Kontinuitäten der Moderne – Welche Moderne?

World in Progress? Bild: goldkatze / photocase.de

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist es einfach: Modern ist das, was aktueller Mode und Lebensweise entspricht. Was gestern modern war, ist es heute nicht mehr, kann evtl. als Retro zurückkehren. In den Sozialwissenschaften öffnet der Begriff Moderne hingegen  grossflächige Debatten. Mehrfach für beendet erklärt, kehrt die Moderne immer wieder mit neuen Vorsilben zurück.

In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt liesse sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen – dieser  Satz ist Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft von Philipp Staab vorangestellt. Daran schliessen Fragen nach der Bedeutung und Berechtigung von Fortschritt als Leitmotiv gesellschaftlicher Entwicklung an. Im seinem Gefolge auch Emanzipation, Individualisierung und Demokratisierung, die alle im Bezugsrahmen zu Moderne stehen. Die Frage nach veränderten Leitmotiven ist legitim, genauso wie die nach den Kontinuitäten der Moderne(n). Bedeutet denn Fortschritt allein die lineare Fortsetzung eines einmal eingeschlagenen Pfades?

Kontinuitäten der Moderne reichen weit zurück bis in die Zeit der Aufklärung im 18. Jh. Fortschritt war das Programm, die Menschheit aus Unwissenheit und religiöser Bevormundung herauszuführen. Ganz vorne der wissenschaftliche und technische Fortschritt, der Industrialisierung und damit ökonomischen Fortschritt antrieb – Wirtschaftswachstum. Der Fortschritt zu Demokratie, gleichen Rechten und gleichen Chancen für alle war und ist ein viel längerer Weg und galt zunächst nur Privilegierten. Im Namen des Fortschritts wurde Gewalt ausgeübt, oft genug legitimierte sich Herrschaft durch ihn.  Kritik am Fortschrittsglauben gab es immer wieder, zumeist von denen, die Verluste erfuhren oder befürchteten.
Moderne bedeutet den Umbruch traditionaler Gesellschaften. Forschungs- und Erklärungsfeld der Soziologie sind Gesellschaften der Moderne(n) – traditionale Gesellschaften werden von anderen Fächern beforscht. Das Label Moderne gilt für eine ganze Reihe von Stufen bzw. Epochen, mit entsprechenden Vorsilben. Zudem gibt es sie als gesellschaftlich/ zivilisatorische, technisch/ naturwissenschaftliche und künstlerisch/ ästhetische Moderne – die nicht immer synchron verlaufen bzw verliefen.  In welcher Moderne leben wir, fragt man sich? Oder ist sie doch schon vorbei? Auch vergangene Stufen der Moderne bleiben immer noch Bezugsrahmen.

Moderne – vor 100 Jahren gebaut: Rietveld- Schröder Haus – Utrecht

Die ästhetisch/ künstlerische Moderne ist eine weitgehend  zurückliegende, in sich abgeschlossene kultur-geschichtliche Epoche, wie etwa die Renaissance, was danach kommt steht wohl – in Malerei, Architektur, Design – in ihrer Kontinuität, wird aber nicht mehr als Moderne (ohne Vorsilbe) bezeichnet.  Peter Gay lässt sie mit der Lyrik Baudelaires (les fleurs du mal, 1857) beginnen. Moderne Architektur z.B. setzte erst viel später ein.  Getragen wurde die Moderne von einer Avantgarde, die sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung meist als vorauseilend verstand – und im nachhinein als Klassische Moderne  kanonisiert wurde – die bis heute wesentlicher ästhetischer Bezugsrahmen ist.

Es gibt eine Reihe von Modellen der Periodisierung. Plausibel ist die Einteilung in Bürgerliche/ Industrielle/ Spätmoderne*. Sehr kurz: Die Bürgerliche Moderne begann mit der Industriellen Revolution. Auch Kolonialismus und bürgerlicher Nationalstaat entfalteten sich.  Es ist die Gesellschaft, die die Gründerväter der Soziologie, wie etwa Max Weber beschrieben haben.
In der folgenden Industriellen Moderne dominierten Massenproduktion, Massenkultur, Massenmedien (vgl. Vom Sog der Massen). Lebensführung passte sich diesem Rhythmus an – eine stark formatierte, normative Gesellschaft.
In ihrer Spätzeit kam es zur massenhaften Teilhabe am erwirtschafteten Wohlstand, man sprach dann von einer Nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Counter Culture/ Alternativkultur entwickelte sich in Nischen.
Was danach kommt ist vom Wandel der industriellen zu einer postindustriellen Gesellschaft bestimmt, bis heute werden Diskussionen davon bestimmt. Aktuelle Epoche ist die Spätmoderne, beginnend mit der Globalisierung, sich steigernd mit der digitalen Moderne.  Kontinuitäten der Industriellen Moderne sind aber weiterhin wirksam.

Der Begriff  Postmoderne wurde schnell populär, nachdem er  1979  in dem Essay Das postmoderne Wissen/ La condition postmoderne von Jean- François Lyotard auftrat. Postmoderne formulierte den Verlust von Gewissheit, die Auflösung von Sicherheiten und gewachsenen Identitäten, gepaart mit einem Misstrauen gegenüber Metanarrativen, wie dem der Moderne. Als Epochenbegriff von Gesellschaft verbreitete  sich Postmoderne nicht über feuiletonistische Beschreibungen hinaus. Ihr Vermächtnis ist, uns selbst, unsere Kultur und unsere Zivilisation von außen zu betrachten, sie zu dekonstruieren, um ihre Teile und inneren Strukturen zu erkennen. Im  Alltag brachte sie eine verbreitete Attitüde ironischer Distanz mit sich. Später wurde der Begriff oft bis zum Überdruss verwendet, und weckte so auch immer wieder Gegenreaktionen.

Betonte Postmoderne einen Bruch mit der Moderne bleibt Spätmoderne ihrer Kontinuität verhaftet. Ein Epochenbegriff, der als Bezeichnung für die aktuelle  Phase unserer Gesellschaft akzeptiert wird. In den vergangenen Jahren wurden Begriff und Diskussion dazu v.a. von Andreas Reckwitz geprägt, der die spätmoderne Kultur der neuen Mittelklasse, ihre Singularitäten beschreibt.  Performative Selbstentfaltung ist ein Charakteristikum, ebenso wie eine ökonomischen Asymmetrie zwischen den Modernisierungsgewinnern und -verlierern. Zwei Teilepochen lassen sich erkennen: Die der beginnenden Digitalisierung und die von der Verbreitung des Plattformkapitalismus geprägte Dekade.
Besonders die digitale Spätmoderne nach der Jahrtausendwende bringt  Veränderungen der sozialen Architektur mit sich. Zum einen kulminiert sie in einer digitalen Consumer Culture, in der auch die Elemente der vorherigen Counter Culture zu Konsumattributen werden. Die Adressierbarkeit über (verdatete) Merkmale  macht das  passgenaue Zusammenführen von Angebot und Nachfrage in datenreichen Märkten auf den Plattformen möglich – vom B2B, zu individualisierter Werbung, zu Matchings aller Art incl. Dating.
Das Leitmotiv der Selbstentfaltung schliesslich ist nicht erlahmt und erschöpft sich nicht im Konsum – wie etwa die Breite der New Work Bewegung zeigt. Selbstentfaltung bedeutet nicht nur die performative Form, kann auch ebenso die  Selbstgestaltung der  Lebensführung bedeuten.
Fortschrittsvisionen der Industriemoderne,  wie etwa die autogerechte Stadt werden kaum noch vertreten, wirken aber nach. Der Begriff eines (einheitlichen)  Fortschritts wird seltener formuliert – man spricht lieber von Innovationen (im Plural) und von Transformationen.  Digitale und nachhaltige Transformationen sind dennoch die aktuell vorherrschenden Fortschrittsvisionen, die durchaus in der Kontinuität der Moderne stehen, auch wenn Kritik an der Moderne als Ursache der ökolögischen Krisen (Klima, Artensterben etc.) zunimmt. Krisenentschärfungen, wie die Entwicklung neuer Impfstoffe zur Pandemie beruhen ebenso auf wissenschaftlichem Fortschritt. Ökologische Krisen sind die Einschränkungsflanken zur Zukunftsgestaltung. Man kann nun noch den Ansatz des kürzlich verstorbenen Bruno Latour anschliessen, das geht aber über den Rahmen dieses Textes hinaus.

Der von Ulrich Beck (Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. 1986) verwendete Begriff Zweite Moderne hat sich darüber hinaus weniger verbreitet. Er entspricht weitgehend der Spätmoderne   – mit den Merkmalen Globalisierung,  Enttraditionalisierung und einer zunehmende Macht transnationaler Konzerne.  Wo es eine Zweite Moderne ist, ging ihr auch eine Erste Moderne  voraus, die in etwa der bürgerlichen + frühen industriellen Moderne entspricht.
Nachmoderne ist ein gelegentlich verwendeter, eher unspezifischer Begriff, der eben die Ansicht beinhaltet, dass die Moderne vorbei ist.

Ist die Elbphilharmonie metamodern? Bild: Leif Christoph Gottwald unsplash.com

Metamoderne hat ausser der Vorsilbe nichts mit dem Metaverse zu tun. Der Begriff überdacht einige unabhängig voneinander entstandene Ansätze, denen die Überwindung von Moderne und Postmoderne gemein ist.  Bisher wird der Begiff von einigen Autoren in der aktuellen Philosophie verwendet  (vgl. Storm, Andersen, Hanzi Freinacht),  zudem an Beispielen in neuerer  Architektur veranschaulicht. So wird etwa die  Hamburger Elbphilharmonie als metamodern hervorgehoben. Das kann man diskutieren.  Gemeinsam ist den Autoren der Impetus  den angesammelten Schatz von Wissen und Erfahrung zu nutzen. Dazu abschliessend ein paar schöne Sätze aus der ‘Metamoderne’:
Most of us want to be happy — Most of us want to be psychical and physical well- being — most of us do not want to suffer unnecessarily –.most of us want to live a life worth having lived, a meaningful life (Storm, 257) – kann so eine Grundlage eines Sets ethischer Normen und daraus abgeleiteten politischen Handelns beginnen? Und : We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters.

Mir ging es jetzt um eine Skizzierung des Begriffs der Moderne und  seiner Wandlungen. Mir ist klar, dass jeder einzelne Punkt nur ein Bruchstück ist.

vgl.: Philipp Staab:  Anpassung . Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, 10/2022.  Andreas Reckwitz. Von der bürgerlichen Moderne über die industrielle Moderne zur Spätmoderne: Reckwitz & Rosa- Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie . 2021, S. 99 – 128  darin:* Synopse zu Bürgerliche Moderne, Industrielle Moderne, Spätmoderne (118) – Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts. Soziopolis   Peter Gay: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, orig: Modernism. The Lure of History. From Baudelaire to Beckett and beyond (2008) Jason Ananda Josephson Storm:  Metamodernism. The Future of Theory. Chicago 9/2021. 360S. Blog:Absolute Disruption.      vgl- a. Future sapiens: Ewiges Wachstum – Untergang der Menschheit oder Motor des Fortschritts?

 



Anpassung vs Fortschritt (Rezension zu: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft)

Ohne den Podcast Future Histories von Jan Groos wäre ich an diesem Buch vorbeigegangen: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft von Philipp Staab – ein leicht verstörend und damit provokanter Titel. Gemeint ist eine Gesellschaft, die sich vom Leitmotiv der Selbstentfaltung zu dem des Selbsterhaltskollektiv und individuell – bewegt. Nicht Steuerung und Gestaltung von  Fortschritt und Selbstentfaltung sondern das Zurechtkommen steht im Zentrum – die Anpassung an Krisen, der Erhalt eines gefährdeten Status Quo.
Zwei der drei aktuellen Krisen – Corona und die Klima- Krise – sind der Hintergrund. Die dritte Krise – Ukraine- Invasion  und ihre Folgen –  kommt im Buch erst vereinzelt vor, umso mehr in den die Veröffentlichung begleitenden Podcasts und Essays.
Ein Ausgangspunkt des Buches sind empirische Befunde aus narrativen Interviews mit sog. systemrelevanten Beschäftigten aus den Branchen Gesundheit, Bildung/Erziehung, Sicherheit und materiellen Infrastrukturen (143 ff) im Rahmen eines Seminars Die Gesellschaft der  Anpassung 2021/22 an der HU Berlin.

In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt liesse sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen … (Klappentext)  so beginnt das Buch mit einer Abkehr vom Fortschrittsglauben der Moderne. Moderne in zwei Ausprägungen – die  Industrielle Moderne mit ihrem Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Welt und die Spätmoderne mit dem Impetus  der freien Selbstentfaltung des Individuums. Der Klimawandel steht nach Staab in direktem Zusammenhang mit dem Selbstentfaltungsprogramm der individuellen Entfaltung – im  Konsum.
Der Optimismus der Moderne(n) ist erschüttert, heute geht es darum, Krisen abzuschwächen, die Gegenwart überhaupt zukunftsfähig zu machen (77). Anpassung meint Strategien zum Erhalt von Handlungsfähigkeit und der Sicherung bestehender Zustände  in einer Nachmoderne.  Als Leitmotiv verschiebt Anpassung die  Perspektive von einem modernen Emanzipationsprogramm auf ein einstweilen noch unbestimmtes Adaptionsprogramm (32). Die Pandemie lässt sich als Generalprobe für zukünftige Adaptionskrisen verstehen – Anschauungsmaterial, wie zeitgenössische Gesellschaften auf akute Krisen reagieren. Ein konkreter Ausdruck sozialer Folgen  ökologischen Notstands (141).  Aus dem Material der (oben erwähnten) narrativen Interviews erschliesst sich eine Gesellschaftskritik, die sich vorwiegend auf drei Punkte bezieht:  eine Narzissmus prämierende Kultur, eine ausschliesslich profitorientierte Wirtschaftsweise und eine handlungsunfähige, schwache Staatlichkeit (144).
Anpassung umfasst auch Resilienz (ausf, der Begriff, der sich  in den Diskussionen seit Corona weit mehr als Anpassung verbreitet hat.

Die sechs (incl. Einleitung) aufeinander aufbauenden Kapitel sind allesamt einprägsam übertitelt: (3) Ent-täuschung der Moderne wendet sich ab von  einer gesellschaftlich zu schaffenden Zukunft (72) im Sinne des Fortschrittsbbegriff der Aufklärung. Unter (4) Adaptive Rebellion fallen etwa die Fridays for Future mit dem wissenschaftsgläubigen Slogan Listen to Science. Staab folgert einen positiven Begriff evidenzbasierter Technokratie (131). Unter (5) Avantgarden der Anpassung finden sich v.a. die erwähnten  “systemrelevanten  Beschäftigten“, wo effektive, evidenzbasiertepolitische Steuerung mit Demokratiedefizit umindest angedacht werden (174). In (6) Protektive Technokratie  geht es um eine politische Imagination adaptiver Gesellschaften (182), Demokratie vs Expertenherrschaft mit Unterstützung digitaler Steuerungstechnologie,  eine Hypothese  rationaler Technologie des Überlebens. Soweit sehr verkürzt zusammengefasst.
In einem Beitrag in der Zeit vom 12.10. fasst Staab seine These bündig zusammen: Das Projekt des Fortschritts und der Selbstentfaltung ist zu einem Problem für die Selbsterhaltung geworden – individuell, gesellschaftlich, planetar. Es weiterhin zu predigen, verfestigt den Eindruck einer Politik, deren Deutungsangebote an der Realität der Menschen vorbeigehen. … weiter: Dabei könnte Anpassung als eigenständiges gesellschaftliches Projekt auch in einem positiven Sinne zum Leitmotiv politischen Handelns taugen. 

Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft lässt sich als – manchmal  spekulative, teilweise empirische Exploration zu Selbsterhaltungkrisen und zur nächsten Gesellschaft, verstehen.  Die Grundgedanken des Buches werden schnell klar und sind innerhalb ihres Rahmens einleuchtend. Staab dokumentiert, benennt, beschreibt erkennbare Motive, Einstellungen, Tendenzen und Strategien, vermittelt Momentaufnahmen, stellt sie in Zusammenhänge und entwickelt im letzten Kapitel eine Hypothese technik- und expertisegestützter Herrschaftsformate. Er bezieht  sich u.a. auf Andreas Reckwitz, Robert K. Merton (1910-2003), auf Boltanski/Chiapello und immer wieder auf die Risikogesellschaft von Ulrich Beck (1986), schliesslich auch Schumpeter (187).

Es geht aber auch immer um den Gegensatz Fortschritt vs  Anpassung. Ersterer ist eine treibende, letztere beharrende, angleichende Kraft. Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die sich mit Nachdruck vom Fortschrittsbegriff verabschiedet (108)? Man kann diese Frage als Gedankenspiel annehmen – aber ist eine Gesellschaft ohne Fortschritt überhaupt denkbar? Beide Begriffe, im Gefolge auch Selbstentfaltung und Emanzipation, werden in einem sehr verengten Sinne verwendet. Damit kann ich mich wenig anfreunden.
Ist Anpassung ein passendes Leitmotiv? Anpassung kann taktisch, strategisch, opportunistisch sein, das sich Einfügen als das Rädchen im Getriebe, sie kann sich am Markt, an Machtverhältnissen, an Krisen ausrichten, ohne Anpassung gibt es keine Evolution, weder genetisch noch sozial. Die geläufige Redewendung “mit dem Fortschritt gehen” drückt nichts anderes aus, als Anpassung an den Fortschritt. Allen Verwendungen ist eine defensive, manchmal passiv- aggressive, Haltung gemein. Ein Begriff, der unterschiedlichste Lesarten ermöglicht und mit vielen Konnotationen daherkommt – und so in die populäre Diskussion einsickert:  Kürzlich warf Markus Lanz (9.11.) in seiner Talkshow einer Aktivistin von „Letzte Generation“ Anpassung als zurechtweisendes Schlagwort entgegen. Ich vermute,  die Redaktion hatte das Buch gesichtet. So gelangen Begriffe – beliebig angepasst –  in die populäre Diskussion.

Weit mehr irritiert mich sein Begriff von Fortschritt, damit verbunden von Selbstentfaltung, Emanzipation.
Die Irritationen sind beabsichtigt, wie im Podcast begründet.
Der Fortschrittsbegriff scheint sich auf den des ewigen Wachstums in einer Welt endlicher Ressourcen zu beschränken. Emanzipation und Selbstentfaltung werden so erwähnt, als gäbe es sie v.a.  in vulgär- materialistischer Ausführung.
Mal ist von Zumutungen der Selbstentfaltung die Rede ist und man denkt an  eine  Distinktionshölle zwanghaften Konsums. Sicher gibt es Symbiosen mit der Konsumwirtschaft, in erster Linie bedeutet Selbstentfaltung aber die Gestaltung der Lebensführung.
Fortschritt wurde und wird immer wieder von verschiedenen Seiten für sich reklamiert: ästhetisch von Avantgarden, politisch sah sich die Linke meist als Lager des Fortschritts, emanzipativ von sozialen Bewegungen, Fortschritt wurde in Wirtschaftsdaten gemessen.  Von Beginn an war wissenschaftlicher und technischer Fortschritt der Antrieb. Letztlich entschärfte (bio-) technischer Fortschritt in Form der Entwicklung neuer Vakzine –   – und nicht Anpassungsleistungen – die Pandemie. Und auch Autor Staab (Prof < 40) arbeitet mit seinem Buch am Fortschreiten seiner Karriere.
Das Weiterführen einer  linearen, ungebrochenen Vorstellung von Fortschritt und Selbstentfaltung hat wohl irgendwann seltsame Konsequenzen:  Libertär bedeutete einst einen radikal- heroischen Bruch mit gesellschaftlichen Zwängen, heute wird damit (u.a.) die schrankenlose, anarcho- kapitalistische  Selbstentfaltung  von Oligarchen verbunden. Genauso berufen sich Querdenker auf das Freiheitsversprechen der Spätmoderne wie Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey – in Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus (10/2022) herausstellen. Aber macht das das Freiheitsversprechen obsolet?

Was eine Gesellschaft zusammenhält, ist v.a. die geteilte Vorstellung einer guten Gesellschaft bzw lebenswerter Zukunft. Wie diese aussehen soll ist ein zivilisatorischer Prozess. Und auch die Vorstellung von Fortschritt durch Wissenschaft und Technik gehört zu einer gesellschaftlich zu schaffenden Zukunft, die Selbsterhalt und Selbstentfaltung verbindet: We need a vision of progress and a grand narrative about why it all matters.

Philipp Staab: Anpassung . Leitmotiv der nächsten Gesellschaft 198 S. + Anmerkungen 240 S,..  edition suhrkamp 2779, 10/2022, 18 € –Jan Groos: Future HistoriesDer Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft.  Philipp Staab: Wie Gesellschaften stabil bleiben. Selbstentfaltung wird zum Problem für die Selbsterhaltung. Die Zeit. 12. 10. 2022  — vgl. auch: Future sapiens: Ewiges Wachstum – Untergang der Menschheit oder Motor des Fortschritts?

 



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