Krisen und der Zukunftsdiskurs – #Corona #Klima

Ist Corona ausgestanden? Bild: Guido Hoffmann. unsplash.com

Ob Corona im Herbst 2021  ausgestanden ist, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Manches spricht dafür und mit der Impfkampagne  sind die spürbarsten Einschränkungen aus dem Alltag verschwunden.
Gesellschaftliche Folgen bzw. Auswirkungen lassen sich aber resumieren, zumindest  einschätzen – nach gut anderthalb Jahren ist die Zeit dazu, Schlüsse zu ziehen. Übrigens auch auf der subjektiven Ebene der Empfindungen, wie ein Blick in die literarischen Neuerscheinungen in den Auslagen der Buchhandlungen zeigt.

Corona- Erfahrungen – nach Klick in voller Auflösung auf neuer Seie

Gleich zweimal wurden die Zukunftsannahmen aus den 2017 vorgestellten Szenarien von D 2030 auf ihre Gültigkeit überprüft.  Zu Beginn der Pandemie und im Sommer 2021. Die letzten Auswertungen waren im September abgeschlossen. Grundlegende Fragestellung war Wie weit hat die Pandemie unsere Zukunftserwartungen beeinflusst?
Bei den Befragten zeigt sich ein deutlicher Wunsch nach einer Nachhaltigen Transformation (25) – bzw. der positiven Zukunftserwartung der Neue Horizonte – Szenarien. Im Vergleich zur frühen Phase der Pandemie fielen die Einschätzungen im Sommer 2021 dazu pessimistischer aus. Erlebt wurde oft eine schnelle Rückkehr zu alten Routinen, einer (manchmal) hohen staatlichen Lösungskompetenz steht ein Mangel an Teilhabe gegenüber. Deutlich werden Wertekonflikte zwischen  konträren Positionen, wie etwa Digitalisierungsschub vs. Mangelhafte Digitalisierung; Corona hat Veränderungsfähigkeit gezeigt vs. Corona hat Beharrungstendenzen aufgezeigt (4).
Zu den zentralen Erfahrungen der Pandemie zählt, dass Ereignisse, die  gesellschaftliche Änderungen in großem Maßstab zu Folge haben jederzeit möglich sind. Wer hätte etwa 2019 einen Lockdown für möglich gehalten? Erlebt wurden die Chancen, manchmal auch die Grenzen der Digitalisierung: flexibles, mobiles Arbeiten, Online- Konferenzen, die Mobilität einsparen, der Boom des Online- Handels. Andere Auswirkungen treffen unterschiedlich hart: ein Lockdown im Haus mit Garten wird anders erlebt als in beengten Verhältnissen. Das soziale Leben wurde erschüttert, incl. der damit verbundenen Branchen: Kunst und Kultur in ihren Live- Events, Gastronomie, Tourismus.
Übereinstimmung herrscht in zwei Punkten: 1. Die Klimakrise war zwar zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt, wird aber das beherrschende Thema der PostCoronaZeit sein. 2. Die Veränderung der Arbeitswelt ist durch Corona beschleunigt worden. Hier wird sich eine Neue Normalität einstellen. — Bildung, Klima und Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Partizipation, aber auch Deutschlands geopolitische Rolle werden als vordringliche Themen eines öffentlichen Zukunftsdiskurses genannt.  Soweit ein zusammenfassender Einblick, mehr im Ergebnisdokument CoronaStresstest 2 .

Armin Nassehi war als Mitglied der Leopoldina-Expertengruppe während der Pandemie der wohl medienpräsenteste Soziologe und  äusserte sich in verschiedenen Phasen der Krise dazu, wie Corona unsere Gesellschaft verändert. Seine Positonen standen immer wieder im Gegensatz zu den  Haltungen, die in der Krise die Chance zur Veränderung sehen: «Gesellschaften sind träge, sie ändern sich in und nach Katastrophen nicht grundlegend. Die Routinen werden sehr schnell wiederkommen, wenn diese Krise vorbei oder zumindest leichter beherrschbar ist» meinte er im April 20 in der NZZ – und das trifft seine Haltung ziemlich gut.
In seinem neuen Buch Unbehagen- Theorie der überforderten Gesellschaft (9/21) ist die Pandemie nicht direkt das Thema, sondern neben der Klimakrise – aufs allgemeingültige herausgehoben – Referenzkrise.  Nassehis Blick darauf ist theoriegeleitet, das heisst bei ihm systemtheoretisch.  Der Gegensatz Sachdimension vs Sozialdimension  (vgl. 106-109) zieht sich durch die Argumentationen. Die Sozialdimension erzeugt eine Art Überzeitigkeit des Gemeinsamen,  die Sachdimension eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (123). Sozialdimension beschreibt Gesellschaft als integrierte oder integrierbare Einheit von Kollektiven, ihre Öffentlichkeit als Arena aufeinandertreffender Strömungen. Ordnungsaufbau findet über die Sachdimension statt, dem System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, der Eigendynamik  der Funktionssysteme Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht  und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Funktionssysteme reagieren entsprechend ihrer eigenen Logik.
Nassehis grundlegendes Thema ist die Frage, warum Gesellschaften darin scheitern, wenn sie sich kollektiv verändern wollen. Die Eigendynamiken von technisch aufgerüstetem Wirtschaftssystem, auf Gleichheitsversprechen und Inklusion ausgerichtetem Rechtssystem, flächendeckendem Bildungssystem, das sowohl ungleiche Positionen zuweist als auch Aufstiegschancen moderieren kann, Mediensystem etc. entzieht sich zentraler Koordination (312). In der Gesellschaft bilden sich Handlungsmöglichkeiten daraus.
Krisen unterbrechen den Ablauf des Gewohnten, es gibt für sie keine Routinen. Krisen sind disruptiv, gesellschaftliche Veränderung verläuft aber evolutionär.  Zu erreichen ist sie über die Veränderung von Organisationsroutinen.
Nassehis Buch enthält zahllose Beobachtungen, Beschreibungen und Detailanalysen, und auch einige abschliessende Erfahrungen, die Erkenntnisse in der (Post-) Corona- Diskussion vermitteln, aber es ist sicher nicht lösungsorientiert im Sinne eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Das war aber auch von vornherein klar.

In der ersten Phase der Pandemie beeindruckte v.a. die Akzeptanz und das Tempo der Durchsetzung von Home-Office und digitaler Kommunikation. Home Office setzte den Pendlercircuit zumindest temporär aus – damit einen bedeutenden Teil des Mobilitätsaufkommens. Die Graphik links zeigt eindrucksvoll den steilen Rückgang im  Frühjahr 2020.  Ein Ereignis gesellschaftlicher (incl. staatlicher) Einhelligkeit. Die späteren Lockdowns im Winterhalbjahr 20/21 bilden sich deutlich schwächer ab – sie pendelten sich     spätestens in der zweiten Hälfte des  Sommers 2021 wieder auf das Niveau der Zeit vor Corona ein. Etwas anders entwickelte sich die Mobilität auf kürzeren Distanzen (<5km) die bis dahin  weniger zurückgegangen war.
Noch deutlicher lässt sich dieselbe Entwicklung  an der nebenstehenden Übersicht zum Verkehr auf Autobahnen sehen: Der markante (disruptive?) Knick im April 20, die leichte Abschwächung zum Jahresende und die Annäherung an die Prä- Covid Ära  bis zum Sommer 2021.
V.a. am Rückgang der Pendlermobilität und den Möglichkeiten der dezentralen Arbeit/Remote Office hatten sich Erwartungen eines mit der Krise beschleunigenden Wandels festgemacht. Entsprechend enttäuschend wird diese Entwicklung wahrgenommen, gesellschaftliche Lernschleifen werden nicht gesehen. Reaktionen auf die Pandemie allein machen keine Transformation, das Modell des örtlich (und zeitlich) gebundenen Arbeitsplatzes mit Pendelverkehr bleibt bestehen. Ein wesentlicher Schlüssel zu einer Verkehrswende liegt in der Arbeitsorganisation.

Corona- Krise und Klimakrise werden zwar oft nebeneinander gestellt, unterscheiden sich aber grundlegend. Corona brach plötzlich in eine globalisierte, funktionsteilig organisierte Welt ein und man wusste wenig davon.  Die Sachzusammenhänge der Klimakrise (+ Folgen der Zerstörung von Lebensräumen, wie das Artensterben) sind seit langem bekannt. Die Klimakrise ist menschengemachte Folge gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlich- industriellen Handelns und sie hat dystopisches Potential. Wenn man es so ausdrücken will: Entfesselte Funktionssysteme. Von einem Krisenmanagement ist zu erwarten, sie einzuschränken. Wie, ist die Aufgabe eines Transformativen Zukunftsdiskurses. Demokratische Gesellschaften  sind nicht zu führen wie Organisationen.

Deutschland 2030+: Corona Stresstest 2 – Ergebnisse.  – Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. 9/ 2021 384 S. –Interview mit Armin Nassehi: Wie verändert Corona unsere Gesellschaft?  12.07.21.  Untere Graphiken aus:  Statistisches Bundesamt: Mobilitätsindikatoren auf Basis von Mobilfunkdaten.  und Bundesanstalt für Strassenwesen: Verkehrsbarometer: Monatliche Entwicklungen des Strassenverkehrs 2020/2021.  Ifo- Institut: Home Office im Verlauf der Corona- Pandemie.   Juli 2021—
Zu den Graphiken: (obere): Veränderung der Mobilität 1/20 bis 9/21 nach Distanz- nach Klick in voller Grösse auf neuer Seite. Quelle: Statistisches Bundesamt; (untere: Monatliche Entwicklungen des Straßenverkehrs auf Bundesfernstraßen und Auswirkungen der Corona-Pandemie. Verkehrsbarometer).



Neue Soziale Dynamik im Common Meeting Ground

Die Acht Szenarien

Noch einmal ein Einstieg mit Postcorona – Szenarien: Kürzlich wurden die aktualisierten Ergebnisse vom  ScMI (zum direkten download auf der Seite der ScMI; vgl. auch die Landkarte der Zukunft) vorgestellt. Ganz aktuell ist der Stand nicht, die Ergebnisse beruhen auf den Daten von 11/2020. Die Ergebnisse von 4/2020 hatte ich im letzten Frühjahr gemeinsam mit einigen anderen Modellen und Sichtweisen (D2030, Zukunftsinstitut) in einem längeren Blogbeitrag vorgestellt. Vor ein paar Wochen dann ein Beitrag zur Diskussion darüber, ob die Perspektive Neuer Horizonte mehr verbreiteten Wunschvorstellungen entspricht – und ob nicht eine schnelle Restauration des Alten Normal wahrscheinlicher ist.
Szenarien sind  »Denkwerkzeuge«, denen keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet sind. Sie sollen uns ermutigen, bisher wenig genutzte Denkpfade zu beschreiten. Und zwar nicht nur unmittelbar nach der Corona-Pandemie, sondern auch in den Jahren danach. Um nicht nur das Denken, sondern auch das anschließende Handeln zu unterstützen, stellen sich weitergehende Fragen: Wie viel Veränderung ist von heute aus gesehen – mit einem Szenario verbunden? (52)

Erwartete Zukunft 2030 – Stand Nov. 20

Dass ein Szenario Neue globale Dynamik, das Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Dynamik miteinander verbindet, als wünschenswert gilt, liegt nahe. Was macht es aber realistisch?  Hintergrund sind Zukunftsaussagen mit hohen Erwartungswerten, etwa eine deutlich flexibler organisiertes Arbeitsleben und die weiter zunehmende Bedeutung der Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit (58,59). Im weiteren, ein Vertrauen darauf, dass sich die deutsche und europäische Wirtschaft in ihrer Struktur erneuern. Wer sich von dieser Perspektive überzeugen lassen will, lese die Seiten 30/31 – zudem ist das Szenario mit guter Laune verbunden: Herausforderungen werden mit Offenheit und Neugier begegnet – Freude an Innovationen dominiert.
Ein derart positives Szenario setzt einen  gewachsenen Konsens voraus:   Die 2020er-Post-Corona-Dekade wird von struktureller Veränderung geprägt sein, die wir zu einem großen Teil selbst beeinflussen können (74).  Andere Szenarien der Veränderung sind weniger attraktiv, wie (6) In Corporate Hands, in dem globale Unternehmen immer mehr Lebensbereiche dominieren. Oder der  (3) Abschied von Gewohntem mit De-Globalisierung und Konsumverzicht. Zukunft ist auch das Ergebnis von gesellschaftlicher Auseinandersetzung.

In den letzten Wochen wurde deutlich, dass gegenüber dem ersten Jahr der Pandemie das Vertrauen in die Politik der Regierung nachgelassen hat. Vor einem Jahr wurde diese Politik als alternativlos akzeptiert, Fundamentalkritik sammelte sich am rechten Rand. Kritik heute hat eine ganz andere Basis. Ein Jahr Pandemie mit intensivster Berichterstattung und Diskussionen dazu brachten einen verbreitet hohen Informationsstand mit sich. Massnahmen werden an Möglichkeiten gemessen, das gilt nicht nur für den Verzug beim Impfen, ebenso an einer mangelnden Nutzung digitaler Möglichkeiten, der  Kombination von Öffnungen mit Tests und Rückverfolgungs – Apps  (z.B. recover), dazu die Reihe von Skandalen persönlicher Bereicherung.
Andere sehen Kritik als bedenklich. So spricht der Content- Strategieberater Mirko Lange** eindringlich von der Gefahr, dass alles, was aktuell das Vertrauen in die Bundesregierung (weiter) untergräbt, es nur noch schlimmer macht**. Und es sind auffallend viele Stimmen, die Kritik einer unbestimmten Menge – den Leuten, manchmal scheint eine Art pöbelnder, zivilisationsferner Masse gemeint, zuweisen. Wirtschaftsblogger Gunnar Sohn sieht hier die Tendenz in Wortwahl und Habitus eine vermeintlich richtige Gesinnung zum Ausdruck zu bringen.
Was ist schlecht daran, wenn die Zustimmung zu einer Regierung in der Gesellschaft nachlässt? Eine ganz normale gesellschaftliche Entwicklung und die Eröffnung eines Diskurses für die  Zeit danach.

Jede (demokratische) Gesellschaft braucht einen Common Meeting Ground gemeinschaftlich als wichtig empfundener Themen, um darüber verhandeln und selbst bestimmen zu können, was in ihr als relevant gilt und kollektiver Problemlösungen bedarf – so schrieb 2008 der 2015 verstorbene Schweizer Soziologe Kurt Imhof. Dafür ist die Zeit. Und es gehört vieles in einen übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs und muss verhandelt werden. So viele sind in ihrer Existenz getroffen, so viel wird in der Krise deutlich.

Gut 20 Jahre liegen die Reformen der Ära Schröder zurück. Mit reichlich  Hintergrundmusik von  Selbstverantwortung, Flexibilisierung  und weniger Staat. Herausgekommen sind u.a. Hartz 4, und immerhin ein eher halbherziger Rahmen für Solo- Selbständigkeit. Manches wurde überdeckt durch den  rapiden digitalen Wandel, und einen langanhaltenden Wirtschaftsboom, der immer wieder Nischen bot – und mittlerweile ganz andere Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation.  Eine neue globale Dynamik braucht auch eine neue soziale Dynamik – sie fällt nicht in den Schoss, sie braucht eine Gesellschaft, die sie anstrebt.

 ScMi (Scenario Management International, Paderborn)  Download Post- Corona Szenarien. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik im Jahre 2030.  Kurt Imhof: Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne. In C. Winter, A. Hepp & F. Krotz, Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft (2008, S. 65–89)  **Mirko Lange auf Facebook:  Gunnar Sohn: Im Einzelfall-Empirismus “die Leute”​ abkanzeln. LinkedIn 24.03.21    



Neuausrichtung der Gesellschaft nach Corona?

Ausblick in eine neue Realität. Bild: kallejipp, photocase.de

Bei einer (nicht- repräsentativen) adhoc- Umfrage der FES* meinten 2/3 der Teilnehmer, dass die Corona-Krise langfristig positive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben wird. Soll man das überraschend finden? – Oder einfach als Hinweis darauf, dass die Veränderungsdynamik im Laufe der Corona- Krise Gestaltungsmöglichkeiten  anstösst und verbreitert? Braucht es Krisen, um über die Richtung neu zu verhandeln?   Buzzwords sind zunächst Neue Realität bzw. Neues Normal, Post- Corona Gesellschaft. Genauso passen programmatische Konzepte wie Neues Wirtschaftswunder oder Zukunft Für Alle in diese Perspektiven.

Andreas Reckwitz, Soziologe, knüpft in einem Gespräch innerhalb der FES- Reihe Rausgeblickt: Perspektiven für eine Welt nach Corona unter dem ambitionierten Titel Die Neuerfindung von Staat und Gesellschaft durch Corona an die abschliessende These seines – vor Corona erschienenen – Buches  Das Ende der Illusionen an: Eine bereits seit längerem erkennbare Abkehr vom Paradigma eines apertistischen (d.h. sich öffnenden) Liberalismus mit den zwei wirkungsmächtigen Ausformungen, der wirtschaftlichen Öffnung der Märkte und der kulturellen Öffnung der Gesellschaft.
Kennzeichnend war damals die generelle Deregulierung, Dynamisierung und Öffnung zuvor fixierter gesellschaftlicher Strukturen (Reckwitz, 262). Beispielhaft für die linksliberalen Strömungen finden sich u.a. in der Identitätspolitik. Effekte beider Strömungen zeigen sich in heterogenen Gesellschaften, die nicht mehr in Blöcken bzw. Klassen, sondern in eher diffusen Milieus, gegliedert sind. Nach einer Epoche, die von der Öffnung von Wirtschafts- und Lebensformen gekennzeichnet war, stellt sich nun die Frage nach den verbindenden gemeinsamen Grundregeln.
Die Corona- Krise wird als Einschnitt erlebt, der Wandel mit dem Ereignis verbunden.

Home Office as usual

Oft machen sich Diskussionen am Home Office fest, einem Begriff den es in der Ursprungssprache Englisch gar nicht gibt. Das Bild des in die 3- Zimmer Wohnung auslagerten Büros – Schreibtisch, Laptop, Monitor – ist wohl eines der Icons der Coronazeit. Ortsunabhängiges, dezentrales Arbeiten bzw. Remote Work sind weiter gefasst und langfristig passender.
In einer vom eco- Verband veröffentlichten Befragung gaben mehr als ein Drittel der Befragten (37,8 %) an, im Home Office und durch den Einsatz digitaler Tools effizienter zu sein als im klassischen Berufsalltag mit Büro und Kollegen. „Die gesammelten Erfahrungen im Neuen Normal zeigen jetzt ganz eindeutig, dass Remote Working sowohl für die Arbeitnehmer- wie die Arbeitgeberseite klare Vorteile mit sich bringt“.
Dahinter steht sicherlich die Erfahrung, eine Ausnahmesituation gemeistert zu haben, und die Bestätigung, dass mittlerweile der Anschluss ans Netz ausschlaggebend ist – die Kommunikationstechnik dazu steht fast überall zur Verfügung.

Home Office im Termindruck

Wer das Leben im Büro als Kontrollhölle erlebt hat, wird jede Befreiung von Anwesenheitszwängen begrüssen.  Aber auch die Kritik an der Verbreitung des Home Office formiert sich (vgl. Knüwer).  Alle Argumente bis zur Ergonomie der Stühle werden hervorgeholt – als ob Konzern- Infrastrukturen auf Klappstühle am Küchentisch verlagert werden. Entscheidend in dieser Kritik ist eher die Aufweichung der Zentralität von Organisationen – und oft auch der Identifikation mit ihnen. Was sich abzeichnet, ist ein erlebter kultureller Wandel in dem die Firmensitze als physische Orte, in denen sich die Hierarchien spiegeln, nicht mehr das Zentrum der Arbeitswelt sind.
Das sagt nichts gegen die Trennung von Arbeit und Privatleben, die Möglichkeiten informeller Kommunikation mit Kollegen. Ob diese Vorteile überall gegeben sind, ist eine andere Frage. Ein Unternehmen muss seine Mitarbeiter überzeugen, um Loyalität zu sichern.  Letztlich werden mit der Verbreitung von Remote Work, bzw. hybriden Arbeitsumgebungen Souverainitätsgewinne erlebt.

Home Office – light & bright

Freelancer sind oft Innovationstreiber oder auch das Plankton der Digitalen Transformation meint Thomas Sattelberger. In dem bemerkenswerten Artikel Ein neues Wirtschaftswunder schreibt er: „Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.Wirtschaftswunder 2.0 wurde als Narrativ aufgegriffen, initiativ mit einer  Wirtschaftswundertour  von Birgit Eschbach, die sechs Wochen lang durch deutsche Provinzen zu Akteuren der lokalen Wirtschaft führte.

War das Modell der Solo- Selbständigen lange eher eine Randerscheinung, konnten gerade in den Digitalisierungsschüben Freelancer/Solopreneure Wissens- und Kompetenzvorsprünge technischer, kultureller, sozialer Art aufbauen und weiterentwickeln. Von der Krise sind sie oft besonders hart getroffen. Zum einen in Branchen, die seit fast sechs Monaten stillgelegt sind, zum anderen haben zahlreiche Unternehmen Aufträge an Dritte komplett storniert.  Johannes Ceh, Social Entrepreneur, hält “die Corona Unterstützung für Solo-Selbstständige für PR Stunt und Farce: Der Öffentlichkeit wurde vermittelt: Solo-Selbstständigen wird umfassend geholfen. Das ist schlichtweg falsch”.

Home Office im Neubezug

Es gibt die Suche nach neu auszuhandelnden, kulturellen Grundwerten für einen gesellschaftlichen Konsens in einem Neuen Normal, nach Aktivierung von Potentialen und sie kommen  aus breiteren politischen Spektren.   Dazu kommt der Bedarf an einer Grundversorgung der Infrastruktur für Bildung, Gesundheitssorge, Mobilität, öffentlicher Sicherheit etc.- eine Struktur von Verlässlichkeit. Dass diese vom Markt geliefert wird, wird kaum erwartet. Spätmoderne Gesellschaften umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen, nicht nur von Migranten.    Vergemeinschaftung verläuft nur noch selten über die traditionellen Blöcke bzw. Milieus. Oft findet sie mehr in den Mustern von #Consozialität – Übereinstimmung einzelner Merkmale und  Interessen – statt. Was an soziokulturellen Milieus (z.B. Sinus) beschrieben wird, ist oft eine Zusammenfassung von aussen, es sind weniger in sich geschlossene Milieus.

vgl. auch die Übersicht zu den Post- Corona Szenarien im Blog

Andreas Reckwitz:  Die Neuerfindung von Staat und Gesellschaft durch Corona. Aufzeichnung FES, 12.08.2020. Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. 304 S.  Thomas Sattelberger: Ein neues Wirtschaftswunder – Gastkommentar im Handelsblatt, 25.05.20 ; Birgit Eschbach: Wirtschaftswundertour 2020;  Gunnar Sohn:  Recht auf Homeoffice – ein Schlupfloch im Bürokäfig der Gehorsamkeit.  Diskussion im Nexttalk 17.08.20. Johannes Ceh: In: Facebook- Gruppe CORONA: Was wir jetzt tun müssen (OurJobToBeDone). Eco Umfrage: Arbeit in Pandemiezeiten wird digitaler – Fast 75 Prozent der Beschäftigten spürt positive Effekte. 25.08.20; Bilder aus dem Home Office: Johannes Mirus (Bonn Digital), Birgit Eschbach (Rheintöchter), Gunnar Sohn (Sohn & Sohn), Klaus Janowitz;  * FES= Friedrich- Ebert- Stiftumg 



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