herbst erscheinen soll “Machtmaschinen – Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen“. 

Thomas Ramge: postdigital. wie wir künstliche Intelligenz schlauer machen ohne uns von ihr bevormunden zu lassen. Murmann Verlag, Hamburg 2020, 163 S. + Anm. u. Quellen.; 20 €, ISBN: 978-3-86774-646-5



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